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Meine nächste Braut

Auch sie ist bei uns keine "berühmte Unbekannte" mehr, die 1902 in St.Paul, Minnesota geborene und mit zweiundneunzig in San Francisco gestorbene amerikanische Autorin Kay Boyle. Und dass sie es nicht ist, danken deutschsprachige Leser dem wagemutigen Verlag Neue Kritik, der seit 1991 nach einem von Band zu Band verlockenden und bislang durchgehaltenen Editionsplan wichtige Partien ihres Werks in der Übersetzung von Hannah Harders vorlegt.

Kyra Stromberg | 13.10.2000
    Kay Boyle gehört zu den erstaunlichen amerikanischen Schriftstellerinnen dieser Generation und ließe sich in der Vielfalt und Intensität ihres Schreibens zwischen die um genau ein Jahrzehnt älteren Kolleginnen Janet Flanner und Djuna Barnes plazieren. Was sie jedoch von ihren renommierten Zeitgenossinnen unterscheidet, ist nicht die Qualität ihrer Arbeit, sondem vor allem ihr Lebenslauf. Im Unterschied zu diesen entschiedenen Singles war sie dreimal verheiratet - von anderen passionierten Beziehungen abgesehen - und hatte schließlich eine höchst mobile Großfamilie, die ihre Kreativität aber offensichtlich nicht beeinträchtigte.Über ein Dutzend Romane hat sie veröffentlicht, mehrere Bände mit eigenwilligen Kurzgeschichten gefüllt, kluge Essays geschrieben und während verschiedener Europa-Aufenthalte - unter anderem für den "New Yorker", diese Talentschmiede - über ihre Erfahrungen in der ihr eigentümlichen eindringlichen Weise mehr erzählt als berichtet. Anders als Janet Flanner, die - neben ihren "Briefen aus Paris" für den New Yorker - die europäische Politszene scharfsinnig wahrnahm, und ganz gewiß mehr als die literarische Einzelgängerin Djuna Bames hat sie sich aktiv politisch engagiert. Ihre Teilnahme an der Bürgerrechtsbewegung, am Protest gegen den Vietnam-Krieg, ihr Eintreten für die rebellierenden Studenten 1968 - da war sie immerhin schon im "Rentenalter - trugen ihr, wie ihrem letzten Ehemann, dem Österreicher Joseph von Frankenstein, während der muffigen Mc Carthy Ära Ächtung und Berufsverbot ein. Sie verlor ihre literaturwissenschaftliche Professur - auch eine empfindliche materielle Einbuße.

    Sie selbst zählt sich auch nicht zur "Horde" der "expatrites", die der günstige Dollarkus nach Europa, vor allem nach Paris, schwemmte. Sie hatte schon als Studentin an der Universität von Cincinati einen französischen Kommilitonen geheiratet und kam über den Umweg dieser Ehe und die bedruckenden Erfahrungen einer bourgeoisen nordfranzösischen Familie "verspätet", wie sie einmal in einem Interview notiert, nämlich erst Ende der zwanziger Jahre, nach Paris, das sie kritisch sieht, wie den fragwürdigen "Goldglanz" der zwanziger Jahre überhaupt. Zwar kennt sie die Großen der Epoche - Gertrude Stein und Ezra Pound, James Joyce und William Carlos Williams, Brancusl und Marcel Duchamp, die Fitzgeralds und den jungen Hemingway und schätzt sie unterschiedlich, aber sie sieht auch die irritierende Abseite dieser Spaßgesellschaft. Ihr Paris sind nicht so sehr die Night-Clubs und Cafés, weder die rive gauche der Bohème und der Intelligentsia, noch die rive droite der eher konservativen Reichen, es sind die heruntergekommenen Randquartiere, wo die Misere des ersten Nachkriegs sich festgefressen hat. In einer solchen verwahrlosten Villa in Neuilly, einer Art Pension für Gestrandete, spielen sich die Ereignisse des dritten Bandes ihrer europäischen Trilogie "Meine nächste Braut" ab, den der Verlag jetzt vorlegt.

