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Merkel

DLF: Sie, Frau Merkel, und Ihr Generalsekretär Polenz sind gut 60 Tage im Amt; der Fraktionsvorsitzende Merz erreicht in dieser Woche die 100 Tage. Bis zu Ihrer Wahl Anfang April standen Sie als Generalsekretärin im Zentrum des Orkans, der über die CDU hinwegfegte. Die Untersuchung des Spendenskandals liegt nun in den Händen des Bundestagsausschusses bzw. bei der Justiz, und die neue Vorsitzende, so scheint es, ist ein bisschen abgetaucht. Die CDU, so haben Sie vor Ihrer Wahl gesagt, darf bis 2002 nicht mehr viel falsch machen. Wer gar nichts macht, der macht ja wohl auch nichts falsch. Eine erfolgreiche Strategie für die nächste Bundestagswahl kann aber so kaum aussehen?

Michael Groth |
    Merkel: Also, erstens bin ich froh, nicht jeden Abend mit einer Hiobsbotschaft oder der Kommentierung einer Hiobsbotschaft in den Medien zu sein. Zweitens ist es - glaube ich - nach einer solchen Zäsur und Krise auch ganz wichtig, dass wir erst einmal uns intern mit Plänen befassen: Wie wollen wir die nächsten Monate gestalten? - und nach dem Motto verfahren - auch an manchen Stellen: ‚Erst denken - dann handeln'. Ich persönlich glaube, dass wir in einer Serie von Klausurtagungen, von Besprechungen im CDU-Präsidium, im Bundesvorstand und von Absprachen mit der CSU jetzt einen ganz wichtigen Weg gefunden haben, die Sachprobleme, die auf uns warten, auch zu diskutieren - und zwar gemeinsam und mit einem ordentlichen Konzept zu diskutieren.

    DLF: Riester hat in dieser Woche sein Konzept vorgelegt. Für den 13. Juni hat der Bundeskanzler zum Rentengipfel geladen. Werden Sie hingehen?

    Merkel: Wir haben Herrn Riester gebeten, einen Vorschlag zu machen - oder aufgefordert, besser gesagt, denn er war sehr lange säumig. Er hat jetzt einen Teil des Vorschlages vorgelegt in der vergangenen Woche. Darüber wird am 8. Juni noch mal unter den Fachleuten gesprochen werden. Die CDU hat es geschafft, die Bundesregierung darauf festzulegen - oder die Sozialdemokraten und die Grünen als Parteien darauf festzulegen, sich für eine Rentenpolitik der nächsten 30 Jahre zu wappnen und auch dafür Konzepte zu verfassen. Wir waren ungeduldig, weil die Regierung lange keine Antwort gegeben hat. Und wir finden, dass die Antwort jetzt lückenhaft ist und an prinzipiellen Stellen nicht den Herausforderungen der Zukunft entspricht. Dennoch gehe ich davon aus, dass - gerade auch im Gespräch mit dem Bundeskanzler - dann bestimmte Grundfragen diskutiert werden können, die für mich sind: Wollen wir eine Erhöhung der Lohnnebenkosten, also wollen wir zukünftigen Generationen höhere Beiträge im Umlageverfahren zumuten? Ich halte persönlich nichts davon. Das muss die Bundesregierung klipp und klar beantworten. Zweitens: Wollen wir nicht endlich auch im Rentensystem sehr viel klarer machen, dass das Erziehen von Kindern - das Erziehen, wenn man es etwas technisch sagt, von Humankapital in unserer Gesellschaft - auch in einem höheren Niveau der Rente zum Schluss enden muss; das ist nämlich unsere Familienkomponente. In diesem Sinne muss die Bundesregierung einige Fragen beantworten. Ich finde, dass Herr Riester sie durch Nichtbeantworten oder durch höhere Beiträge falsch beantwortet hat. Aber darüber wird zu sprechen sein, und ich gehe davon aus, dass das Gespräch beim Bundeskanzler stattfindet.

    DLF: Bei der Rente muss die Union nicht zustimmen, anders bei der Steuergesetzgebung. Hier können die Stimmen der Union im Bundesrat eine Reform verhindern. Haben Sie Hoffnung auf eine Einigung im Vermittlungsausschuss?

