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Mehr sprechen, mehr denken

Viele Sprachen sprechen zu können, das bedeutet nicht nur, auf viele Arten kommunizieren zu können, sondern auch, auf viele unterschiedliche Arten zu denken. Auf dem Weltkongress für Angewandte Linguistik haben Forscher deshalb eine größere Sprachenvielfalt im wissenschaftlichen Diskurs gefordert. Englisch als standardisierte Forschungssprache führe zur Verarmung des Denkens.

Von Kersten Knipp |
    Es ist schon absurd: Ausgerechnet die Wissenschaft, die doch von der Vielfalt der Ideen, Inspirationen und Kenntnisse lebte - ausgerechnet sie geht seit Jahren einen sprachlich immer engeren Pfad. Sie konzentriert sich immer stärker auf das Englische. Das mag die Kommunikation erleichtern, schränkt aber die Erkenntnisfähigkeit erheblich ein, denn Erkenntnis setzt Sprache ja voraus. Darum, so der Berliner Germanist Konrad Ehlich, führt die Konzentration auf eine einzige Wissenschaftssprache auf direktem Weg zu verminderter Erkenntnisfähigkeit.

    "Wissenschaft lebt von der Vielfalt der Ansätze, von der Innovation der Fragestellungen. Und diese Innovation kommt aus einem reichen Schatz von Kenntnissen. Und wir haben in den europäischen Wissenschaften reiche Traditionen der Entwicklung von wissenschaftlichem Wissen mit jeweils einer spezifischen Sprachlichkeit. Und gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften setzt sich diese Sprachlichkeit um in die Art, wie Fragestellungen entwickelt werden. Es ist also nicht nur die Frage eines beliebigen lexikalischen Mantels sozusagen, um die sprachfrei gewonnenen Erkenntnisse herum, sondern: Sprache und Erkenntnisgewinnung gehen Hand in Hand. Und insofern würde es bedeuten, wenn wir jetzt nur noch eine Wissenschaftssprache haben, dass die Wissensgewinnung restringiert, eingeschränkt wird auf die spezifischen Möglichkeiten, aber auch die spezifischen Einengungen und so weiter, die sich aus dieser einen Sprache heraus ergeben."

    Eine solche Argumentation liegt nahe auf einem Kongress, der sich mit dem Phänomen der Vielsprachigkeit beschäftigt - und diese zudem auch fördern will. Denn: Wer mehrere Sprachen spricht, der, so Susanne Slivensky vom Europäischen Fremdsprachenzentrum in Graz, beherbergt in seinem Kopf nicht nur zusätzliche Worte, sondern auch ein erweitertes Weltbild.

    "Mehrsprachigkeit bedeutet natürlich ein Mehr an Toleranz, ein Mehr an Dialogfähigkeit und auch ein Mehr an Interesse gegenüber Migrantinnen und Migranten beispielsweise. Deshalb ist - unter anderem - ein Programm des Europarats, Sprachen für den sozialen Zusammenhalt. Hier sieht man ganz klar den Zusammenhang zwischen der politischen Bildung der Bürgerinnen und Bürger und der Sprach- und Kommunikationsfähigkeit."

    Aber wie bringt man die Menschen zum Sprachenlernen? Ihren Nutzen zu preisen ist das eine - sie aber tatsächlich auch zu sprechen etwas anderes. Darum, so der Duisburger Anglist Bernd Rüschoff, muss man Appetit auf Sprachen machen - und zwar weit im Vorfeld des eigentlichen Lernens.

    " Ein solcher Fokus ist, dass heute nicht mehr ausschließlich rein formal Grammatik und Wortschatz gelernt wird, sondern dass in die Lerncurricula für Fremdsprachen auch das Lernen-Lernen, das Bewusstmachen für Sprachen, das Vorbereiten auf das Lernen weiterer Sprachen entsprechend integriert werden. Das sind Öffnungen der Fremdsprachendidaktik hin zu flexibleren Lernformen, zu offenen Arrangements, wo man zum Beispiel auch solche Initiativen halt eben gut nutzen kann, um die Bürgerinnen und Bürger in Europa aber auch darüber hinaus entsprechend vorzubereiten - auch von der Lernkompetenz her, sich auch dann, wenn sie Neugier gefunden und entwickelt haben, für eine Sprache dann so eine Sprache auch entsprechend leichter und schneller lernen zu können. "

    In gewisser Hinsicht ist die Vorbereitung auf das Sprachenlernen eine Art Spiel - ein Spiel, das hinführt zur Wirklichkeit, zum Ernst des Lebens. Denn Sprachen, meint Susanne Slivensky, sind eine soziale Realität, der wir uns immer stärker stellen müssen. Sprachenvielfalt spielt im zusammenwachsenden Europa wie in der zusammenwachsenden Welt eine immer größere Rolle. Und darum können wir uns auch gewisse mehr oder weniger unbewiesene Annahmen immer weniger leisten.

