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"Menschen in diesem Land sollen auskömmliche Löhne gezahlt bekommen"

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di besteht nach dem Urteil zum Mindestlohn in der Postbranche auf einer Neuregelung. Der Wettbewerb dürfe nicht ausschließlich über die Höhe der Löhne geführt werden, sagte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Andrea Kocsis. Andernfalls wären immer mehr Menschen auf staatliche Zusatzleistungen angewiesen.

Andrea Kocsis im Gespräch mit Bettina Klein |
    Bettina Klein: Wir haben darüber berichtet: wegen eines Formfehlers hat das Bundesverwaltungsgericht gestern den Mindestlohn für Briefträger bei wichtigen Postkonkurrenten gekippt. Sie müssen ihren Arbeitnehmern nun nicht den gesetzlichen Mindestlohn von 9,80 Euro zumindest im Westen Deutschlands zahlen. Das Gericht gab in dem gestern verkündeten Urteil den Klagen der Firmen statt, weil die nicht wie vorgeschrieben angehört worden seien. Das geht erst einmal an die Adresse der SPD, die seinerzeit für das Bundesarbeitsministerium zuständig war.

    Am Telefon begrüße ich Andrea Kocsis. Sie ist Vorstandsmitglied bei ver.di, damals wie heute eine Befürworterin des Mindestlohnes. Guten Morgen!

    Andrea Kocsis: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Frau Kocsis, die privaten Zustellunternehmen hätten Gelegenheit bekommen müssen für eine schriftliche Stellungnahme. Das ist nicht geschehen. Einen besonders guten Eindruck macht das nicht, oder wie ist Ihre Meinung?

    Kocsis: Na ja, es ist jetzt natürlich problematisch, weil überall erzählt wird, damit ist der Mindestlohn weg. Das ist er ja faktisch nicht. Er bleibt weiterhin im Entsendegesetz und wir wollen jetzt, dass dieser bemängelte Formfehler, den es tatsächlich gibt, geheilt wird.

    Klein: Der Eindruck ist aber schon entstanden, hier wurde eine wichtige Seite nicht gehört, vielleicht sogar eine Meinung unterdrückt. Was muss denn jetzt passieren, um diesem Eindruck entgegenzutreten?

    Kocsis: Wir wollen, dass das zuständige Ministerium diesen Fehler behebt, indem es eine erneute Anhörung durchführt. Trotzdem halten wir aber an dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn in der Höhe von 9,80 Euro beziehungsweise 8,40 Euro fest, weil wir sagen, das bleibt weiterhin das geeignete Mittel, um Lohndumping und Ausweitung von Lohndumping in der Branche zu verhindern.

    Klein: Das sehen die Arbeitgeber anders. Wenn sie jetzt Gelegenheit zu einer Stellungnahme bekommen, dann wird das kein Plädoyer für einen solchen Mindestlohn sein, oder womit rechnen Sie?

    Kocsis: Das schlimme ist ja, dass es mittlerweile so ist, dass wir Briefdienstunternehmen haben, deren Arbeitgebervertreter auch ganz deutlich sagen, dass sie nicht bereit sind, Löhne, die über 6,50 Euro oder 7,50 Euro liegen, zu zahlen. Jetzt gibt es ein großes Unternehmen in diesem Land, den Ex-Monopolisten, der zahlt Einstiegslöhne von 13,07 Euro – Einstiegslöhne. Dagegen zu konkurrieren, wird natürlich nur auf dem Rücken der Beschäftigten passieren. Das heißt, diese Löhne werden weiter unter Druck geraten und diejenigen, die in der Branche arbeiten, werden zunehmend Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen haben. Das war nicht der Sinn der Liberalisierung und deswegen fordern wir weiterhin, dass es dort einen ordentlichen Mindestlohn von 9,80 Euro geben soll.

    Klein: Die Postkonkurrenten argumentieren genau anders herum. Das Urteil komme 19.000 Arbeitsplätze zu spät, so sagen sie. So viele sind verloren gegangen in der Branche nach der Mindestlohnregelung.

    Kocsis: Diese Zahl ist mir nicht bekannt. Wir haben Untersuchungen angestellt und haben gesehen, dass es einen Arbeitsplatzaufbau gibt bei den privaten Konkurrenten, und dieser Aufbau zeichnet sich aus durch prekäre Beschäftigung, durch Teilzeitjobs, Minijobs. Deswegen sagen wir, die Vollzeitarbeitsplätze, die es in der Branche noch gibt, die dazu dienen, dass Menschen auch davon leben können, müssen erhalten bleiben. Das war übrigens auch der Kompromiss der Großen Koalition, als dieser Briefmarkt eröffnet wurde. Es war eine Voraussetzung, die sozialen Bedingungen in der Branche, nämlich genau die Löhne im Vorfeld zu regeln. Deswegen ist der Markt überhaupt liberalisiert worden. Auf diese Bedingung berufen wir uns und an diese Bedingung möchten wir immer wieder neu erinnern.

