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Meri

DLF: Herr Präsident, die ‚singende Revolution' ist Geschichte. Estland ist frei, Estland ist unabhängig. Wo steht Estland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert?

Henning von Löwis |
    Meri: Eigentlich, wo es immer gestanden hat: An der Ostsee - besser als vor 20 Jahren, schlechter vielleicht als vor 70 oder 60 Jahren, aber wie immer selbstbewußt, ein bißchen plump vielleicht, das gehört ja schon zu unserem Nationalcharakter - phlegmatisch, listig - wenn Sie sich die Ereignisse in Brüssel anschauen, wo es eine Menge Menschen gibt, so viele Menschen, daß es überhaupt nicht möglich ist, daß sie sich alle anhören, wenn sie auf einmal zu sprechen beginnen. Und natürlich mit einem gewissen Bedauern, daß die Welt - diese junge Welt, das junge Europa, wir sind ja steinalt schon, aber dieses junge Europa, das nach Karl dem Großen entstanden ist, immer noch nicht fähig ist - sagen wir -, seine Sachen im Hinterhof, also diesmal in Kosovo, selbst zu erledigen. Das bringt Leid, es wird dafür mit Blut und Menschenleben bezahlt, und bei weitem nicht nur mit albanischem Blut - da wird auch gewiß deutsches oder französisches oder ich weiß nicht was für Blut vergossen, denn für Fehler muß man immer bezahlen. Aber das ist ja eigentlich die Tatsache, daß man immer die alten Fehler begeht. Man möchte sich vor dem Lernen drücken, man möchte sich so gern eine Welt vorstellen, die schon fertig ist, wo man nichts zu erlernen mehr hat, wo man sich die Reisekarten bestellen kann, um in die Ferne zu verreisen.

    DLF: Die NATO sagt, sie führt einen gerechten Krieg, einen humanitären Krieg. Sehen Sie das auch so?

    Meri: Die NATO spricht überhaupt nicht von einem Krieg, sie spricht von einer Krise. Seien Sie in diesen Sachen ganz konsequent. Man spricht auch nicht von ‚Verschleppten', man spricht von ‚Flüchtlingen', sogar nicht von ‚Kriegsflüchtlingen'. Ich glaube, schon die Tatsache, daß man den Mond als eine Sonne bezeichnet, einen Wald als ein Meer usw., daß man die nüchternen Gegenstände nicht beim Namen nennen möchte, deutet schon darauf, daß wir es kurzum doch eher mit einer Krise der Moral zu tun haben, ungefähr - es tut mir leid, das zu sagen - wie es in Europa der Fall war, vor München - als Chamberlain und Hitler sich die Mühe gaben, einen Frieden zu retten, der damals nicht mehr mit diesen Prinzipien zu erretten war.

    DLF: Welche Rückwirkungen hat dieser Krieg oder dieser Konflikt auf dem Balkan auf die Region Baltikum? Gibt es da Auswirkungen? Man kann in Estland hier hin und wieder das Argument hören: Wenn die NATO in dieser Weise vorgeht, dann könnten auch andere auf die Idee kommen, eine humanitäre Intervention durchzuführen.

    Meri: Da muß ich Sie eigentlich fragen, mit wem sie gesprochen haben. Aber das möchte ich natürlich nicht tun. Das, was in Kosovo geschieht, ist ja seit den letzten 50 Jahren jährlich irgendwo - ja - in einem viel kleineren Maßstab geschehen, und niemand hat sich dafür interessiert. Also stehen wir wiederum vor einer Tatsache, die wir uns selbst heraufbeschworen haben. Es ist vor allem ein Problem der Prinzipien. Wenn es Prinzipien gibt, wenn man so viel von diesen Prinzipien spricht, dann gibt es von Zeit zu Zeit auch solche dramatischen Punkte, wo man die Prinzipien anwenden muß. Aber das - leider - gefällt ja den Menschen nicht, denn man weiß niemals, ob man sich vielleicht doch Unannehmlichkeiten bereiten muß. Und so hat man eine Menge von Problemen, die von unseren westlichen Prinzipien abhängig sind, einfach verschoben. Jetzt ist es sehr spät, aber niemals zu spät. Das muß ich Ihnen als Politiker sagen: Ich bin ja immer optimistisch und die Geschichte selbst ist optimistisch zu sehen, denn sonst würde man ja nicht von einer Geschichte sprechen. Niemand würde mehr sprechen - oder sei es im Flüsterton nur. Also, es ist spät, aber nicht zu spät. Es wird kosten, aber die Kosten werden nicht zu Unkosten. Es gibt ja ein sehr kleines Europa, und das Phänomen Europa, das lohnt sich zu erhalten.

