Freitag, 29. März 2024

Archiv

Menschenpflichten
Eine Hausordnung für alle

Eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten gibt es seit fast 20 Jahren, erarbeitet vom Projekt Weltethos um den Theologen Hans Küng. Es geht darin um Menschlichkeit, die Kostbarkeit des Lebens und Toleranz in Religionsfragen. Unterzeichnet von hochrangigen, ehemaligen Staats- und Regierungschefs, bleibt das Dokument bis heute weitgehend folgenlos.

Von Henning Klingen | 27.09.2016
    Frankfurt freut sich auf die Ankunft der Flüchtlinge: in einer beispiellosen Aktion vieler hunderter Frankfurter Bürger aller Nationen und aller Religionen werden gemeinsam Vorbereitungen für die erwarteten Flüchtlinge aus Syrien getroffen. Belegte Brote werden vorbereitet, viele fleißige Hände packen Tüten mit dem Notwendigsten, tragen Einkäufe oder Sachspenden zusammen. Über soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook oder Whatsapp verbreitete sich die Nachricht in Windeseile und mobilisierte eine Menschenmenge, die im Verlauf des Abends den Regelbetrieb des Hauptbahnhof s nahezu lahmlegte
    Eine ehrenamtliche Helferin am Frankfurter Bahnhof, die an Flüchtlinge Essenpakete verteilt (imago/Ralph Peters)
    Krieg, Terror, Gewalt. Die Welt scheint aus den Fugen. Das Vertrauen in die Menschlichkeit des Menschen wird auf eine harte Probe gestellt. Zu diesem Urteil kommt zumindest die deutsche Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann:
    "Was wir im Moment in Europa immer mehr verlieren, ist so etwas wie Anstand und das Vertrauen der Menschen ineinander und auch der Respekt der Menschen einander gegenüber."
    Anzeichen für diesen Verlust erkennt Assmann darin, dass sich etwa unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise ein tiefer Spalt in der Gesellschaft zeige. Willkommenskultur hier – teils gewaltvolle Ablehnung von Flüchtlingen dort. Kurz gesagt: der Umgangston wird härter, das gesellschaftliche Klima kälter:
    "Wir haben eine Aufwallung von Hass und latenter Gewalt, die damit verbunden ist. Und In dieser Situation, in der wir jetzt leben, sollen jetzt auch noch Flüchtlinge integriert werden. Wie soll das denn gehen? Und da dachte ich mir, dass man diesen Begriff der Menschenpflichten mal wieder in Erinnerung bringen sollte. Worum geht es da? Da geht es um die Anerkennung des anderen als anderen, um die Grundform des Respekts."
    Moralisch entkleidete Gesellschaft
    Assmanns Diagnose einer moralisch entkleideten Gesellschaft teilten nämlich bereits vor zwanzig Jahren zahlreiche internationale Regierungschefs. Im maßgeblich vom verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt geprägten "InterAction Council" – einem Zusammenschluss von ehemaligen Staats- und Regierungschefs – haben sie genau diese Frage diskutiert: Welche Wertebasis braucht eine Gesellschaft, ja, die Weltgemeinschaft, um friedlich und respektvoll zusammenzuleben? Ihre Antwort: Es braucht neben Menschenrechten auch Menschenpflichten, also eine Art Hausordnung, die jeden einzelnen in die Pflicht nimmt.
    "Dieses Dokument ist so aufgegliedert, dass es beschreibt, welche Regeln im zwischenmenschlichen Leben gelten. Es fängt an mit der Ehe oder der Beziehung der Geschlechter untereinander, mit der Beziehung, der Nachbarschaft, es baut sich so richtig auf. Und für all diese Gruppen, die immerzu miteinander umgehen, gibt es diese Grundregeln. Ich könnte mir vorstellen, wenn Leute in dieses Land kommen, wäre es wert, wenn sie diese Regeln lernen – aber eben nicht wie diese Leitkulturfrage, die in eine völlig falsche Richtung geht, weil es so eine Einbahnstraße ist – das ist für die, aber nicht für uns – sondern da geht es darum, dass das Regeln sind, die alle – genau wie beim Straßenverkehr – beherzigen müssen, damit sie sich an die Ordnung des Zusam menlebens halten und dieses auch stützen."
    Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, aufgenommen am 25.01.2015 in Köln.
    Die Konstanzer Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Der Katalog der Menschenpflichten umfasst 19 Artikel und eine Präambel. Vom Gebot der Menschlichkeit ist darin die Rede, vom sorgsamen Umgang auch mit der Umwelt, von der Kostbarkeit des Lebens, von Fairness im Umgang miteinander und von der Toleranz in Religionsfragen. Kein Mensch, kein Staat, keine Organisation, keine soziale Gruppe und kein staatlicher Apparat steht über den Dingen oder jenseits von Gut und Böse. Jeder Einzelne ist seinem Gewissen unterworfen, trägt die Folgen seines Handelns und soll sich im Geist der Brüderlichkeit verhalten. Dies verbietet das Kriegführen, die Gewalt und den Terrorismus, schließt allerdings die Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs nicht aus.
    Die goldene Regel
