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"Menschen von Anfang an so aufnehmen, wie sie sind"

Anlässlich des Inkrafttretens der UNO-Konvention, die behinderten Kindern ein Recht auf Unterricht in Regelschulen zubilligt, hat die SPD-Politikerin Karin Evers-Meyer eine Änderung des deutschen Schulsystems gefordert. In Zukunft müsse es so sein, dass die Förderung dem Kind folge und nicht das Kind seiner Behinderung entsprechend "in ein Schächtelchen getan wird", sagte die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Kinder.

Karin Evers-Meyer im Gespräch mit Friedbert Meurer | 26.03.2009
    Friedbert Meurer: Wenn in Deutschland ein Kind behindert ist oder erhebliche Lernstörungen aufweist, dann wird es meistens in eine Sonderschule überwiesen. In ungefähr sechs von sieben Fällen ist das so. Heutzutage heißen die Sonderschulen oft "Förderschulen". Das alte Wort klang nach Aussondern, so die Kritik. Warum unterrichtet man nicht behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam? In den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin und andernorts wird das auch schon häufiger praktiziert. Letzten Dezember hatten Bundestag und Bundesrat die UNO-Konvention der Menschenrechte behinderter Menschen ratifiziert. Heute, mit etwas Verzögerung, tritt sie in Deutschland in Kraft. Was sie bedeutet, möchte ich jetzt bereden mit Karin Evers-Meyer, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und SPD-Bundestagsabgeordnete. Guten Morgen, Frau Evers-Meyer.

    Karin Evers-Meyer: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Was ändert sich ab heute?

    Evers-Meyer: Ab heute wird erstmalig der Begriff der "Inklusion" eingeführt. Das ist ein Begriff, der bei uns noch ein bisschen fremd ist und der bedeutet, dass auch für behinderte Menschen von Beginn an Teilhabe in allen Bereichen des Lebens stattfinden muss.

    Meurer: Was stört Sie am Begriff "Integration"?

    Evers-Meyer: Man muss nur etwas integrieren, was man schon vorher ausgeschlossen hat, und bei der "Inklusion" müssen wir die Menschen von Anfang an so aufnehmen, wie sie sind. Das heißt also, zukünftig müssen die Unterstützungen den Menschen folgen. Das heißt, die Schule oder das Bildungssystem passt sich an die individuellen Bedürfnisse der Kinder an und nicht umgekehrt, wie es bei uns in Deutschland ist.

    Meurer: Wie sehr gilt jetzt das Recht darauf, Frau Evers-Meyer, dass Eltern sagen, ich möchte "Inklusion" meiner Kinder, ich möchte, dass mein Kind eine Regelschule besucht, eine ganz normale Schule und keine Sonderschule?

    Evers-Meyer: Teilweise sind die Bedingungen in Deutschland so, wie es ja auch im Beitrag anklang, dass es nicht möglich ist, weil die Schulen nicht darauf eingerichtet sind. Durch die Unterzeichnung der UN-Konvention hat Deutschland sich verpflichtet, jedem behinderten Kind den Besuch von Regelschulen zu ermöglichen, also inklusive Bildungssysteme zu besuchen. Für mich ist es in dem Zusammenhang ganz wichtig, dass wir es zunächst mal möglich machen, dass Eltern erst mal wählen können, auf welche Schule ihr Kind geht.

    Meurer: Wenn im Moment nur 15 Prozent einen Platz in der Regelschule haben, wie viele Jahre wird es dauern, bis die anderen 85 Prozent auch diese Chance bekommen?

    Evers-Meyer: Ja, Herr Meurer, da kann ich Hoffnung machen. Wenn wir nach Schleswig-Holstein gucken, da werden bereits 40 Prozent aller behinderten Kinder integrativ beschult. Dieses Land hat sich zur Aufgabe gemacht, die "Inklusion" voranzutreiben, und hat das innerhalb weniger Jahre geschafft, diesen Stand zu erreichen.