    Merkel: Bei der Rente geht es ja darum, über einen langen Zeitraum möglichst Sicherheit für alle Generationen, für die Jungen und die Älteren, zu bekommen. Deshalb wollen wir uns an diesen Gesprächen weiter konstruktiv beteiligen. Aber es müssen ehrliche und machbare Antworten sein. Bei der Steuerreform ist es so, dass wir seit Jahren in Deutschland eine Steuerreform brauchen. Wir wissen das und gehen deshalb auch mit dem Ziel in die Verhandlungen, eine Lösung zu finden - allerdings auch nicht um den Preis, dass anschließend das Steuersystem komplizierter geworden ist und ungerechter geworden ist. Und die Crux dieser Steuerreform von Herrn Eichel besteht darin, dass sie schon eine Entlastung auf der einen Seite verspricht - das ist gut -, aber auf der anderen Seite unterschiedliche Rechtsformen in den Unternehmen nicht gleichmäßig und gleichberechtigt behandelt. Das halten wir für falsch, und darüber muss gesprochen werden in der Debatte. Und die wird die Union mit aller Entschiedenheit führen.

    DLF: Die Benzinpreise steigen zur Zeit kräftig. Aus der Union wird ein Aussetzen der Ökosteuer gefordert. Macht es Sinn, wenn die Politik kurzatmig auf externe Fakten reagiert, also in diesem Fall auf die Preispolitik der Konzerne und den Wert des Dollar?

    Merkel: Wir haben gesagt, dass wir mit Sicherheit diese Ökosteuer nicht fortsetzen werden, wenn die CDU wieder die Bundesregierung übernimmt. Es zeigt sich jetzt, mit welchen Schwächen diese Ökosteuer agieren muss. Sie ist fest verplant in den Einnahmen des Bundesfinanzministers für die Finanzierung der Rente. Insofern sitzt der Finanzminister in einer Zwickmühle. Und wenn ich jetzt Vorschläge aus der SPD höre, man wolle nun Benzingutscheine einführen, weil man sieht, welche sozialen Probleme man gerade auch im ländlichen Bereich heraufbeschwört, dann muss ich sagen, war eben die vielstufige Einführung Ökosteuer ein Problem. Wir haben immer gesagt, wir wollen das europäisch lösen. Der Bundeskanzler hat das lange auch gesagt. Er ist umgefallen und hat dem grünen ideologischen Druck nachgegeben, und das war der Fehler. Und jetzt muss die Bundesregierung sehen, wie sie aus dieser Patsche herauskommt. Jeder wusste, dass es gravierende Preisschwankungen geben könnte, und dann darf ich eben die Belastung über eine Steuer nicht so hoch machen. Und Schröder selbst hat ja im Wahlkampf gesagt, ‚bei sechs Pfennig ist das ‚Ende der Fahnenstange' erreicht'. Es werden am Ende der Legislaturperiode 35 sein - und damit hat er eines seiner Wahlversprechen eben gebrochen.

    DLF: Thema ‚Kernkraft': Im Sommer könnte die Bundesregierung ein Ausstiegsgesetz einbringen, wenn eine Einigung mit den Versorgungsunternehmen nicht vorher zustande kommt. CDU und CSU haben angekündigt, dies ebenfalls über den Bundesrat zu verhindern. Bleibt es bei dieser harten Linie?

    Merkel: CDU und CSU halten den Ausstieg aus der Kernenergie für falsch, weil es ja nicht nur um die Laufzeit von Kernkraftwerken geht, die wir heute haben, sondern weil es auch um technische Weiterentwicklungen geht. Wir haben in Russland noch 15 Kernkraftwerke vom Typ Tschernobyl, und ich wünsche mir eine Bundesrepublik Deutschland, die noch ein paar Ingenieure hat, die in der Lage sind, im Zweifelsfalle dort für die Verbesserung technischer Möglichkeiten einzutreten. Wir übergeben hier ein ganzes Feld anderen Ländern auf der Welt. Das halte ich für falsch. Zweitens glaube ich, dass die Wirtschaft, die ja nicht den Ausstieg aus der Kernenergie will, ihn aber notgedrungen verhandelt mit der Bundesregierung, weil sie sonst keine sicheren Bedingungen zum Betrieb ihrer Kernkraftwerke bekommt, dass die Wirtschaft natürlich ihre Interessen hat, dass das Interesse der Politik aber natürlich auch darin liegen muss, die Sicherheitsstandards - zum Beispiel in der Endlagerung - zu verbessern. Und die Bundesregierung macht das glatte Gegenteil. Sie will die Erkundung des Endlagers Gorleben beenden, sie will die Endlagervoraussetzungen an Zwischenlager binden. Das heißt, man kann heute Kernkraftwerke nur betreiben, wenn man einen Fortschritt bei der Erkundung von Endlagern hat. Das soll wegfallen, und dafür soll einfach gesagt werden: Zwischenlager reichen auch. Sie will diese Zwischenlager an die Kernkraftwerke legen und zum schlimmsten Fall auch sagen: ‚Ein beladener Castorbehälter auf einem Kernkraftwerksgelände ist auch schon eine Zwischenlagerung'. Und damit werden wichtige sicherheits- und umweltstechnische Gesichtspunkte aufgegeben, und das halte ich als frühere Umweltministerin für total falsch.

