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Menschenrechte in der Türkei
"Die moralische Forderung bleibt bestehen"

Selbst wenn die Türkei ganz aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten würde, hieße das nicht, dass Menschenrechte nicht mehr gültig seien, meint der Philosoph Stefan Gosepath. "Der Pakt alleine sichert nicht alles, sondern nur bessere rechtliche Durchsetzung der Menschenrechte," sagte er im DLF. Die moralische Forderung nach den Rechten bleibe bestehen.

Stefan Gosepath im Gespräch mit Änne Seidel | 24.07.2016
    Der Philosoph Stefan Gosepath sitzt vor einem Mikrofon und spricht.
    Der Philosoph Stefan Gosepath (imago stock&people)
    Änne Seidel: Gut eine Woche ist er jetzt her, der gescheiterte Putschversuch in der Türkei. Eine Woche, in der viel passiert ist: Die türkische Regierung unter Präsident Erdogan hat massenhaft vermeintliche Staatsfeinde festnehmen lassen, tausende Beamte entlassen, Radio- und Fernsehsendern die Sendelizenzen entzogen… Der Ausnahmezustand gilt und für die Menschenrechte, für die sieht es alles andere als gut aus in der Türkei: Die türkische Regierung hat die Europäische Menschenrechtskonvention teilweise ausgesetzt. Dafür gibt es viel Kritik, aber formal gesehen hat die Türkei damit nichts Verbotenes gemacht. Denn: Artikel 15 der Europäischen Konvention erlaubt ausdrücklich, Menschenrechte im Ausnahmefall einzuschränken. Nämlich dann, wenn ein Land durch Krieg oder einen anderen "öffentlichen Notstand" - so heißt das im Juristen-Deutsch - bedroht ist. Was aber bringen Menschenrechte noch, wenn sie gar nicht verbindlich sind, sondern mal eben so, mir nichts, dir nichts außer Kraft gesetzt werden können? Darüber habe ich gesprochen mit dem Philosophen Stefan Gosepath - ich habe ihn vor der Sendung gefragt: Was hat so ein Artikel, wie dieser Artikel 15, in einer Menschenrechtskonvention überhaupt zu suchen, ist der da nicht eigentlich völlig fehl am Platz?
    Stefan Gosepath: Ja. Aber diese Anomalie, dieses Ungewöhnliche in einem Gesetzestext erleben wir ja auch in unserer eigenen Verfassung. Auch unsere Verfassung hat ja einen Notstandsparagrafen und andere Verfassungen haben das auch. Und die Idee ist eventuell die, dass man sagen kann, wenn es zu innerem Aufruhr oder so etwas kommt, oder wie jetzt in der Türkei zu einem Putsch, dann muss sich der demokratische Rechtsstaat stark machen können, um diesen Putsch oder innere Unruhen oder auch äußere Angriffe zurückzuschlagen, um die Verfassung und die demokratische Rechtsordnung zu schützen. Die Schwierigkeit ist aber natürlich genau die, dass dadurch die Exekutive, der Präsident so stark gemacht wird, dass er das Mittel missbrauchen könnte, um genau nicht das zu tun, nämlich die Verfassung und die Rechtsordnung zu schützen, sondern sich weitere diktatorische Maßnahmen und autokratische Regierungsformen anzueignen. Im Fall Erdogan befürchten wir natürlich genau das und deshalb ist dieser Ausnahmezustand und die Aussetzung bestimmter Rechte so gefährlich, weil man eigentlich ein Vertrauen darin haben muss, dass die jetzt auf einmal über alle Verhältnisse gestärkte Exekutive dies in der Tat im rechten Sinne nutzt, und eigentlich haben wir eine Verfassung und eine Rechtsordnung, um uns als Bürger gegen die zu schützen.
    Spannungsverhältnis zwischen moralischer Idee und politischer Umsetzung
    Seidel: Letztendlich steht so ein Artikel ja eigentlich auch in völligem Widerspruch zum Wesen der Menschenrechte, denn Menschenrechte - das haben wir alle irgendwann mal in der Schule gelernt - sind universelle Rechte. Sie gelten immer und überall und für alle.