    Eine junge Amerikanerin, die auszog, das Fürchten in Europa zu lernen, nistet sich, knapp bei Kasse, dort ein - trotz der Warnungen ihrer Mitmieterinnen, zwei ältlichen aus Rußland geflohenen Schwestern, die hungernd und frierend, aber ihre gute Erziehung stolz behauptend, sehr à la Tschechow die Zeit verrinnen lassen. Diese führen sie in den Kreis eines Guru ein, der ausgeflippte junge Leute um sich versammelt und ihnen ein alternatives - und natürlich besseres - Leben verspricht. Und dieser Kreis hat sein reales Modell in Raymond Duncan, dem Bruder der Tänzerin, in dessen "Kolonie "Kay Boyle tatsächlich geriet. Es hätte aber auch der kaukasische Prophet Berdjaieff sein können, der zur gleichen Zeit in der Pariser Banlieue die schwertuberkulöse Katherine Mansfield "alternativ" - durch Arbeit im eiskalten Kuhstall - zu heilen versuchte.

    Solche Figuren und ihre lebensreformerischen Ambitionen sind seit dem Tessiner Monte Verità um 1900 bis heute charakteristisch für die große Ratlosigkeit in Umbruchzeiten. Der "Meister", der im Roman Sorrel heißt, übt zunächst seinen Zauber auch auf Victoria aus. Sie reiht sich den jungen Leuten ein, die für ihn Sandalen aus hartem Leder und selbstgefärbte Gewänder und Tücher herstellen. Zusammen mit den Ankündigungen seiner Vorträge werden sie in einem kleinen Laden feilgeboten, in dem Victoria reiche, hellsbedürftige Amerikanerinnen zum Kauf animieren soll. Sie schuftet wie die anderen, aber behält ihren klaren Kopf. Allmählich durchschaut sie den Betrug und Selbstbetrug des "Heilers" und die bösen Machenschaften seiner Lebensgefährtin, sieht die ausweglose Verzweiflung der frondienstleistenden jungen Leute. Ein von ihr erreichter besonders guter Verkauf wird ohne Scheu in ein teures Auto für des Meisters höhere Zwecke umgesetzt. Parallel zu diesen Erfahrungen öffnet sich ihr durch Antony eine Welt nächtlicher Orgien mit Alkohol, Drogen und der Andeutung von Promiskuität, in der sie, die "Puritanerin", ihre sexuelle Initiation erfährt. Antony, ein hochbegabter, zwischen Überfluss und Misere taumelnder junger Künstler - eine Figur, die wir ähnlich schon aus dem Roman "Das Jahr davor" kennen - verliebt sich, trotz seiner unlösbaren Bindung an seine Frau Fontana, in sie, bleibt trotz aller Exzesse liebenswert und behält sogar eine Art Unschuld. Die beiden jungen Frauen, Ehefrau und Freundin, die sich inzwischen befreundet haben, werden von seinem plötzlichen Tod überrascht. Gemeinsam lesen sie eines heiteren Morgens die Schlagzeile in der Zeitung, die seinen Selbstmord verkündet. "Nicht weinen, Antony hat gesagt, du weinst nie, sagte Fontana, eine kleine klare Stimme, die diese Worte auflas, zusammenfügte und auf ewig wiederholte." Das ist der Schluss des Romans. Er läßt alles offen.

    Der Verlag kündigt diese frühe Trilogie als autobiographische Romane an - mit gewissem Recht. Die Autorin Kay Boyle behauptet kühn, alles sei frei erfunden, und auch sie hat recht. Sie hält sich ebenso fern von gängigen Zeitklischees wie vom vertraulichen Geplauder aus dem Nähkästchen. Sie charakterisiert ihre Figuren nuanciert und nicht ohne ironische Distanz. Entstanden ist ein zeitgeschichtlich präzise und spannend erzählter Entwicklungsroman einer jungen Frau aus den Anfängen des just vergangenen Jahrhunderts. Sehr zu hoffen, das der Verlag seinen Editionsplan einhält und womöglich noch erweitert.