    DLF: Also, noch mal nachgefragt: Über den Bundesrat glauben Sie, dies verhindern zu können?

    Merkel: Die Bundesregierung wird alles versuchen, möglichst ohne Bundesrat dies durchzupeitschen. Das halten wir für falsch, denn es gibt einen Bund-Länder-Entsorgungskonsens, und die Ministerpräsidenten der Länder werden vom Bundeskanzler richtiger weise einfordern, dass er nicht einseitig über den Bund diesen Entsorgungskonsens aus dem Jahre 1979 aufkündigen darf, sondern dass er sich dafür einsetzen muss, dies mit den Ländern gemeinsam zu besprechen. Und wir werden erstens den Ausstieg aus der Kernenergie rückgängig machen, wenn wir wieder an der Regierung sind, und zweitens alle Möglichkeiten nutzen, um die Verantwortung der Länder gegenüber dem Bund hier deutlich zu machen.

    DLF: Ihr Vorgänger an der Parteispitze, Schäuble, hat die CDU in einem Zeitungsinterview vor einer Blockadepolitik im Bundesrat gewarnt. Er verwies auf den Bundestag als Forum der Auseinandersetzungen mit den politischen Gegnern. Nehmen Sie solche Warnungen ernst?

    Merkel: Ich habe das gar nicht als Warnung verstanden, sondern ich habe es als Erklärung der Rolle der Opposition verstanden. Opposition heißt Opposition erst einmal auf Bundesebene. Dass wir nicht die für Deutschland ja wirklich schädliche Blockadepolitik der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der letzten Jahre wiederholen werden, das war immer klar. Wir werden unsere Handschrift den Gesetzen, die dort zu entscheiden sind, aufdrücken. Wir werden konstruktiv die Mitsprache suchen. Wir werden auch nicht allem zustimmen, wie man zum Beispiel auch an der Gesundheitsreform gesehen hat. Aber wir werden sagen: Deutschland muss vorankommen, Deutschland muss die Chancen, die sich aus dem weltweiten Wirtschaftswachstum ergeben, möglichst gut nutzen. Und deshalb wird es eine konstruktive Zusammenarbeit geben. Und insofern gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheit mit Wolfgang Schäuble.

    DLF: Diese - wie Sie es nennen - Erklärung kann man vielleicht auch ein bisschen als Kritik an seinem Nachfolger an der Fraktionsspitze, Merz, verstehen. Die Begeisterung über den Neuen hält sich ja in der Fraktion - um es zurückhaltend auszudrücken - in Grenzen.

    Merkel: Das glaube ich nun auch nicht. Friedrich Merz und ich und Edmund Stoiber sind uns in den gesamten grundsätzlichen Weichenstellungen, die wir im Augenblick vorzunehmen haben, vollkommen einig. Die Aufgabe eines Oppositionsführers im Deutschen Bundestag, wie es Friedrich Merz ist, ist natürlich auch, die Oppositionsrolle, so wie sie Wolfgang Schäuble auf der Bundesebene besprochen hat, in besonders klarer und deutlicher Weise auszusprechen. Das macht Friedrich Merz. Ich muss sagen: Wir haben eine große Zäsur an der Spitze der CDU gehabt durch jüngere Menschen wie Friedrich Merz und mich. Dass wir dann auch unseren eigenen Stil in diesen Debatten führen, dass sicherlich auch Lernvorgänge notwendig sind und der Schwung der Routine, den Erfahrenere und Ältere haben, nicht in jedem Detail sofort vorhanden ist, das gehört doch zu der Sache dazu. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Stimmung in der Fraktion schlecht ist, und ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Stimmung in der Partei schlecht ist.