    DLF: Herr Präsident, Estland ist auf dem Weg in die Europäische Union. Estland möchte auch in die NATO. Nun sagt Moskau ‚Njet', Moskau sagt: Das ist jenseits der roten Linie, das kommt für Rußland nicht in Frage. Nehmen Sie diese Warnungen, diese Drohungen ernst, oder halten Sie das mehr für russische Propaganda?

    Meri: Wiederum zwingen Sie mich, Sie nach den Quellen zu fragen. Aber das werde ich diesmal auch wieder nicht tun. Also Leute, die von Sachen sprechen, die sie überhaupt nichts angehen, die gibt es nicht nur in Rußland, die gibt es ebenfalls in Deutschland und in Großbritannien und in Frankreich und so weiter. Nein, ich bin der Ansicht, daß das nächste Jahrhundert eigentlich das große Jahrhundert für Rußland sein wird, und daß Rußland sich schon längst im Klaren ist, daß die baltischen Staaten der beste Brückenkopf für Westeuropa nach Rußland und von Rußland nach Westeuropa sind. Also werden beide Seiten sich hüten, hier dieses - sagen wir - naturbedingte Geschenk irgendwie ins Wanken zu bringen. Ich bin der Ansicht, daß Rußland sehr realistisch über seine Zukunft denkt. Es ist tatsächlich viel schwerer, realistisch über die nächste Zukunft zu denken, wenn man Wahlen vor der Tür hat usw. Aber daß Rußland sich zu einem modernen Staat hinaufarbeiten will und möchte und daß Rußland eben jetzt enorme Schwierigkeiten hat, die man vielleicht mit Schwierigkeiten, die auch die Vereinigten Staaten von Amerika hatten, als dort Öl zum ersten Mal gepumpt wurde oder als die westlichen goldreichen Gebiete erschlossen wurden, da ging es ja auch nicht immer sehr sauber vor. Das kennen wir, das hat man ja auch nicht vergessen. Also, es gibt in Rußland schwere Zeiten, schwere für die russische Moral. Aber Sie müssen sich das enorme Land irgendwie vorstellen. Man macht in Deutschland immer den Fehler, daß man Moskau mit dem Kreml verwechselt und Rußland mit Moskau. Aber da fängt es erst an.

    DLF: Aus Moskau ist immer wieder Kritik zu hören an der Politik Estlands gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung. Haben sie den Eindruck, daß Moskau versucht, das zu instrumentalisieren - politisch -, möglicherweise diese russischsprachige Bevölkerung in Stellung zu bringen für russische Ziele? Ist die überhaupt instrumentalisierbar?

    Meri: Das sind sehr schöne Worte. Sie wollten wohl fragen, ob es zu einem Krieg kommt, ob sie die russischen Menschen hier auf uns aufhetzt - so eine fünfte Kolonne - sagen wir, mit einem Marschbefehl aufreißt: Nein, das ist ausgeschlossen. Das liegt nicht in den Interessen Rußlands. Da können Sie Gift nehmen.

    DLF: Glauben sie, daß Rußland sich definitiv abgefunden hat mit der Unabhängigkeit der baltischen Republiken?

    Meri: Ja, genau so wie England sich definitiv abgefunden hat mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika.

    DLF: Die Grenzfrage ist ja jetzt gelöst, also der Vertrag von Tartu ist vom Tisch definitiv?

    Meri: Der Vertrag von Tartuwird ja niemals vom Tisch sein, denn Sie dürfen niemals vergessen, daß es überhaupt der erste internationale Vertrag war, auf dem eine Unterschrift des neuen Rußlands stand. Also, wenn Sie diesen Vertrag vom Tisch weisen möchten, möchten Sie zur gleichen Zeit auch Rußland vom Tisch - und ich nehme an - in den Pazifischen Ozean stürzen, was aber nicht Ihr Wunsch ist. Wir lassen diesen doppelten Friedensvertrag vom 2. Februar 1920 beiseite, um uns der Zukunft zu widmen. Und in dieser Hinsicht ist der Vertrag, den Sie zitiert haben, ja ein Vertrag - für uns beide wichtig, nur daß der Vertrag von heute nicht ganz genau den Grenzen des Vertrages von damals entspricht, na und?

    DLF: Damit kann Estland leben - mit diesem Verlust? Es ist ja ein gewisser territorialer Verlust.

