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Tash Aw: „Wir, die Überlebenden“
Mehr als nur Meursault in Malaysia

Ein zufälliger Mörder erinnert sich an seine Tat und an sein Leben zwischen Armut und Aufstiegssehnsucht im modernen Malaysia. Tash Aws Charakterstudie “Wir, die Überlebenden” ist ein Gesellschaftspanorama von unten.

Von Fabian Wolff | 09.05.2022
Tash Aw: "Wir, die Überlebenden"
Der malaysisch-britische Schriftsteller Tash Aw versucht in seinem neuen Roman “Wir, die Überlebenden” die Widersprüche Malaysias in einem Mordakt widerzuspiegeln. (Foto: © Stacy Liu, Buchcover: Luchterhand Literaturverlag)
Ein Mann, fremd im eigenen Land oder vielleicht zuhause in der Fremde, betrachtet sein eigenes Leben wie einen Film und stolpert in einen Mord in einer Sache, die eigentlich gar nichts mit ihm zu tun hat: durch Tash Aws Roman “Wir, die Überlebenden” weht der heiße Wind von Camus' “Der Fremde”. Doch Erzähler Ah Hock hat andere Kämpfe als Meursault.
„Bei dem Streit ging es wie immer um Geld. Deshalb musste der Mann sterben. Es war nicht wegen einer Frau, wie einige Zeitungen spekulierten. Leute wie wir streiten sich nicht um Liebe, wir streiten um Häuser, Land, manchmal Autos, meistens aber geht es um Geld, Dinge, die eine Rolle für unsere Lebensweise spielen.“
Anders als Camus gibt Tash Aw auch eine Antwort auf die Frage nach dem Warum der Tat: nicht Gier, oder einfach Geld, sondern Kapitalismus. Nicht als leere westliche Analyseformel, sondern als reale gegenwärtige asiatische Erfahrung. Hauptfigur Ah Hock wächst in einem malaysischen Fischerdorf auf, arbeitet in verschiedenen teils knochenharten Jobs am Rande des ökonomischen Wandels in Malaysia. Er glaubt den Verheißungen von Erfolg und Aufstieg – vielleicht, damit er überhaupt an irgendetwas glauben kann.

Tiefe Gräben zwischen Arbeiter und Akademikerin

Ah Hock erinnert sich an sein Leben in einem langen Monolog, der an die Soziologin Su-Min gerichtet ist. Sie ist aus New York ins Land ihrer Eltern zurückgekehrt, um über seinen Fall ihre Dissertation zu schreiben. Sie fühlt sich Malaysia nicht nur als Studienobjekt verbunden, sondern nimmt an Demonstrationen gegen den Ministerpräsidenten nach einem Korruptionsskandal teil, worüber Ah Hock nur den Kopf schütteln kann. Die Gräben zwischen ihnen sind tief und vielgestaltig: nicht einfach Arbeiter und Akademikerin, oder Dableiber und Weggegange. Die Grenzen zwischen ihnen werden gedehnt, bis sie mit einem lautlosen Knall zurückschnappen. Die dritte Person in dieser Konstellation taucht nur in Ah Hocks Erzählungen auf.
„Als ich Keong das erste Mal sah, war er dabei, einen anderen Jungen zusammenzuschlagen. Die geplatzte Lippe des Jungen war angeschwollen, ein Rinnsal von hellrotem Blut lief an seinem T-Shirt hinunter, farblich passend zu zwei tiefen Schrammen am Bein, wie gerade, parallele Striche vom Knie bis zum Knöchel. Halb saß, halb kauerte er auf dem Boden –Keong hatte ihn mit einer Hand am Handgelenk gepackt und hielt in der anderen einen etwa ein Meter langen Stock. Beide schauten auf, als sie mich in der Tür stehen sahen. Pause. Dann schlug Keong zu, wieder und wieder, als wäre ich gar nicht da.“
Keong ist wie Joe Pesci in einem Mafiafilm, heißblütig, ein kleiner Gangster mit großem Hunger. Wann immer sein Freund sein Leben verlässt, ist Ah Hock erleichtert, wenn er wieder auftaucht, fühlt sich Ah Hock doch für ihn verantwortlich. Dabei führen beide einen wortlosen Krieg um Status und Ansehen: Keong sieht in Ah Hock ein Dorfkind, Ah Hock in Keong einen grellen Prahler. Aber er wird nicht von Keong in den Abgrund gezogen, sondern springt ganz alleine.
Die harte Landung sparrt der Roman aus, die Jahre im Gefängnis haben Ah Hock beschädigt, aber sind nur graue Zeitmasse. Er hat keine Schuldgefühle, aber er ist auch kein Soziopath. Trotzdem: irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Dadurch entwickelt sein Monolog einen desorientierenden Sog.