    DLF: Als Parteivorsitzende fehlt Ihnen ja ein institutionelles Forum, auf dem Sie sich als Gegenspielerin des SPD-Vorsitzenden und Kanzlers präsentieren können. Sie sind aber auch Bundestagsabgeordnete. Wollen Sie die Fraktion, wollen Sie den Bundestag in Zukunft als ein solches Forum nutzen?

    Merkel: Für mich gibt es ganz verschiedene Möglichkeiten. Wir haben die Parteiveranstaltungen, und ich bin vollkommen einig mit Friedrich Merz: Wenn ich im Deutschen Bundestag glaube, sprechen zu müssen oder zu wollen, und das auch aus der Sicht der CDU sinnvoll ist, dann werde ich das tun. Da gibt es überhaupt keine Kämpfe oder Fragezeichen. Aber wichtig ist für mich natürlich jetzt erst einmal auch die Partei, die ja - anders als die Bundestagsfraktion - Bund, Europäische Parlamentarier, Länder und Kommunen einen muss und auch die gesamtpolitische Richtung herauskristallisieren muss mit den ganz unterschiedlichen Interessen auch der einzelnen Ebenen, diese Schlachtordnung für die Bundestagswahl 2002 und für die Zeit dazwischen jetzt aufzustellen. Und insofern bin ich auch sehr, sehr gut beschäftigt. Ich habe im übrigen auch nicht den Eindruck, dass ich kein Forum habe, sondern als Parteivorsitzende schon zu sehr, sehr vielen Dingen auch befragt werde.

    DLF: Zurück zu den Sachthemen, Frau Merkel. Die Bundesregierung hat jetzt die sogenannte ‚Greencard' auf den Verordnungsweg gebracht. Sie sprechen von ‚Flickschusterei' und fordern ein Gesamtkonzept. Wie soll das aussehen?

    Merkel: Ich finde, dass es Flickschusterei ist, oder aber - etwas vornehmer gesprochen - eine ‚Insellösung' für eine einzelne Berufsgruppe, mit der wir mit Sicherheit den Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht werden. Wir brauchen eine Antwort auf die Zuwanderung von Menschen, die uns brauchen. Das heißt, Asyl- und Bürgerkriegsflüchtlinge wollen wir weiter aufnehmen natürlich. Die Frage ist, ob wir dies mit dem jetzigen Asylrecht schon europamäßig harmonisiert auch können. Ich glaube, die europäische Diskussion muss geführt werden - über die Aufgabenverteilung in diesem Zusammenhang. Wir brauchen für Menschen, die wir brauchen, in Zukunft sicherlich Regelungen, wo wir uns fragen: Wen brauchen wir, wer entscheidet darüber, wen wir brauchen, und wie verhält sich das mit der Gesamtzahl von Menschen, die zu uns kommen und die wir natürlich, so wie es der Bundespräsident es auch gesagt hat, in unser Land integrieren wollen? Und ich plädiere dafür, diese Diskussion im Zusammenhang - und nicht Berufsgruppe für Berufsgruppe zu führen. Und das ist genau das, was wir vom Bundeskanzler fordern. Und ich bin mir ganz sicher, wenn ich die Rede des Bundespräsidenten gehört habe, dass wir hierfür einen breiten Konsens bekommen werden, weil es nicht sein kann, dass jetzt nur noch solche Einzellösungen ins Auge gefasst werden. Ich denke, dass das nur im gesetzlichen Rahmen gemacht werden kann. Ob Sie das ‚Zuwanderungs-Steuerungsgesetz', ob Sie das ‚Einwanderungs-Begrenzungsgesetz', ob Sie das ‚Einwanderungsgesetz' nennen, das ist egal. Es muss rechtlich geregelt werden, wie wir diese Menschen, die wir brauchen aus eigener Interessenlage, aufnehmen. Und gleichzeitig plädiere ich dafür, auch unsere asylrechtlichen Bestimmungen im europäischen Maßstab noch einmal anzuschauen, denn ich weiß nicht, ob es human ist, wenn unsere Asylverfahren zum Teil vier bis fünf Jahre dauern, Menschen nicht wissen, ob sie hier bleiben können oder nicht, und von 100 Asylbewerbern zum Schluss endlich sechs anerkannt werden und 94 wieder das Land verlassen müssen. Und darüber muss auch geredet werden. Das hat etwas dann mit der Rechtswegegarantie, der Länge der Rechtswege, zu tun. Ich plädiere dafür, alle diese Dinge miteinander zu diskutieren. Und wir haben ja in Deutschland eine hoch interessante Veränderung der Diskussionslage: Alle sprechen inzwischen von dem, was die CDU schon seit langem gesagt hat. Zuwanderung, Einwanderung, Aufnahme von Menschen, die uns brauchen, heißt auch, die Notwendigkeit, sie in unser Land, in unsere Kultur zu integrieren. Und ich bin unglaublich froh, dass auch der Bundespräsident jetzt gesagt hat: Wir brauchen ein Integrationsgesetz und wir können uns nicht mit der Chiffre von multikultureller Gesellschaft über die Diskussion retten. Und das ist der eigentliche Wechsel, und den hat die CDU ganz maßgeblich mit befördert, auch mit dem Integrationskonzept von Jürgen Rüttgers, das wir Anfang 1999 vorgestellt haben.