    Meri: Ich bin ganz sicher: Mit diesem kleinen Verlust kann Estland leben, vielleicht sogar besser.

    DLF: Herr Präsident, es gibt drei souveräne baltische Republiken: Estland, Lettland und Litauen. Und es gibt eine Diskussion über eine mögliche vierte baltische Republik - Königsberg. Was soll aus Königsberg werden?

    Meri: Eine Frage, die ich Ihnen sehr gern beantworten werde. Das Schicksal Königsbergs liegt in den Händen von Königsberg, nicht in meinen Händen, nicht in den Händen der Esten oder der Letten oder der Litauer. Ich glaube schon, daß die Bewohner von Königsberg sich auch Pläne gemacht haben und daß es vielleicht zu einem großen Bauplatz wird, wo die Russische Föderation und die deutsche Tradition sich gut finden werden. Das hoffe ich sehr. Und damit ist eigentlich alles gesagt, was ich als estnischer Staatspräsident zu diesem Problem zu sagen habe.

    DLF: Herr Präsident, das Jahr 1999 ist das Jahr eines sehr traurigen Jubiläums: 60 Jahre Molotow-Ribbentrop-Pakt. Wie lebendig ist dieser Pakt im Bewußtsein der Menschen hier?

    Meri: Ich glaube, der Pakt ist fast ebenso lebendig wie Auschwitz für die Juden oder Ohama Beach für die Amerikaner. Ich könnte sogar noch weiter gehen und von Verdun sprechen, wenn Sie möchten. Das ist ein Pakt, den man eigentlich nie vergessen darf. Es war im Grunde genommen ja ein Fehlversuch, die Tür nicht zur Zukunft zu öffnen, sondern in die Vergangenheit: Wiederum koloniales Denken heraufzubeschwören, wiederum die Welt zwischen zwei Kolonialmächten zu verteilen. Und deshalb muß man den Pakt nicht vergessen. Und hier spreche ich nicht nur von Estland oder Lettland oder Litauen, auch nicht von Deutschland und der Russischen Föderation. Ich meine, es wird immer in unserer Welt eine Versuchung geben, eine Versuchung, auf eine listige Weise etwas zu erreichen, was erreichbar wäre mit ehrlicher Arbeit. Und dieser Versuchung muß die Menschheit immer wieder widerstehen. Dabei hat sie die Geschichte vor Augen: Den Pakt, die Millionen von Opfern, die man gebraucht hat, um das heutige internationale Recht an den Hauptplatz zu stellen. Ich möchte auch noch hinweisen, daß der Pakt ja beiderseitig emsig vorbereitet wurde, und daß schon 1936 und 37 es eine Anti-Schindler-Liste gab in der Sowjetunion, nämlich von Völkern, die man als Feindesvölker betrachtete. Und unter diesen Feindesvölkern befanden sich Esten und Polen und auch Deutsche. Vielleicht können Sie sich erinnern, vielleicht auch nicht, daß schon 1937 die ersten deutschen Linksgerichteten, die Links-Intellektuellen, oder - sagen wir geradeaus -: die Kommunisten an Hitler ausgeliefert wurden als eine Kostprobe. Und daß Rußland sich alle Mühe gab, Wagner wieder herzubringen - was ja verpönt war. Es gibt so viel Komisches, Tragikomisches müßte man eigentlich sagen, denn für jeden Schritt wurde ja immer mit einem Eimer voll von Blut bezahlt. Das darf man nicht vergessen. Es muß eigentlich nicht eine Quelle des Hasses sein, es muß eine Quelle der Weisheit werden. Das möchte ich Ihnen sagen.

    DLF: Sie haben mal geäußert vor einiger Zeit, wenn Sie richtig zitiert worden sind: Ein neuer Molotow wäre schon da, jetzt warte man noch auf einen neuen Ribbentrop.

