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Künstlerexistenzen im Windschatten des Weltgetriebes

"Der Intendant kommt" erscheint als letzter Band einer Novellen-Trilogie, in der es um Künstler und deren ästhetische Selbstbehauptung in einem vermarktungsorientierten Kunstbetrieb geht. In jedem Band der liebevoll gestalteten Reihe steht eine andere Kunstrichtung im Zentrum.

Von Ralph Gerstenberg |
    Künstlernovellen! Was für ein herrlich altmodisches Genre hat sich Rainer Wieczorek für sein bisheriges literarisches Hauptwerk ausgesucht. Bedauerlicherweise gehört die Novelle ja zu den bedrohten Arten im gegenwärtigen Literaturbetrieb. Jeder Prosatext, den man großzügig gedruckt über die 100-Seiten-Grenze hieven kann, nennt sich heutzutage Roman. Darüber ist nicht jeder Autor glücklich. Doch den Mut, sich den Vermarktungszwängen zu widersetzen, haben nur wenige. Wer hat schon Lust, sich aus formalen Gründen bereitwillig in das große Heer der ungedruckten Autoren einzureihen? Rainer Wieczorek quälen solche Bedenken wenig:

    "Na ja, wenn sie jetzt eine Novelle schreiben, das ist eben nichts sehr Marktgängiges. Und dann kommen sie natürlich auf dem Literaturmarkt an Verleger heran, die sagen: Wir haben hier einen mittelständischen Betrieb zu versorgen und unsere Auflagenzahlen müssen so sein, dass sie diesen mittelständischen Betrieb versorgen können. Dazu muss die Kunst natürlich bestimmte Formen haben und darf bestimmte Formen nicht haben. Na ja, aber soll sich die Kunst nach solchen Sachen richten? Soll ich Literatur schreiben zur Formierung mittelständischer Betriebe? Das geht ja wohl nicht, will ich auch nicht."

    In seiner Kompromisslosigkeit gleicht Wieczorek durchaus seinen Protagonisten - zum Beispiel dem einsamen Essayisten, der in der "Tuba-Novelle" um einen originären Zugang zum Werk Becketts ringt und sich dabei eines breiten verlegerischen Desinteresses sicher sein kann.


    "Wollte man neuerdings den Markt darüber entscheiden lassen, was am Schreibtisch auszufechten war? War nicht längst der Markt zum Fürst unserer Tage geworden, dem alles diente, auf den sich jeder berief? Sich nicht an ihm zu orientieren, das Zentrum seines Handelns nicht an seinen Interessen auszurichten, hieß für einen Künstler oder Geisteswissenschaftler nichts anderes, als die völlige Abkopplung des öffentlichen Diskurses von seinem Werk vorzubereiten, zukünftig zwei Welten bestehen zu lassen, die sich unabhängig voneinander formten."

    In der ersten Novelle der Künstlertrilogie, die den programmatischen Titel "Zweite Stimme" trägt, entdeckt der ehemalige Schriftsetzer Wilhelm Baumeister eine für ihn bislang völlig unbekannte Welt, die Welt der Kunst. Im Odenwald, wo er seit dem Tod seiner Frau allein auf einem großzügigen Grundstück lebt, lernt der Frühpensionär den "Spaziergangswissenschaftler" Richard Skala kennen. Skala ist Konzeptkünstler, der weitab vom Kunstmarkt ambitionierte Projekte realisiert, groß angelegte Audioinstallationen und Objekte, in denen er die Atmosphäre von Wolken konserviert. Als Skalas Archivar findet Baumeister eine neue Lebensaufgabe. Er ist fasziniert von der Radikalität des Künstlers, der sich scheinbar unabhängig von ökonomischen Zwängen ein eigenes Universum erschafft. Am Ende wird Baumeister selbst zum Künstler, der sogar ein neues Kunstfeld erfindet: die Archivkunst. Er entdeckt ungeahnte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, seine zweite Stimme, wie es bei Wieczorek heißt, also jene Fähigkeit, die Welt mit anderen Augen zu betrachten, den Augen eines Künstlers. Und dabei zu Erkenntnissen vorzudringen, die das eigene Leben verändern. Als Gegenpart zu dem ehemaligen Industriearbeiter Baumeister gelingt Wieczorek mit Richard Skala ein wunderbares Künstlerporträt. Skala ist ein skurriler Sonderling, der beim Bergabfahren mit dem Auto den Motor ausstellt, dessen künstlerisches Werk jedoch, bei aller Verstiegenheit, eine faszinierende Plausibilität aufweist.

    "Der Witz ist, dass es diesen Skala wirklich gibt. Er hat einen anderen Namen, aber alles an dem Skala habe ich nicht erfunden. Das ist alles so. Ich bin mit dem Mann, der hinter dem Skala steckt, heute befreundet. Das hat sich bei der schriftstellerischen Arbeit so ergeben. Ich hab praktisch nur den einigermaßen normalen Protagonisten, den Baumeister, erfinden müssen. Der Peter Bichsel hat mal gesagt: Wir müssen die Geschichten nicht mehr erfinden, wir müssen sie nur noch finden."

