Dienstag, 16. April 2024

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Mehr Menschen ohne feste Bleibe
Viele Wohnungslose sind weitgehend unsichtbar

678.000 Menschen waren nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe im vergangenen Jahr in Deutschland ohne Wohnung, knapp fünf Prozent mehr als im Jahr zuvor. Der Großteil lebt nicht auf der Straße, sondern weitgehend unsichtbar in Heimen, bei Freunden oder in Notunterkünften.

Von Anja Nehls | 11.11.2019
Bedürftige Menschen in der Wohnungslosen-Tagesstätte "Warmer Otto" der Berliner Stadtmission, im Vordergrund ist eine Tasse zu sehen.
Viele Wohnungslose leben bei Bekannten oder in Notunterkünften, nur ein geringer Teil lebt auf der Straße. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
Ein Zimmer in einem schmucklosen 50er-Jahre-Bau im Berliner Norden ist Sylvias derzeitiges Zuhause. Als Heim oder gar als Obdachlosenasyl will sie es aber nicht bezeichnen: "Die haben einen ganz schönen Namen dafür: Beherbergung. Das klingt gleich ganz freundlicher und anders als Wohnheim, unter Wohnheim impliziert man immer irgendetwas Negatives."
Seit vier Jahren ist die 57-Jährige wohnungslos. Jetzt lebt sie immerhin nicht mehr auf der Straße. Nach einem selbst verschuldeten Brand hatte sie ihre Wohnung verloren, für eine neue konnte sie die Kaution nicht aufbringen.
"Meistens habe ich nachts in der S-Bahn gesessen und bin die Ringbahn gefahren und bin am nächsten Morgen arbeiten gegangen. Ab und an habe ich mal einen Schlafplatz in der Notunterkunft gehabt."
Viele Wohnungslose tauchen bei Freunden und Bekannten unter
Jetzt hat sie immerhin das Zimmer im Wohnheim, eine eigene Wohnung ersetzt es aber nicht: "Das hier oben ist eine Siebener-WG, mit sieben Personen. Das war so eingerichtet, bis auf ein paar kleine Accessoires. Ich mache auch nicht zu viel. In anderen Zimmern, da hängt wesentlich mehr, da liegt wesentlich mehr. Aber ich möchte mich nicht zu wohlfühlen, denn ich möchte ausziehen."
Das ist ein Problem. Sylvia ist eine von knapp 680.000 Menschen in Deutschland ohne eigene Wohnung, das sind knapp fünf Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Gut 40.000 Menschen leben als Obdachlose dauerhaft auf der Straße, die anderen sind wie Sylvia weitgehend unsichtbar, wohnen in Heimen, bei Freunden und Bekannten oder in Notunterkünften, so die neuesten Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe BAG.
Sozialwohnungen der Schlüssel zur Lösung?
Gebraucht werde mehr preiswerter Wohnraum, so Werena Rosenke von der BAG: "Wir haben seit Anfang der 90er-Jahre einen Rückgang bei den Sozialwohnungen um 60 Prozent. Die Sozialwohnungen, die jetzt in 2017/18 gebaut worden sind - das sind 27.000 -, gleichen nicht mal die Zahl der Wohnungen aus, die aus der Sozialbindung gelaufen sind. Und darüber hinaus brauchen wir ja nicht nur Sozialwohnungen, sondern auch anderen bezahlbaren Wohnraum."
Die Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau in 2020 und 2021 sind mit jeweils einer Milliarde Euro sogar niedriger angesetzt als in den Vorjahren. Benötigt würden 80.000 bis 100.000 neue Sozialwohnungen und weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen.
"Und insbesondere bei den bezahlbaren Kleinwohnungen. Nach unserer Schätzung ist es ja so, und auch Forschung hat das gezeigt: Die größte Zahl, 70 Prozent der wohnungslosen Menschen, sind Ein-Personen-Haushalte, also Singles, Alleinstehende. Und da haben wir das größte Wohnungsdefizit bei den bezahlbaren Wohnungen."
"Privat ist nur mein Zimmer"
Zwei Drittel aller Wohnungslosen sind anerkannte Geflüchtete, die in der Regel erstmal weiter in ihren Unterkünften leben. 17 Prozent der Wohnungslosen stammen aus EU-Ländern und landen hier besonders häufig auf der Straße, weil sie keine Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Aber auch Sylvia, deren Miete das Jobcenter bezahlen würde, findet auf dem umkämpften Berliner Markt keine eigene Wohnung. Für das warme Zimmer mit der Möglichkeit zu kochen und zu duschen ist sie dankbar, aber:
"Trotzdem ist es nicht privat, privat ist nur mein Zimmer. Aber ich will da noch mehr. Sei es, dass man als Oma die Enkel mal übers Wochenende zum Schlafen hat. Wenn man eine eigene Wohnung hat, ist vieles anders in der Hinsicht, mehr zu machen, als Oma oder auch als Mama."