    DLF: Im öffentlichen Dienst ist die Schlichtung gescheitert. Es drohen Streiks. Einer der wichtigsten Punkte für die Gewerkschaft ist die Lohnangleichung zwischen alten und neuen Bundesländern. Derzeit erhält der öffentliche Dienst in Ostdeutschland 86,5 Prozent des Westlohns; der Schlichterspruch sieht bis 2002 eine Anhebung auf 90 Prozent vor. Können Sie als Ostdeutsche die Entrüstung darüber verstehen?

    Merkel: Ich kann verstehen, dass die Menschen eine Perspektive wollen, dass aber diese Perspektive auf der anderen Seite nur zu realisieren ist, wenn auch in den alten Bundesländern ein gewisser Verzicht oder eine gewisse langsamere Anhebung da ist. Die Menschen in den neuen Bundesländern wissen, dass das alles nicht über Nacht geht. Aber wenn sie immer wieder erleben, dass letztlich doch für die alten Bundesländer schon so viel Erhöhung da ist, dass für den Abbau des Abstandes zu wenig Kraft bleibt, dann enttäuscht sie das. Und diese Enttäuschung kann ich verstehen.

    DLF: Hätten Sie, wenn man Sie gefragt hätte, für eine Annahme des Schlichterspruches plädiert?

    Merkel: Das ist schwer zu sagen. Ich finde die Regelung der Bundesregierung, die Beamten schlechter zu behandeln als die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, außerordentlich problematisch, dass also Polizisten, die verbeamtet sind, schlechter dastehen als die im öffentlichen Dienst. Und dass der öffentliche Dienst jetzt auch den Beamten sozusagen so weit wegläuft in der Höhe des Gehaltes, das ist aus meiner Sicht aus Gerechtigkeitspunkten sehr schwer zu beantworten. Als Ostdeutsche - muss ich sagen - hätte ich auch erwartet, dass die Gesamtanhebung geringer ausfällt, so dass vielleicht etwas mehr Spielraum für eine Angleichung da gewesen wäre.

    DLF: Sie werden heute abend mit der CSU-Spitze unter anderem über die Europapolitik sprechen. Sieht der EU-Grundwertekatalog, über den zur Zeit diskutiert wird, zu viele soziale Recht vor, wie die CSU dies meint?

    Merkel: Wir haben ein Verfassungsverständnis - auch aus der Geschichte des Deutschen Grundgesetzes her -, das davon ausgeht, dass wir nicht zu viele unverbindliche und mit keiner Kompetenz dann verbundenen Grundrechte formulieren sollten. Und insofern ist unser Bestreben in diesem Grundrechtekatalog, den wir ja begrüßen und zustimmen, dass Dinge nur dort vereinbart werden sollten, die dann auch eine gewisse rechtliche Folge haben, und dass es kein Grundrechtekatalog der Lyrik sein sollte. Was uns wichtig ist, ist, dass wir insgesamt Grundrechte und Kompetenzverteilung - also Aufgabenverteilung, wer macht was in Europa -, dass wir dies dann in einem Verfassungsvertrag zusammenbinden und daraus dann auch klare Gegebenheiten haben - welche Wertegemeinschaft haben wir, und wer macht was in dieser Wertegemeinschaft.

