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Melancholische Reise durch Amerika

Literaturnobelpreisträger John Steinbeck reiste 1960 quer durch die USA und schrieb seine Erlebnisse in "Die Reise mit Charley" nieder. Der niederländische Autor Geert Mak hat sich auf dessen Spuren begeben und entdeckt: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten existiert nur noch in den Köpfen der Menschen.

Von Peter Carstens |
    Im September 1960 stieg der amerikanische Schriftsteller und Reporter John Steinbeck in Sag Harbour, unweit von New York, in sein Auto, um zu einer USA-Reise aufzubrechen. Elf Wochen lang tourten Steinbeck und sein Pudel Charley durch das Land, besuchten 33 Bundesstaaten, erkundete Kleinstädte und Landschaften, der Schriftsteller sprach mit Arbeitern, Farmern, Intellektuellen. Daraus entstand ein Porträt des damaligen Amerika, das Buch, "Die Reise mit Charley".

    Sechzig Jahre später nimmt der niederländische Schriftsteller Geert Mak diese Fährte auf und spürt auf einer zweieinhalb Monate langen Reise nach, wie Amerika heute aussieht, was sich verändert hat seit den sechziger Jahren. Damals war Amerika noch das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten". Aber gibt es dieses Land heute noch?

    "Ich habe es gefunden, ja. Nicht in Wirklichkeit, aber in den Köpfen von vielen Amerikanern, die ich gesprochen habe, ja. Viele Amerikaner leben noch immer mit dem sogenannten amerikanischen dream im Kopf und in der Mentalität. Aber in Wirklichkeit ist das natürlich in den letzten fünfzig Jahren ganz verändert. Und Amerika ist für die Durchschnittsamerikaner auch ein ziemlich problematisches Land geworden."

    Was das bedeutet, beschreibt Mak anhand zahlloser Gespräche, die er zwischen Maine und Oregon, Kalifornien und Louisiana geführt hat, wann immer er mit seinem Mietwagen und seiner Frau Mitsie an einem Motel, einem Burgerimbiss oder einem amerikanischen Gedenkort anhielt. Zudem hat er in Archiven, Büchern und Statistiken gegraben und ergänzt seine Impressionen durch eine ganze Enzyklopädie von Fakten. Mak begegnet Menschen, die mit ungebrochenem Optimismus den Fährnissen von Natur und Kapitalismus trotzen. Aber er sieht auch ein zerfallendes, marodes Land, dessen Bürger ein ziemlich weltfernes Bild von sich selbst pflegen. Gerade außerhalb der großen Metropolen, schreibt Mak, habe er viele Menschen getroffen, die ihren Bundesstaat noch nie verlassen hätten.

    "Viele Amerikaner, und das ist ein Teil des Problems, haben keine Ahnung von der Entwicklung im Rest der Welt. Und der Realität auch in Amerika. In Amerika zum Beispiel gibt es nur eine High-Speed-Verbindung, einen Hochgeschwindigkeitszug zwischen Washington und Boston. Wenn man das vergleicht mit Europa und speziell mit China – ich glaube, jeden Monat kommt in China eine neue Hochgeschwindigkeitslinie hinzu – dann hat man das Gefühl, Amerika ist in gewisser Weise auch kein modernes Land mehr."

    Mak überquert kaputte Brücken, quält sich mit Schnecken-Internet, wundert sich, dass von einem einstmals 240.000-Meilen-Schienennetz heute nur noch zehn Prozent für Passagierzüge genutzt werden. An vielen Orten erlebt er Verfall, nicht nur der Infrastruktur, sondern auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Zur gleichen Zeit verschlingt der riesige Militärapparat Tag für Tag Milliarden. Es bereitet seinem feinen niederländischen Menschenverstand Mühe, das zu begreifen. Mak vergleicht die amerikanische Gegenwart mit der Situation Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg:

    "Großbritannien war in den 50er-Jahren schon in der Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die ganze Haltung und die ganze Infrastruktur und die ganze Industrie war noch wie im 19. Jahrhundert, auf dem Höhepunkt des großen britischen Reichs. Amerika ist das Gleiche. Amerika lebt mit einer Infrastruktur, aber auch mit einer Art Energie zu benutzen, lebt es noch, als ob es 1960 wäre. Und das, obwohl wir schon im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind. Amerika muss sich selbst auch schnell modernisieren. Und überall findet man in Amerika auch Inseln von Modernität. Aber ich habe oft das Gefühl, dass diese Modernitätsinseln nicht mehr verbunden sind mit dem Rest des Landes."

    Trotz der oft melancholischen Eindrücke, die sich bei Besuchen in der verblühten Industriestadt Detroit oder im vertrocknenden Texas zu apokalyptischen Miniaturen verdichten, bleibt vieles, was Mak an Amerika liebens- und bewundernswert findet: Die ethnische Vielfalt, die Stärke der Frauen, beispielsweise, den Mut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, das Gottvertrauen.

    Mak, der vor einigen Jahren einen wunderbaren historisch-politischen Bericht einer langen Europareise geschrieben hat, ist ein hellwacher Beobachter von Gegenwarten. Der Autor verbindet diese Gabe mit gründlichem Studium der Geschichte: Und so erfährt man nicht bloß viel über die heutigen USA, sondern auch eine Menge über das frühe Amerika und das der sechziger Jahre, Steinbecks Amerika. Was als roter Faden taugt, nämlich die Nachfahrt der "Reise mit Charley" erweist sich allerdings beim Lesen der mehr als sechshundert Seiten als zuweilen allzu ausführlich geratene Auseinandersetzung mit dem berühmten Literaturnobelpreisträger. Ein paar Dutzend weniger Seiten zu Steinbeck hätten Maks Röntgenaufnahme des amerikanischen Patienten sicher nicht geschadet.

    Trotz dieser Einwände bietet Maks Amerikabuch einen überaus geistreichen Einblick in das Amerika von gestern und heute. Was die New York Times seinerzeit über Steinbecks Reise schrieb, darf man deshalb auch über Maks Buch sagen: Ein "reizvolles Potpourri aus Orten und Menschen mit bittersüßen Betrachtungen über alles Mögliche".


    Geert Mak: "Amerika! Auf der Suche nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten." Siedler Verlag, 656 Seiten, 34.99 Euro. ISBN: 978-3-8275-0023-6.