    Meurer: Aber es gibt keinen Rechtsanspruch wie bei Kindergärten?

    Evers-Meyer: Nein, aber die UN-Konvention vermittelt nun erstmals diesen Rechtsanspruch. Wir müssen unser Schulsystem so ändern, dass es auch für behinderte Kinder offen steht.

    Meurer: Man wartet ja schon auf die ersten Prozesse, die wird es auch bald geben. Werden Eltern juristisch auch heute schon oder in den nächsten Monaten ihren Platz durchsetzen können?

    Evers-Meyer: Zunächst einmal ist es so, dass sich selbstverständlich Eltern dann an den Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in Genf bewegen können oder an den Menschenrechtsausschuss gehen können. Aber natürlich müssen vorher in Deutschland alle Instanzen der Gerichtsbarkeit durchlaufen sein. Also das wird ein langer Weg sein. Ich weiß aber von ersten Eltern, die solche Klagen vorbereiten.

    Meurer: Nun sagen diejenigen, die die Förderschule verteidigen, hier haben wir alles gebündelt: Fachkräfte, Therapeuten und so weiter. Was soll daran schlecht sein?

    Evers-Meyer: Schlecht ist eben die Situation, dass dort behinderte Kinder unter sich sind. Wir haben hervorragende Förderpädagogen an den Schulen, nur diese Pädagogen werden gebraucht an den inklusiven Schulen. Ich kann nur noch mal sagen, in Zukunft muss es wirklich so sein, dass die Förderung dem Kind folgt und nicht das Kind sozusagen seiner Behinderung entsprechend in ein Schächtelchen getan wird, wie wir es so gerne haben. Wir haben, ich glaube, über zehn verschiedene Arten von Förderschulen in Deutschland und dieses System der Aussonderung führt nur dazu, dass die Kinder im späteren Leben auch weiter ausgegrenzt und isoliert unter sich leben. Denn man muss wissen: 80 bis 90 Prozent aller Abgänger von Förderschulen gehen hinterher in eine beschützte Werkstatt, und das kann nicht in Ordnung sein.

    Meurer: Nur 20 Prozent - eine andere Zahl - der Förder- oder Sonderschüler bekommen einen Hauptschulabschluss, nur 0,2 Prozent Abitur. Meinen Sie wirklich, dass das in einer Regelschule besser würde?

    Evers-Meyer: Die Erfahrungen sind so. Selbstverständlich gibt es schwerbehinderte Kinder. Die darf man bei dieser ganzen Diskussion sicherlich nicht vergessen. Und es gibt sicherlich auch Eltern, die sich besondere Schutzräume für ihre Kinder wünschen. Aber zunächst einmal muss man es den Eltern ermöglichen, die wollen, dass ihre Kinder eine Regelschule besuchen. Denen muss man es auch ermöglichen dadurch, dass man den Fördersachverstand sozusagen an die Regelschule holt. Und ich glaube, auch anderen Kindern würde das gut tun.

    Meurer: Noch kurz die Frage: Was sagen Sie Eltern nicht-behinderter Kinder, die der Meinung sind, wenn die behinderten Kinder kommen, sinkt das Leistungsniveau der Klasse?

    Evers-Meyer: Das ist ein Vorurteil, das ich immer wieder höre. Ich erlebe in Deutschland beides: Einmal Eltern, die große Vorurteile haben und sagen, das Leistungsniveau in der Klasse sinkt, und dann erlebe ich, dass integrative Schulen, inklusive Schulen lange, lange Wartelisten haben, weil auch Eltern von nicht-behinderten Kindern wünschen, dass ihre Kinder gerade diese Schulen besuchen, denn in diesen Schulen bekommen auch Nicht-Behinderte so genannte "soft skills" mit, die im späteren Berufsleben sehr gebraucht werden.

    Meurer: Karin Evers-Meyer, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung von der SPD. Schönen Dank, Frau Evers-Meyer, und auf Wiederhören!