    Gosepath: Ja. Da haben wir es jetzt wieder mit einem Spannungsverhältnis zu tun, das wir schon seit der französischen Erklärung der Menschenrechte nach der Französischen Revolution kennen. Damals hat die französische Nationalversammlung die allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet, und das konnte sie aber nur als französische Vollversammlung, und das ist auch schon widersinnig. Hier hat ein bestimmter politischer Körper in Frankreich die Erklärung für alle Menschen abgegeben. Der Gedanke ist natürlich genau der, den Sie jetzt gesagt haben. Diese Menschenrechte in der Hinsicht, dass sie universell für alle Menschen gelten sollen, das ist eine moralische Idee. Wir haben von unserer moralischen Einstellung aus die Aufforderung, dass alle Menschen, wo immer sie sind und unter welcher Rechtsordnung sie auch immer leben, geschützt werden sollen und dass ihnen mindestens diese Menschenrechte zustehen. Das ist aber eine moralische Forderung. Gleichzeitig haben wir seit der Französischen Revolution jetzt eigentlich eine sehr positive Entwicklung, dass die Menschenrechte nämlich zunehmend in rechtliche Konventionen, Kodizes, völkerrechtliche Vereinbarungen gegossen worden sind, und damit ist etwas passiert, was ganz wichtig geworden ist, dass es nämlich nicht bloß eine moralische Forderung ist, sondern dass man jetzt tatsächlich seine Menschenrechte einklagen kann. Gerade die Europäische Menschenrechtskonvention ist da ganz besonders, weil die nämlich sogar jedem einzelnen Bürger in Europa das Individualrecht auf Beschwerde sichert. Das heißt, ich kann mich als einzelner Bürger beim Europäischen Gerichtshof darüber beschweren, dass meine Regierung die Menschenrechte nicht einhält. Das ist in anderen Teilen der Welt noch nicht so stark geregelt, dass man wie bei einer Verfassungsbeschwerde auch als Individuum sich gegen die Verletzung der Menschenrechte wehren kann. Darf ich das noch gerade ausführen?
    Seidel: Natürlich!
    Gosepath: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist aber eine rechtliche Konvention. Jetzt kommen wir nämlich auf das Spannungsverhältnis. Das besteht nur, weil sich die Staaten untereinander auf diese Konvention geeinigt haben, qua Vertragsschluss, und dadurch die rechtliche Sicherung geschaffen haben. Aber ein Vertragsschluss ist natürlich auch wieder kündbar und da haben wir genau dieses Spannungsverhältnis zu der universellen Gültigkeit der Menschenrechte, weil natürlich, sollte die Türkei jetzt sagen, sie tritt aus dem Pakt aus, sie will nicht mehr Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention sein - solche Fälle hatten wir auch schon ein paar Mal -, dann bleibt natürlich die moralische Forderung bestehen, dass sie dennoch, auch wenn sie austreten, sich moralisch an die Menschenrechte halten sollten, egal ob sie dem Pakt beigetreten sind oder nicht, und das ist das Spannungsverhältnis. Der Pakt alleine sichert nicht alles. Er sichert uns bessere rechtliche Durchsetzung der moralischen Menschenrechte.
    "Nicht alle Rechte der Konvention können außer Kraft gesetzt werden"
    Seidel: Bleiben wir vielleicht noch mal kurz bei der Geschichte der Menschenrechte, denn sie wurden ja ursprünglich ganz bewusst als Rechte definiert, die eben nicht von einem Gesetzgeber abhängig sind. Man hat sie damals ganz klar abgegrenzt vom sogenannten positiven Recht, von dem Recht, das vom Menschen gemacht wird. Wenn wir jetzt so einen Artikel wie diesen Artikel 15 in eine Menschenrechtskonvention einbauen, was unterscheidet die Menschenrechte dann überhaupt noch, ich sage mal, vom Strafgesetzbuch oder auch von der Straßenverkehrsordnung?
    Gosepath: Jetzt bleibe ich wieder mal abstrakt und der Idee nach. Es ist ja so, dass dieser Artikel 15 nicht die Möglichkeit gibt, alle Menschenrechte außer Kraft zu setzen, sondern nur ganz bestimmte. Die Idee hier wiederum ist, dass der Kern der Menschenrechte, insbesondere die körperliche Unversehrtheit, die Rechtsordnung, dass man nicht ohne Verfahren angeklagt werden darf, und so weiter, das bleibt intakt. Bestimmte Freiheitsrechte werden außer Kraft gesetzt, die notwendig scheinen, um die Rechtsordnung selber aufrecht zu erhalten. Darüber kann man ja jetzt debattieren, aber das ist wenigstens die Idee. Es ist jetzt nicht so, dass mit dem Artikel 15 alle Menschenrechte in der Konvention außer Kraft gesetzt werden dürfen. Das zum einen. Das andere ist natürlich: Ja, wir haben eine Idee, dass die Menschenrechte etwas sind, was unabhängig der staatlichen Ordnung und gegebenenfalls gerade gegen die staatliche Unrechtsordnung bestehen sollte. Aber als "Waffe" gesprochen ist das dann stumpf, weil es nichts anderes ist als eine moralische Forderung, die man auf der Straße mit Demonstrationen und so weiter immer wieder geltend machen kann. Die Waffe wird richtig erst scharf, wenn wir auch Mittel haben, mit denen wir Staaten, die dagegen verstoßen, sanktionieren können. Das gelingt uns nach wie vor am besten mit Mitteln des Rechts und einer bestimmten Rechtsordnung, wiederum einem ordentlichen Verfahren wie dem Europäischen Gerichtshof und Strafen, die verhängt werden können. Insofern wird es nicht gehen, die Idee der Menschenrechte einfach nur bei den moralischen Forderungen zu belassen, sondern es ist eigentlich gerade ein wenn auch durch das Leid im 20. Jahrhundert geschuldeter Fortschritt, dass es zunehmend zu einer rechtlichen Positivierung der Menschenrechte gekommen ist. Man braucht beides: Man braucht die moralische Idee, die die rechtliche Positionierung nach vorne treibt, zu immer mehr Positivierung treibt, und die sich auch gegen Ausnahmen wie diese hier zur Wehr setzt. Aber gleichzeitig braucht man die strafrechtliche und rechtsstaatliche Umsetzung der Menschenrechte und Garantie der Menschenrechte durch den staatlichen Souverän, um hier die Menschenrechte wirklich effektiv zu schützen.