Abbildung der Schichten Malaysias über die Sprache

Ah Hock erzählt karg, fast trocken, mit gelegentlichen lyrischen Exkursen. Der Tonfall ist nüchtern, aber die Sprache selbst überwältigt. Die Einsprengsel aus Malay und Chinesisch und gebrochen gesprochenen Englisch, aber auch die Referenzen an südkoreanische Fernsehserien mit japanischen Untertiteln oder amerikanische Mega-Pastoren bilden ohne Anstrengung die nationalen, kulturellen und migrantischen Ebenen und Schichten Malaysias ab.
Leider geht dieser Effekt in der deutschen Übersetzung etwas verloren, denn hier erklärt ein Glossar die polyglotten Bruchstücke, statt Leser*innen die Arbeit zu überlassen, sie selbst nachzuschlagen, wenn sie unbekannt sind. Und nicht immer trifft die Übersetzung den Tonfall des englischen Originals, wo strukturelle Enttäuschung der Figuren fast syntaktisch erfahrbar wird.

Heiße und kalte Gewalt

Doch auch auf Deutsch wird schnell deutlich, was die poetische und politische Leistung des Buches ist, dem, leise multidirektional, ein Zitat von Primo Levi voransteht. Tash Aw hat keinen Thesenroman geschrieben, aber hinter dem Redeschwall von Ah Hock steckt strukturelle Kritik. Der Schriftsteller Teju Cole hat einmal die Konzepte “heiße Gewalt” und “kalte Gewalt” geprägt, und schon im ersten Kapitel stellt der Roman diese Gewaltformen gegenüber. Die kalte Gewalt, das ist die brutale Verhaftung von Männern aus Nigeria, der Witz eines Polizisten, dass er “Straßenkehrer” sei, und das Lachen von Ah Hock, damit der Polizist ihn wiederum in Ruhe lässt. Die heiße Gewalt, das ist der Mord von Ah Hock an dem lange namen- und persönlichkeitslos bleibenden bangladeschischen Mann.
„Ich werde eine Häftlingsnummer bekommen und auf dem Foto, das sie von mir machen, wie ein x-beliebiger chinesischer Ganove aussehen, ein dim sum-Kellner, der ein paar falsche Entscheidungen traf.||||Es gibt viele wie uns. Das weiß ich aus der Zeit, die ich schon m Knast verbracht habe. Mein Name wird keine Rolle mehr spielen, wie vor der Gerichtsverhandlung und vor dem Mord, und dann werde ich verschwinden, genau wie du. Mohammad Ashadul. Wer weiß, ob das sein richtiger Name war?“
Das Opfer von Camus' Meursault hatte bekanntlich keinen Namen, hieß einfach “der Araber”. Ah Hocks Opfer immerhin ist vor der Namenlosigkeit gerettet, was ihn nicht weniger tot macht. Der Kapitalismus, das ist der Kontext des Mordes. Der tödliche Schlag, das ist Ah Hocks Entscheidung. Wie beide verknüpft sind, das lässt Tash Aw jede Leser*in selbst entscheiden.
Tash Aw: „Wir, die Überlebenden“
Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda
Luchterhand Literaturverlag, München. 416 Seiten. 24 Euro.