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Mekka
Mathematik weist Pilgern den Weg

Zwei bis vier Millionen Menschen machen sich jedes Jahr zum Haddsch auf, zur Pilgerfahrt nach Mekka. In der Vergangenheit kam es mehrfach zu Massenpaniken. Abhilfe könnten mathematische Systeme schaffen, die den Fluss der Pilger regeln. Deutsche Forscher haben dafür eine Lösung entwickelt.

Von Michael Stang | 20.05.2019
Muslimische Pilger am 3. Tag der Hadsch bei der sogenannten "Teufelssteinigung" in Mina bei Mekka am 6. Oktober 2014.
Muslimische Pilger bei der symbolischen Steinigung des Teufels in Mina bei Mekka (picture alliance / dpa / EPA/STR )
Bei einer Massenpanik am 12. Januar 2006 beim Haddsch in Minā bei Mekka starben mehr als 360 Pilger. In der Folge beauftragte die Regierung Saudi Arabiens ein Forscherteam aus Deutschland damit, eine optimierte Lösung zu finden, wie die Pilgermassen während des nächstens Haddschs gelenkt werden können. Keine einfache Aufgabe, erinnert sich Sven Müller, Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
"Man musste sich dann überlegen, wie wir die Fußgängermassen einmal messen, um zu schauen, ob kritische Situationen entstehen. Die zweite Frage, mit der wir uns insbesondere damals beschäftigt haben, ist die Erstellung eines Fahrplans: bestimmte Gruppen von Pilgern sollen bestimmte Routen wählen und das nur zu bestimmten Zeiten."
Herausforderung: Die Steinigung des Teufels
Um Abhilfe zu schaffen, wurde unter anderem eine Brücke gebaut, um tausenden Pilgern auf mehreren Ebenen gleichzeitig die symbolische Steinigung des Teufels zu ermöglichen.
"Das ist ein extrem schwieriges Problem aufgrund des Ablaufs des Rituals, dadurch dass so viele Menschen eng auf einem Punkt zusammenkommen."
Sven Müller erstellte zusammen mit Kollegen aus Hamburg einen ersten mathematischen Ansatz. In diesen floss auch die Anzahl der registrierten Pilger ein. Kompliziert wird das Ganze, weil zusätzlich hunderttausende nicht-registrierte Pilger dazu stoßen - auch dies galt es ab 2007 einzurechnen.
System muss robust gegenüber Fehlern sein
"Was wir da neu eingeführt haben ist, dass wir stringent mit mathematischer Programmierung - also Optimierung - rangegangen sind, dass wir klar gesagt haben: wir versuchen mal, das System zu beschreiben dahingehend, was sind denn zulässige Lösungen, was sind unzulässige Lösungen? Da kann man sich jetzt in dem Zusammenhang vorstellen, dass eine unzulässige Erlösung eine wäre, wo an irgendeiner Stelle im System, also eine Straße, eine Rampe oder Ähnliches, eine vorgeschriebene Dichte überschritten wird."
Für den Wirtschaftswissenschaftler galt es, unter allen zulässigen Parametern einen Plan zu finden, der möglichst nah an den gewünschten Steinigungszeiten liegt. Zugleich musste das System robust gegenüber Fehlern sein. Manche Pilger nehmen Abkürzungen, denn Fußgänger scheuen Umwege. Sven Müller und seine Kollegen erhoben Daten von Videokameras, zudem statten sie Pilger mit GPS-Sendern aus, um deren Laufgeschwindigkeiten zu messen. Das System funktionierte, bis 2014 gab es keine Massenunfälle.
Massenpanik im Jahr 2015
2015 starb Saudi Arabiens König Abdullah, sein Halbbruder übernahm. In der Folge wurden Ministerien neu besetzt. Die Forscher aus Deutschland waren in der Haddsch Planung 2015 nicht involviert. Genau in diesem Jahr kam es zu einer Massenpanik. Am 24. September starben nach offiziellen Angaben 769 Pilger. Andere Berichte gehen von mehreren tausend Toten aus. Auf zwei Gründe für die Katastrophe gehen die Forscher in ihrer Studie ein.
"Einmal, dass zu dem Zeitpunkt Pilger unterwegs waren, die da eigentlich gar nicht hätten unterwegs sein dürfen laut Plan, also wenn es einen Plan gegeben hat. Zweiter Punkt ist, dass es an einer Stelle zu einem kreuzenden Fluss gekommen ist, wo das nicht hätte nicht passieren sollen - laut Planung. Also, nach unserem Einbahnstraßensystem, was wir immer verwandt haben also bis 2014 und ab 2016 ist die Stelle als Einbahnstraße geplant, das heißt die Flüsse hätten sich da nie treffen dürfen."
Kurze Vorlauffrist erschwert die Planung
Ab 2016 waren die deutschen Forscher wieder dabei. Mit jeder Baumaßnahme wird das System komplizierter. Dafür haben sie eine praktikable Lösung erarbeitet – ein mathematischer Ansatz, der zeitnah einsetzbar ist.
"Wir haben über zwei Millionen Entscheidungsvariablen, die festgelegt werden müssen. Jetzt könnte man natürlich sagen: Na gut, man lässt einfach den Computer lange laufen, wir haben ja ein Jahr Vorlaufzeit, wenn man so will, aber ganz so ist es nicht. Die Planungsdaten, die wir bekommen, mit denen wir unseren Algorithmus füttern, die kommen relativ kurzfristig vor Haddsch-Beginn, also wir reden da von Wochen, teilweise von Änderungen auf Tagesbasis, also braucht man ein System was schnell, oder einen Algorithmus, der schnell eine relativ gute Lösung liefert. Und da haben wir uns eben ein heuristisches Verfahren überlegt, das heißt wir haben keine nachgewiesen optimale Lösung, aber wir haben gezeigt, dass unsere Heuristik relativ nah, also so unter einem Prozent, abweicht von einer optimalen Lösung."