    "Ich würde gerne in diesem Zusammenhang noch einen Mythos ansprechen - dieser Mythos von einer Sprachbegabung oder keine Begabung haben für Sprachen. Und jeder hat eine gewissen Einblick -nicht zuletzt von der eigenen Sprach-Lern-Erfahrung. In einem Klassenzimmer wird die Motivation nicht nur immer gestärkt, um es vorsichtig auszudrücken. Das heißt, wir müssen unsere Lehrkräfte sehr viel mehr ausbilden in eine Richtung, wo sie wirklich mit einer Vielzahl an interessanten Materialien Motivation wecken und nicht die Frage ansprechen, hast du konkret ein Talent zum Sprachenlernen oder nicht."

    Gefordert sind in dieser Hinsicht die Wissenschaftler - und zwar ganz wesentlich auch im Hinblick auf ihre eigenen Kenntnisse. Der zunehmenden Konzentration auf das Englische können die Forscher auch dadurch entgegenwirken, dass sie bemerken, welche Erkenntnisse ihnen entgehen, wenn sie auf weitere Fremdsprachenkenntnisse verzichten.

    Ein Wissenschaftler, der etwas auf sich hält, aber auch ein Student, der sich der fortschreitenden Banalisierung des Studiums entziehen will - der, meint Konrad Ehlich, wird am ehesten bemerken, welcher Erkenntnisgewinn ihm mit zusätzlichen Fremdsprachenkenntnissen zufällt.

    "In dem Augenblick, wenn der Lehrbetrieb in immer mehr Ländern auf das Englische umgestellt wird, heißt das fast automatisch, dass die entsprechenden Ressourcen verschwinden. Die Bibliotheken kaufen keine Bücher auf Italienisch, auf Französisch, auf Deutsch und so weiter mehr - die Förderung der Mehrsprachigkeit ist auch eine Frage der Angebote, die bildungsökonomisch zur Verfügung gestellt werden, damit junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen, es lohnt sich, wenn ich weitere Perspektiven gewinnen, wenn ich mir weitere Sprachen aneigne."

    Das muss ja nicht in aller Ausführlichkeit geschehen. Wissenschaftler können sich auch sprachlich auf ihr Fachgebiet konzentrieren. Eine fremde Sprache in all ihren Facetten zu beherrschen, ist gar nicht nötig. Und das, so der Anglist Bernd Rüschoff, gilt nicht nur für Wissenschaftler.

    "Dann gibt es auch Konzepte beispielsweise, darüber nachzudenken, in welchen Arbeits- und Lebensbereichen man bestimmte Sprachen wie verwendet. Das heißt also diese Idee, vielleicht in einer Sprache auch partielle Kompetenzen also Lesekompetenz, wenn in der Sprache mit geschriebenen Materialien zu arbeiten ist, beruflich zum Beispiel, oder eine kommunikative Kompetenz, wenn man halt sprechen und reden muss mit Menschen in bestimmten Kontexten auch, mittlerweile greift. Das heißt, es gibt auch nicht mehr diesen Anspruch, dass man jede Sprache, die man lernt, in allen Teilbereichen komplett lernen muss. Aber die Grundidee ist schon, dass man durchaus zwei Fremdsprachen zusätzlich zu seiner Muttersprache auch in allen Kompetenzbereichen lernen sollte."

    Wer Sprachen lernt, das war in Essen oft zu hören, lernt viel mehr als nur Vokabeln. Mit den Worten tritt auch eine neue Welt in den Kopf, ergänzt die schon bestehenden Welten und erweitert so das Verständnis uns bis dahin fremder Gesellschaft. Die Europäer stecken nicht nur in Brüssel immer öfter die Köpfe zusammen. Die Fremdsprachen sorgen dafür, dass wir uns auch jenseits der Worte immer besser verstehen.