    Eine Geschichte, die Rainer Wieczorek zum zweiten Band seiner Trilogie, der "Tuba-Novelle", inspiriert hat, entstammt einer biografischen Randnotiz zu Samuel Beckett. So soll der große irische Dramatiker auf seinem bescheidenen Landsitz, östlich von Paris, den er als Schreibrefugium nutzte, über den Bau einer Jagdhütte in Sichtweite so empört gewesen sein, dass er fortan in den Nachbarort zum Einkaufen fuhr. Die Störung, die bei Beckett zu Schreibhemmungen führte, wird zum zentralen Thema in Wieczoreks Novelle. Im Souterrain jenes Hauses von Beckett sitzt nun ein Stipendiat und arbeitet an einem Beckett-Essay, während gegenüber, im sogenannten Spanischen Haus, ein Tubaspieler seine Stücke probt. Aus dieser Situation schöpft Wieczorek nicht nur jede Menge komisches Potenzial, er reflektiert auch klug die Funktion der Störung im künstlerischen Schaffensprozess. Kindheitserlebnisse des Protagonisten verleihen der Geschichte zudem Volumen und erweitern die Gedanken über die Störung um eine zusätzliche Dimension.

    "Störungen, da geht's ja auch um psychische Störungen. Und der Protagonist entdeckt dann auch noch eine Ebene seiner Kindheit, wo er immer von seinem eigenen Vater als störend wahrgenommen wurde. Und diese tiefe Verletzung kommt da auch noch rein in das Spiel zwischen Tuba einerseits und Beckett andererseits."

    Als störend wird in Wieczoreks letzter Künstlernovelle das Publikum empfunden. "Der Intendant kommt" heißt der Band, in dem der Regisseur Joachim Schoor seine Inszenierungen so sehr radikalisiert, dass er seine Stücke nachts in einem leeren Theater aufführt. Das Publikum, so Schoor, würde deren Intimität zerstören. Zudem würde der Akt des Zuhörens den Charakter der Geschichte verändern. So bleibt der Nachtpförtner der einzige Zeuge des nächtlichen Treibens auf der Bühne. Mit Schoor, dessen Werk von einem literarisch ambitionierten Theaterwissenschaftler präsentiert wird, zeichnet Wieczorek eine Figur, die Becketts Ideen von einem absurden Theater weitertreibt und konventionelle Kommunikationsmechanismen auszuhebeln versucht, ja, Kommunikation geradezu unterbindet.

    "Es geht ja gar nicht, das wird in diesen drei Novellen auch immer klar, dass es überhaupt keine Kommunikationslosigkeit geben kann. Also dieser Schoor, der in diesem Staatstheater Darmstadt da experimentiert, arbeitet zunächst mit Studenten und wird von denen gestürzt. Dann kommt eine Kommunikation mit dem Nachtpförtner, der ihm die ganze Zeit zuhört, zustande. Also, es gibt die Kommunikation. Auch die Kommunikation mit einem, den ich nicht sehen kann, der gegenüber an der Tuba sitzt, kann ja sehr intensiv sein. Oft sind ja Kommunikationen mit Leuten, die nicht da sind, intensiver als mit welchen, mit denen ich täglich reden kann."

    Rainer Wieczoreks Trilogie von Künstlernovellen ist im besten Sinne traditionell. Mit Wolfgang Hildesheimer verbinden ihn das Sujet und der groteske Humor, mit Samuel Beckett der Sinn für Absurditäten sowie der Wille zur Reduktion. Selbst zu Thomas Bernhard gibt es stilistische Verwandtschaften: eine Musikalität der Sprache, das Umkreisen eines Themas in Gedankenschleifen. Andererseits hat Wieczoreks flirrende Leichtigkeit auch wenig mit den wuchtigen Tiraden des großen Grantlers gemein. Wieczoreks Sicht auf die Künstlerexistenz ist frei von Weltekel. Seine Geschichten haben etwas Spielerisches, Mildes. Seine Protagonisten sind sympathische Einzelgänger, die in der Abgeschiedenheit Schutz vor den Zumutungen des Weltgetriebes suchen, um ihr Werk unbeirrt voranzutreiben. Das verbindet sie mit ihrem Schöpfer, dem überzeugten Novellisten Rainer Wieczorek, dessen Künstlertrilogie in der störungsfreien Atmosphäre eines Souterrainzimmers entstanden ist und nun hoffentlich eine breite Leserschaft findet.

    Buchinfos:
    Rainer Wieczorek, erschienen im Dittrich Verlag, mit folgenden Bänden:
    1. Band: "Zweite Stimme", 138 Seiten, Preis: 16,80 Euro
    2. Band: "Tuba-Novelle, 120 Seiten, Preis: 14,80 Euro
    3. Band: "Der Intendant kommt", 134 Seiten, Preis: 16,80 Euro