    DLF: Das historische Erbe als Europapartei ist ja für die CDU auch mit dem Namen Helmut Kohl verbunden. Andererseits scheint es so, dass sich die neue CDU - so nenne ich sie mal - vom Altkanzler wirklich verabschiedet hat. Ist das eine Art Spagat, den Sie da führen?

    Merkel: Helmut Kohl ist und bleibt der Architekt der europäischen Einigung oder einer der großen Mitarchitekten. Wir sind aber jetzt an einer neuen Stufe angelangt. Helmut Kohl und Francoise Mitterand haben immer wieder davon gesprochen, dass sie die europäische Einigung irreversibel machen wollen. Das ist gelungen - spätestens mit dem Binnenmarkt und der Europäischen Währungsunion. Wir haben jetzt die Aufgabe, dieses Haus auszugestalten. Und ich warne davor, jede Diskussion darüber, zum Beispiel wer für was zuständig ist, als eine zu verstehen, die gegen Europa gerichtet ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben in Deutschland auch seit 1949 ein Grundgesetz und streiten trotzdem - und auch zwischen den Parteien - ganz immens darüber, wer nun welche Kompetenzen haben soll, wo nun der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz verankert ist, wer welche Steuern einnimmt, wie viel konkurrierende Gesetzgebung es gibt. Und nichts anderes geschieht doch jetzt in Europa - was darüber im Einzelfall ganz klar gesprochen wird, das meine ich im übrigen auch, dass wir eine Art innenpolitische Diskussion innerhalb Europas bekommen. Und die wird auch parteipolitisch geprägt sein, weil die CDU immer eine Partei sein wird, die sagt: Verlagert möglichst viel Zuständigkeiten und Entscheidungsmöglichkeiten - wenn es geht - auf die untere Ebene, damit wir den Wettbewerb der Regionen bekommen. Dies ist eine zutiefst europäische Debatte und eine pro-europäische Debatte, und wer sie unter den Tisch kehrt, macht Europa nicht mehr als ein Europa der Bürger möglich. Und das wollen wir erhalten und deshalb ringen wir um diese Lösung.

    DLF: Ich möchte noch einmal zurückkommen auf die Erneuerung der Partei. Die programmatischen Defizite sollen, wenn ich das richtig verstehe, unter Beteiligung möglichst vieler Parteimitglieder sowie externer Fachleute abgebaut werden. Wie soll das geschehen?

    Merkel: Die Diskussion soll auch über Regionalkonferenzen und auch über die Debatte in den Kreisverbänden dann jeweils breit begleitet werden, das heißt, sie soll nicht irgendwo oben entschieden werden, sondern wir werden bestimmte Fragen, wie zum Beispiel die Frage der Wehrpflicht, wie zum Beispiel die Frage der Architektur Europas, auch in die Kreisverbände hineintragen.

    DLF: Wenn Sie auf die Überzeugungskraft Ihrer Mitglieder zählen, dann auch - so sagt Polenz - wegen der finanziellen Übermacht der SPD. Angesichts der Sanktionen infolge des Spendenskandals - 41 Millionen bislang, weitere können folgen - ist das ja auch verständlich. Der Essener Parteitag hat den Vorstand ermächtigt, gegen Personen, Gebietsverbände und Sonderorganisationen der CDU Ansprüche geltend zu machen, so diese der Gesamtpartei Schaden zugefügt haben. Müssen Kohl und der hessische Landesverband fürchten, belangt zu werden?

    Merkel: Wir haben seit Essen darüber noch nicht wieder gesprochen. Ich glaube, es ist jetzt auch im Zuge der ja noch gar nicht festgelegten Sanktionen des Bundestagspräsidenten auch schwierig, dies bereits zu tun. Wir werden im Zusammenhang dann, wenn die Sanktionen festgelegt sind durch Herrn Thierse, auf dieses Thema natürlich zurückkommen. Wir müssen auch noch einmal schauen, ob Staatsanwaltschaften und Untersuchungsausschüsse jetzt neue Ergebnisse zutage fördern. Bis jetzt ist das ja überhaupt noch nicht der Fall gewesen. Darüber bin ich auch sehr zufrieden. Und dann warten wir ab, denn es ist schwer, die Forderungen schon zu formulieren, bevor man die Sanktionen des Bundestagspräsidenten überhaupt kennt.