    Nicht umsonst erinnert vieles darin an das Projekt "Weltethos" – war es doch der Tübinger Theologe Hans Küng, der die Erklärung der Menschenpflichten im Auftrag des "InterAction Council" letztlich ausformulierte. 1997 wurde die Erklärung schließlich – unterzeichnet von ehemaligen 25 Staats- und Regierungschefs, darunter Helmut Schmidt, Jimmy Carter und Shimon Peres – veröffentlicht und an UN-Generalsekretär Kofi Annan gesendet. Die Tatsache, dass das Dokument bis heute weitgehend folgenlos blieb, stört Assmann indes nicht. Schließlich geht es dabei um eine kulturell tief verwurzelte Sehnsucht, die geduldiger ist als das Papier einer Deklaration:
    "Das sind letztlich Forderungen, die es in der Menschheitsgeschichte immer schon gab. Und das Spannende an den Menschenpflichten ist, dass es über die Religionen, über die Kulturen hinweg für ein friedliches Beisammenseins der Menschen eben dieser Grundregeln bedarf. Und eine Urgrundregel heißt: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu. Das ist die goldene Regel. Und von dieser goldenen Regel weiß man auch, dass Ausleben von Gewalt oder Hass oder Verhöhnung oder Beleidigung des Anderen der Gesellschaft nicht gut tun, sondern dass man diese Kräfte binden oder bändigen muss, etwa durch eine solche Hausordnung, in der bestimmte Regeln des Umgangs und der Fairness eingeführt werden."
    Die kulturhistorischen Wurzeln dieser Hausordnung reichen tief in die Kultur-, ja Religionsgeschichte des Menschen hinein. So klingt manche Menschenpflicht wie etwa jene der Fürsorgepflicht Armen und Obdachlosen gegenüber für religiös musikalische Gemüter durchaus vertraut. Und in der Tat findet Aleida Assmann etwa in den christlichen "Werken der Barmherzigkeit" ähnliche Ideen ausformuliert. Ihr Mann, Jan Assmann – seiner Profession nach Ägyptologe – verfolgt die Spur der Menschenpflichten schließlich noch einen Schritt weiter. Und zwar bis ins alte Ägypten:
    "Nach dem Untergang des Faschismus und des Sozialismus erlebten wir eine Welle des Individualismus. Inzwischen ist aber völlig evident geworden, wie sehr wir angewiesen sind nicht nur auf die individuelle Entfaltung, sondern auch auf das Miteinander. Und wie sehr da diese Werte und Tugenden jetzt wieder aktuell werden, von denen die ägyptischen Texte, die 4000 Jahre alt sind, handeln. Das berührt als Ägyptologen. Und ich würde auch meinen, es gibt diesen Menschenpflichten nochmal ein anderes Gewicht, wenn man sich klar macht, wie tief die verankert sind."
    "Menschenpflichten zur Sache Gottes gemacht"
    Tatsächlich nehmen die Menschenpflichten im Laufe der Geschichte eine Art heiligen Nimbus an – und zwar nicht etwa im alten Ägypten, sondern in Folge der Entfaltung des biblischen Monotheismus. Was der Mensch tut oder unterlässt, was er seinem nächsten antut – dies wird plötzlich zur Sache Gottes selbst:
    "Dieses Miteinander, diese Kultur des Miteinander-Lebens, das war in Ägypten eher ein säkulares Geschäft. Das brachte einem die Götter nicht näher. Das war eine Sache der Weisheit, der Erfahrung und ausgesprochen nicht der Priester und des Kultes. Und erst in der Bibel wurde das gewissermaßen zur Chefsache, zur Sache Gottes. Das ist das Spezifikum der biblischen Religion, dass sie die Menschenpflichten zur Sache Gottes macht."
    Der Heidelberger Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann.
    Der Heidelberger Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann. (imago / Leemage)
    Wer heute also an die Menschenpflichten erinnert, der kommt nicht umhin, auch den biblischen Monotheismus zu inhalieren. Denn ihre religiöse Aufladung haben die Menschenpflichten genau hier erfahren: in der Auseinandersetzung zwischen Gott und Mensch. Schließlich sind Menschenpflichten laut Assmann nichts anderes als die Gebote Gottes. Und wer gegen sie verstößt, versündigt sich an Gott und der gesamten Schöpfung:
    "Diese ganzen Texte entstehen ja aus der Erfahrung der Katastrophe. Das heißt im Grunde ist das Projekt gescheitert, wir sitzen auf einem Scherbenhaufen, wir sitzen im babylonischen Exil; und man erklärt sich das als eine Strafe Gottes. Und diese Strafe hat zwei Gründe: Der eine wird von Hosea oder auch Ezechiel groß gemacht: Die Untreue, die Anbetung anderer Götter. Der andere Grund, der von Amos und Jesaja ganz vorne angestellt wird, ist die Gerechtigkeit: Ihr habt die Armen unterdrückt, seid für die Witwen und Waisen nicht eingetreten. Und deswegen habe ich euch verstoßen von meinem Angesicht, euch zerstreut unter die Völker. Das ist die Art Sanktion. Das ist Geschichte. In Israel ist es so, dass wenn man diese Normen nicht erfüllt, dann geht die Geschichte schief, dann scheitert das ganze Projekt Israel."
    Wer die "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" von 1997 belächelt, sie als weich und unverbindlich abtut, der möge sich daher laut Assmann vielleicht einmal an ihre religiöse Tiefenschicht erinnern: Es steht viel auf dem Spiel. Nicht zuletzt das Scheitern der Geschichte, das Scheitern des Projekts Mensch.