    Klein: Aber Wettbewerber sind insolvent geworden. Bestreiten Sie das?

    Kocsis: Das bestreite ich nicht. Es ist allerdings so, dass wir immer noch in einem Sozialstaat leben und es dort ein Sozialstaatprinzip gibt. Und wenn Unternehmer ihr Geschäftsmodell so aufbauen, dass sie sagen, ich werde niemals höhere Löhne als beispielsweise 6,50 Euro zahlen können, und damit rechnen, dass alle anderen Menschen in diesem Land über Steuern diese Löhne finanzieren, dann machen wir da ein großes Fragezeichen dran, ob diese Unternehmer dann auch dauerhaft mit diesem Geschäftsmodell bestehen können.

    Klein: Der Sinn der Liberalisierung des Postmarktes, Frau Kocsis, war ja, mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Wenn jetzt durch die Mindestlohnregelung aber Konkurrenten in Konkurs gehen, Insolvenz anmelden müssen, halten Sie das dann für eine vertretbare und wünschenswerte Begleiterscheinung?

    Kocsis: Wir wollen, dass Unternehmer in diesem Land auskömmliche Löhne zahlen und sich nicht auf Kosten der Allgemeinheit, nämlich ganz konkret über die Steuerzahler, ihre Unternehmen subventionieren lassen. Das ist der Ausgangspunkt, das ist die Ausgangslage, und deswegen sind wir weiterhin dafür, dass Menschen in diesem Land auskömmliche Löhne gezahlt bekommen.

    Klein: Wie ist die Situation der Mitarbeiter bei den privaten Zustellerfirmen im Augenblick im Vergleich zu jenen bei der Post?

    Kocsis: Nachdem gestern dieses Urteil gesprochen wurde, gab es da ein großes "Hallo!" im Sinne von "den Postmindestlohn gibt es nicht mehr" und es haben sofort mehrere Unternehmen angekündigt, ihre Löhne weiter abzusenken. Das war insofern ein schlechter Tag für die Beschäftigten in der Branche. Wir sehen die Entwicklung ganz kritisch. Wir sind für Wettbewerb, aber der Wettbewerb darf sich nicht ausschließlich über die Lohnfrage abspielen. Deswegen organisieren wir die Menschen in diesen Bereichen, auch in diesen Niedriglohnbereichen. Wir fordern sie auf, Gewerkschaftsmitglieder zu werden, und wir werden dort alles tun, um die Arbeitsbedingungen deutlich zu verbessern.

    Klein: Die Regelung, um die es jetzt geht, Frau Kocsis, läuft ja eh Ende April aus. Damit ist das Thema Mindestlöhne vermutlich vom Tisch, denn zum Beispiel aus der Union, von Fraktionsvize Michael Fuchs, kommt bereits das Signal, dass er nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes keine neue Mindestlohnverordnung für die Briefzusteller als nötig erachtet. Das Thema ist doch eigentlich vorbei, oder nicht?

    Kocsis: Wir finden nicht, dass das Thema vorbei ist. Das Thema wird weiter durch uns politisch nach vorne auf die Agenda gestellt. Wir werden die schwarz-gelbe Koalition in die Pflicht nehmen. Sie müssen sich positionieren und müssen sagen, ob sie wollen, dass in dieser Branche zukünftig nur noch Hungerlöhne gezahlt werden, weil der Wettbewerb ausschließlich über die Lohnfragen geführt wird.

    Klein: Verhandlungen heißt, beide Seiten müssen sich am Ende zumindest ein wenig bewegen. Was sind Sie bereit zu bieten, um zu einer solchen Mindestlohnregelung zu kommen?

    Kocsis: Wir haben ja diesen Tarifvertrag, diesen Mindestlohntarifvertrag abgeschlossen, haben das Postgesetz, in dem auch festgelegt ist, dass es gute Einkommen für die Beschäftigten geben muss, hinzugezogen. Das legt sogar fest, wie weit die Löhne oder zu welchem Abstand sie zum Ex-Monopolisten liegen dürfen, und wir halten weiterhin an diesen Löhnen fest, weil sie immer noch deutlich unter dem liegen, was der größte Arbeitgeber in der Branche in diesem Land zahlt. Zum Teil – ich habe es gerade gesagt – ist der Lohnunterschied 100 Prozent. Wir finden, dass bei einem Mindestlohn von 9,80 Euro und 8.40 Euro ausreichend Wettbewerbsmöglichkeiten gegeben sind, und deswegen werden wir auch nicht von dieser Forderung abweichen.

    Klein: Andrea Kocsis, Vorstandsmitglied bei der Gewerkschaft Verdi. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

    Kocsis: Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören!

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