    DLF: Wahlen werden von Personen gewonnen. Zur Zeit gibt es in der Union drei Personen, denen man eine Kanzlerkandidatur 2002 zutraut: Ihnen, Frau Merkel, Herrn Merz und natürlich den CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber. Nun gibt es Spekulationen, dies könne auch unter Beteiligung der Basis geschehen. Merz hat so etwas angedeutet, wobei offen ist, ob es eine Urwahl sein kann, eine Mitgliederbefragung oder Regionalkonferenzen, wie sie Ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden vorausgingen. Können Sie sich so etwas auch in der Kanzlerkandidatenfrage vorstellen?

    Merkel: Ich möchte über die Frage, wie wir das Anfang 2002 bestimmen, heute nicht sprechen. Wir haben das Problem, dass die CDU in die Lage kommen muss, wieder ernsthaft als stärkste Partei im Wettstreit mit der SPD von der Bevölkerung wahrgenommen zu werden. Diese Frage haben wir mit den genannten und anderen Personen gemeinsam zu lösen. Mir ist überhaupt nicht bange, wenn wir eine richtige gute Aussicht haben, Spitzenplatz - Platz 1 - im Parteienwettstreit einzunehmen, dass wir uns dann auch darüber verständigen, wie die jeweiligen Verfahren stattfinden. Meine Sorgen liegen jetzt in den nächsten 10 Monaten. Ich möchte dann Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gerne gewinnen und sehr gut abschneiden dort. Und dann schauen wir weiter.

    DLF: Also, bis 2002 zum Verfahren kein Urteil der Parteivorsitzenden?

    Merkel: Von mir ist in den nächsten Monaten dazu nichts zu hören.

    DLF: Inhalte und Personen sind eine Voraussetzung für den Erfolg - strategische Partner eine andere. Seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen fühlt sich die F.D.P. wieder stark - so stark, dass sie sich mehr oder weniger deutlich auch im Bund den Sozialdemokraten andient. Nun scheint der Wechsel zwar, wie es aussieht, in Düsseldorf nicht zu klappen, Schröder hat aber - im Gegensatz zu Ihnen - zwei mögliche Partner: Die Grünen und die F.D.P. Sehen Sie einen Weg aus dieser Klemme?

    Merkel: Mein Weg aus dieser Klemme heißt: Die CDU findet einen Partner, wenn sie stärkste Partei ist. Die Situation in Düsseldorf hat doch ganz klar gezeigt, dass Herr Möllemann nicht unbedingt mit der SPD zusammenarbeiten wollte, sondern dass Herr Möllemann in die Regierung wollte und dass dafür die Stärke der SPD ihm die Möglichkeit gegeben hat. CDU und F.D.P. hätten keine Mehrheit der Mandate erreicht. Und deshalb ist unsere Kernaufgabe die, im Rennen um den Platz Nummer eins den Platz Nummer eins einnehmen zu können und auch einzunehmen. Die F.D.P. wird den Wettbewerb um den Platz Nummer drei mit den Grünen ausfechten. Und da kann ich ihr nur wünschen, dass sie stark wird. Und dann wird es auch Wege und Möglichkeiten der Kooperation geben. Wir wollen bündnisfähig bleiben, das ist gar keine Frage. Aber bündnisfähig heißt vor allen Dingen, auch erst einmal stark sein - als eigene Partei.

    DLF: Es bleibt aber die Tatsache, dass Schröder zwei Optionen hat und Sie nur eine. Können Sie sich auch vorstellen, evtl. einmal mit den Grünen etwas zu versuchen?

    Merkel: Diese Diskussion ist im Augenblick nicht zu führen. Also, ich kann sie mit einem ‚nein' beantworten, weil die Grünen sich gerade in einer unglaublichen Identitätskrise befinden, aus der sie selbst herauskommen müssen. Und deshalb kommen sie für Koalitionsdebatten für uns im Augenblick nicht in Frage.