    Meri: Ja, nehmen Sie es nicht so buchstäblich. Wenn man von einer Versuchung spricht: Die Versuchung mit der Listigkeit ist immer da. Wenn wir von zwei so grundverschiedenen Staaten sprechen, wie die Russische Föderation oder die Bundesrepublik, dann - statistisch - ist es glaubwürdig, daß ein Molotow hinter jedem - na, sagen wir nicht jedem Baum steckt, aber hinter jedem Kreml steckt. Und Kreml gibt es ja in Rußland eine ganze Menge, nicht nur in Moskau. Daß man in Deutschland eine ebenso große Menge von Ribbentrops hätte, da zweifle ich. Denn im Gegensatz zu Rußland hat ja die Bundesrepublik doch eine Tradition der Demokratie. Und diese Tradition geht weit tiefer zurück als bis zum Ersten Weltkrieg. Das ist der Unterschied. Also Rußland braucht ein bißchen mehr Zeit. Und diese Zeit müßte man Rußland irgendwie gewähren, ohne daß Rußland das als ein Zeichen der Kläglichkeit der westlichen Staaten versteht, ohne daß es die Versuchung Rußlands vergrößert. Man muß Rußland Zeit gewähren, denn Rußland ist ja im Stande, sich eine neue Identität zu verschaffen. Und es gibt immer noch Leute, die davon schwärmen, wie einst Katharina die Zweite - die übrigens eine Deutsche war und keine Russin -, die immer von einem direkten Weg zum Indischen Ozean schwärmte und so weiter. Diese Russen kann man ja nicht aufhängen, das möchten wir nicht. Sie zu ignorieren, wie ein Strauß die Augen zudrücken, das darf man nicht. Man muß ihnen Zeit geben, damit sie sich ganz heiser brüllen und keiner mehr auf sie hört.

    DLF: Herr Präsident, Deutsche und Esten haben jahrhundertelang Seite an Seite in diesem Land gelebt. Wie fern - wie nah ist Deutschland heute für Estland?

    Meri: Ich glaube, Deutschland ist ebenso nah, wie es immer gewesen ist, vielleicht ein Stück näher. Wir hatten ja immer das selbe kontinentale Recht, jetzt nennt man es ein bißchen anders: Das Europarecht. Aber diese Frage müßten Sie eigentlich beantworten: Fühlen Sie sich in Estland gut?

    DLF: Ich fühle mich zuhause.

    Meri: Danke. Damit haben Sie eigentlich die Frage viel besser beantwortet als ich. Ich bin erfreut, daß es gerade auf diese Art und Weise geschehen ist und möchte alle meinen Landsmännern und Landsfrauen sagen: Sie sind immer und wie immer sehr willkommen in Estland.

    DLF: Deutschland befindet sich ja auf dem Weg von der Bonner zur Berliner Republik. Welche Rolle könnte, welche Rolle sollte dieses Deutschland im neuen Europa spielen?

    Meri: Für uns ist die Hauptstadt Deutschlands ja sehr viel nähergerückt, aber eigentlich doch nur geographisch. Man hat auf deutsch etwas, was Mitteleuropa genannt wird, und ich glaube, es war der Schwede Granö, der auf der Dorpater Universität Geographie lehrte; es war der Professor Granö, der sagte: ‚Estland befindet sich in diesem Streifen, wo Mitteleuropa allmählich zu den nordeuropäischen Ländern übergeht'. Also, in diesem Europa kann sich das Europäische nur erhalten, wenn es sich auf eine enorme Diversität stützt, und diese enorme Diversität wird ja immer durch eine Sprache gekennzeichnet. Und Estland mit - fast möchte ich sagen - kläglichen 1 ½ Millionen Menschen muß in Europa ebenso sein, wie ein ‚do' oder ein ‚re' auf einem Klavier, sonst wird man die Hymne Europas nicht spielen können. So einfach ist das eben.

    DLF: Herr Präsident, gestatten Sie eine letzte Frage. Sie werden sehr viel zitiert in Deutschland, und das bekannteste Wort von Ihnen in Deutschland, das mittlerweile aufgegangen ist auch in Buchtiteln, das ist das Wort von der Canossa-Republik. Was haben Sie damit präzise gemeint?

    Meri: Eigentlich einen gewissen Seelenzustand. Man kann die Vergangenheit nicht als ein großes Bündel in die Ewigkeit mit sich schleppen. Man darf nichts vergessen, aber man soll alles ganz christlich vergeben. Ich mag die Komplexe der Vergangenheit nicht, denn das ist eigentlich keine Moral. Das ist eine Art der Selbstquälerei, und nach dieser Selbstquälerei - eine finnische Sauna könnte man ja auch als eine Art Selbstquälerei ansehen: Man muß sich ganz ordentlich mit Fichtenruten durchpeitschen. Und dann fühlt man sich so gut und sonnig, und das Blut durchströmt alles. Das ist nicht, was ich möchte. Ich möchte einen klaren Blick auf die Zukunft und ein Ehrenwort, daß wir wirklich bereit sind, aus der Vergangenheit das Ekelhafte wegzuschmeißen und voller Zuversicht uns der Zukunft zuwenden.