    "Es gibt wahrscheinlich eine interne Stufung der Menschenrechte"
    Seidel: Sie haben es vorhin schon gesagt: Durch den Artikel 15 können nicht alle Menschenrechte außer Kraft gesetzt werden, sondern nur einige bestimmte. Muss man sich da dann nicht fragen, ob wir damit nicht so etwas wie zwei Klassen von Menschenrechten schaffen, die universellen wie zum Beispiel das Folterverbot, das immer und überall gilt, und dann noch die anderen, die im Ausnahmefall außer Kraft gesetzt werden können? Ist das nicht doch ein bisschen riskant vielleicht?
    Gosepath: Das ist riskant und auch umstritten. Riskant ist es politisch. Das sehen wir jetzt gerade, weil wir nicht wissen, wohin das führen wird, ob es nicht in der Tat zur Aushöhlung der Idee der Menschenrechte und der Umsetzung der Menschenrechte in der Türkei führen wird, wobei man jetzt in Klammern sagen muss, dass selbst vorher schon die Menschenrechtslage trotz Beitritt zum Europäischen Menschenrechtspakt in der Türkei wirklich nicht besonders gut gewesen ist. Davon mal abgesehen, ist jetzt aber die Frage, ob die Menschenrechte unterschiedliche Klassen oder unterschiedliche Dringlichkeit haben. Ganz viel und auch intuitiv wird man das wahrscheinlich befürworten, dass einige Menschenrechte wichtiger sind als andere. Das kann man schon daran sehen: Wenn man nicht das Recht auf Leib und Leben gesichert haben kann, dann sind die Freiheitsrechte natürlich auch gar nichts wert, weil man muss erst mal ein Leben haben, das dann die Freiheitsrechte in Anspruch nimmt, und die Freiheitsrechte wiederum benötigen bestimmte materielle Voraussetzungen, bestimmte soziale Menschenrechte, und die sind dann wiederum daran gekoppelt, dass man sagen kann, wir wollen in Frieden und Freiheit leben. Insofern gibt es da wahrscheinlich eine interne Stufung der Menschenrechte. Das ist eine Position, die ich verteidigen würde, aber die nicht von allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geteilt wird.
    "Nicht in Wolkenkuckucksheim leben"
    Seidel: Das heißt, Sie würden nicht sagen, dass die Europäische Menschenrechtskonvention, so wie sie ist, so etwas ist wie eine Mogelpackung?
    Gosepath: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Ich bin nicht ganz glücklich mit diesem Ausnahmezustand, aber das hebelt das ganze europäische Menschenrechtswerk noch gar nicht aus. Es ist in der Tat eher das Problem, dass im Konfliktfall - und das könnte man jetzt in der Türkei auch sehen - die Türkei könnte es sich relativ einfach machen und aus dieser Konvention austreten. Dann haben wir den viel schlimmeren Fall. Was wir eigentlich rechtlich jetzt wieder brauchen, ist, dass wir einen geregelten Ausstieg haben, über den man auch verhandeln kann, und auch hier zum Beispiel ist es jetzt so, dass gegen diese Aussetzung und gegen die Anwendung des Artikels 15 man jetzt wieder Klage erheben könnte, Türken zum Beispiel, die dann vor dem Europäischen Gerichtshof geprüft werden. Wir haben Verfahren, die überprüfen, ob die Anwendung dieser Artikel richtig ist. Das sind alles Vorteile, als wenn man jetzt im Konfliktfall zum Beispiel, wo wir die Gefahr sehen, dass die Türkei in eine Diktatur abdriftet, wenn man dann gezwungen ist, sie ganz aus der Konvention rauszunehmen oder zu zwingen und dann gar keine Möglichkeiten mehr hat zu verfahren und zu verhandeln. Es ist ein politisches Mittel und man muss immer auch bei der Moral realistisch sein und nicht in Wolkenkuckucksheim leben, sondern man muss versuchen, das Beste moralisch durchzusetzen mit den realistischen politischen Mitteln.
    Seidel: Realismus statt Wolkenkuckucksheim - das war der Philosoph Stefan Gosepath, wir sprachen über die Europäische Menschenrechtskonvention und ihren Artikel 15, laut dem Menschenrechte teilweise ausgesetzt werden können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.