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"Mehr konkretes Faktenwissen"

Der Deutsche Lehrerverband hat eine inhaltliche Debatte über das Bildungssystem angeregt. Verbandspräsident Josef Kraus forderte, dass in den Schulen wieder mehr Faktenwissen vermittelt werde. "Schlüsselqualifikationen" lehren zu wollen ohne konkrete Inhalte, das sei "wie Stricken ohne Wolle".

Josef Kraus im Gespräch mit Jürgen Liminski |
    Jürgen Liminski: Was verstehen Bürger unter Bildung und Bildungssystem? Mitgehört hat der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus. Er gehört seit Jahren zu den kritischen Begleitern der Bildungspolitik. Rechtzeitig zur Wahl hat er nun ein Buch herausgebracht mit dem fragenden Titel "Ist die Bildung noch zu retten? – Eine Streitschrift", wie es im Untertitel heißt. Guten Morgen, Herr Kraus.

    Josef Kraus: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Kraus, Sie vermissen offensichtlich die große Bildungsdebatte im Wahlkampf. Was geht schief im deutschen Bildungssystem? Was verstehen Sie überhaupt unter Bildung?

    Kraus: Ob ich das Thema im Wahlkampf vermisse? Die Frage möchte ich mit einem Ja und mit einem Nein beantworten. Im Bundestagswahlkampf hat es eigentlich relativ wenig zu suchen, weil der Bund ja in Sachen Bildung spätestens seit drei Jahren, seit 2006 relativ wenig zu suchen hat. Aber ich wünsche mir natürlich, dass permanent und kontinuierlich eine leidenschaftliche Diskussion, aber auch eine Diskussion mit Augenmaß in Sachen Schule und Hochschule stattfindet. Leider ist das nicht immer der Fall gewesen die letzten Jahre. Die Debatten, die wir gehabt haben, waren populistisch, waren hysterisch überhitzt. Aber grundsätzlich ist es gut, wenn über Bildung gestritten wird, und ich würde mir wünschen, dass wir eine Situation erreichen, wo Parteien wegen Bildung oder wegen des Bildungsthemas auch Wahlen verlieren, oder Wahlen gewinnen können.

    Liminski: Was verstehen Sie überhaupt unter Bildung?

    Kraus: Oh, das ist schwierig. Daran haben sich ja Hunderte Gelehrte versucht. Das ist ja übrigens ein Begriff, den es in anderen Sprachen so nicht gibt. Dort gibt es "Qualification" oder "Training", aber eine Bildung gibt es in anderen Sprachen nicht. Das ist ein typisch deutscher Sachverhalt. Aber ich bin froh darum, dass wir die Semantik dieses Wortes haben. Was ist Bildung? – Bildung ist, junge Leute, mit den Worten von Roman Herzog, wetterfest zu machen für ihr Leben, für die Gesellschaft, für die Zukunft, und das hat eine Innenseite und eine Außenseite. Die Außenseite, das ist Qualifikation, das ist das Verwertbare, dass sie ihren Mann und ihre Frau stehen können in den Herausforderungen von Ausbildung, Beruf und Gesellschaft. Aber die innere Seite heißt natürlich auch, über einen Wertekosmos verfügen, ihn vermittelt bekommen haben, kulturelle Identität zu haben, leben zu können und qua Bildung und Erziehung auch in der individuellen Identität gefördert worden zu sein. Also es ist was recht Ganzheitliches.

    Liminski: Vermitteln wir in diesem Sinn zu viel Ideologie und zu wenig Faktenwissen?

    Kraus: Ja nun, es ist unsere ganze Bildungsdebatte ein bisschen ideologisch geprägt, sozialpolitisch geprägt, sozialpopulistisch geprägt, von gewissen pädagogischen Ideologien geprägt, Einheitsschule oder, wenn ich mir Lernmethoden anschaue, sehr geprägt von Schlagworten wie "Kompetenzvermittlung", "Schlüsselqualifikationen", kein Faktenwissen mehr, das sei überholt und so weiter. Da bin ich tatsächlich der Meinung, dass wir heute in unseren Schulen unseren jungen Leuten zu wenig Faktenwissen vermitteln. Die Ideologie der Kompetenzenpädagogik und der Pädagogik der Schlüsselqualifikationen ist schief. Ich kann nicht im luftleeren Raum so etwas vermitteln. Kompetenzen vermitteln zu wollen ohne konkrete Inhalte, das ist wie Stricken ohne Wolle, das ist wie Kochen ohne Zutaten. Unsere jungen Leute brauchen mehr konkretes Faktenwissen, dann erst können sie kreativ sein, dann erst sind sie wettbewerbsfähig, dann erst sind sie mündig gerade auch im politischen Bereich. Wer nichts weiß, muss jedem alles glauben. Da muss wieder mehr Futter ran.

    Liminski: Herr Kraus, ich höre aus Ihrem engagierten Reden, dass Sie für eine Reform des Bildungssystems eintreten würden. Muss denn nicht jede Reform an unserem Föderalismus oder sagen wir mal an unserem begrenzten Stammesdenken scheitern?

    Kraus: Stammesdenken, das ist ein beliebtes Etikett, aber wir sind nun einfach mal föderal verfasst und ich bin schon ein unbedingter Verfechter eines Föderalismus, allerdings eines Föderalismus, der sich nicht zwischen den 16 Bundesländern einigt auf den Kompromiss des Kompromisses des Kompromisses, also auf unterstes Niveau, sondern eines Föderalismus, der ein kompetitiver Föderalismus ist, also ein Föderalismus, wo es um Wettbewerb geht. Ich habe über Jahrzehnte hin in der Kultusministerkonferenz immer wieder erlebt, dass man sich unter den 16 oder früher unter den elf am Langsamsten orientiert hat. Das ist natürlich falsch. Es muss deutlich gemacht werden, dass es Länder gibt, die packen etwas günstiger an und erfolgreicher an und andere packen das weniger an. Wenn der Bund zum Beispiel jetzt das Sagen hätte, dann befürchte ich, dass wir uns wieder auf dem untersten oder bestenfalls auf einem mittleren Niveau von Anspruch in Sachen schulischer Bildung treffen. Also kompetitiver Föderalismus und die Schwächeren sollen sich gefälligst an denen orientieren, die es ein bisschen erfolgreicher machen.

    Liminski: Deutschland hat sich in der Krise überschuldet. Demnächst wird wohl wieder gespart werden müssen. Kann es eine Bildungsreform geben, ohne viel Geld in die Hand zu nehmen?

    Kraus: Hier sparen zu wollen, wäre natürlich ein Sparen am falschen Platz. Im Übrigen darf man schon sagen, im internationalen Vergleich - bei aller Problematik natürlich der internationalen Vergleiche, ich kenne diese Problematik -, wir geben nicht übermäßig viel für Bildung aus. Es gibt ja da einen Vergleichsindikator, Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Da liegen wir mit fünf, fünfeinhalb Prozent bei Gott nicht in der Weltspitze, da gibt es Länder, die geben sieben Prozent, acht Prozent aus. Da dürfte man sich schon ein bisschen nach der Decke strecken, um zum Beispiel mehr Individualisierung durch Förderstunden in den Schulen einrichten zu können. Im Übrigen: Es gibt natürlich auch Reformen, die kein Geld kosten. Ich würde mir wünschen, dass wir weg wieder von diesem allgemeinen und seichten Kompetenzen- und Schlüsselqualifikationen-Gerede zu inhaltlichen Debatten kommen und uns ernsthaft überlegen, was müssen unsere jungen Leute konkret wissen in den Naturwissenschaften, in Deutsch, in Literaturgeschichte, in Musikgeschichte, in Geschichte überhaupt, in Politik, im Bereich der ästhetischen Bildung. Die inhaltliche Debatte kostet nichts und sie wäre unglaublich wertvoll.

    Liminski: Aber dafür brauchen wir auch die richtigen Lehrer und Herr Kraus, Sie sind ja selbst Lehrer, Direktor eines Gymnasiums, und schreiben nun in Ihrem Buch, der Lehrer sei ein glücklicher Sisyphos. Haben wir die richtigen Lehrer, oder muss die Reform hier bei der Aus- und Fortbildung der Lehrer ansetzen?

    Kraus: Natürlich sind die Ausbildung und die Fortbildung eines jeden Berufsstandes immer noch verbesserungsfähig. Das gilt für Ärzte und Rechtsanwälte gleichermaßen wie natürlich auch für den Lehrerberuf. Aber das ist im Moment gar nicht unser vorrangiges Problem. Unser Hauptproblem ist, dass wir gar nicht genügend Leute her bekommen, weil sich eben schon herumgesprochen hat, dass der Lehrerberuf ein Knochenjob ist. Wir haben einen eklatanten Lehrermangel. Das hat damit zu tun, dass der Lehrerberuf ideell nicht mehr attraktiv ist - man kennt ja die schönen Schlagworte und Stammtischparolen über den Lehrerberuf – und zum Teil materiell nicht attraktiv ist, wenn junge Lehrer als Referendare mit 900 oder 950 Euro pro Monat sich durchschlagen müssen. Aber es ist richtig: Ich möchte den Lehrer als glücklichen Sisyphos sehen. Da nehme ich eine gedankliche Anleibe an Albert Camus, der ja mit seinem Essay "Der Mythos des Sisyphos" was hoch Interessantes geschrieben hat. Ich übertrage es mal auf den Lehrer. Auch in diesem Knochenjob kann man ein glücklicher Mensch sein, wenn man die Konfrontation zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, zwischen Absicht und Ergebnis aushält. Insofern könnte ich auch für den Lehrer den Satz von Camus voll unterschreiben. Der Essay endet nämlich, "wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen". Im Übrigen ist ja der Sisyphos bei Camus auch einer, der schon sehr listig die Götter überlistet. Ich möchte das jetzt nicht so sehr ausdehnen, aber Bildungspolitiker und schlaue Erziehungswissenschaftler vor Ort in der Praxis der Schule zu überlisten, das macht schon auch Spaß.

    Liminski: Also der listige Lehrer wird gefordert. – Die Bildung ist noch zu retten. Das war der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kraus.