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Merkel

Detjen: Frau Merkel, Bundeskanzler Schröder und Arbeitsminister Riester haben Ende der zurückliegenden Woche ihre Pläne für die Reform der Bundesanstalt für Arbeit vorgestellt. Es zeigt sich ja, dass es doch nicht nur, so wie man befürchtet hatte, darum geht, den Kopf an der Spitze auszutauschen, sondern auch um strukturelle Reformen.

Stephan Detjen |
    Merkel: Der Bundeskanzler hat in der Tat einige interessante Vorschläge gemacht, die im übrigen sehr stark mit dem übereinstimmen, was wir zum Teil auch vorgeschlagen haben. Das eigentliche Schwierige an der Sache ist, dass wir schon oft in dieser Legislaturperiode erlebt haben, dass Ankündigungen gemacht wurden, Erwartungen geweckt wurden, und dass dann das Resultat eben doch nicht eingetreten ist. Es sind 3,5 Millionen Arbeitslose versprochen worden, und es werden um die 4 Millionen sein; es sind heute 4,3. Der Bundeskanzler hat die Sache des Aufbaus Ost zur Chefsache gemacht, und wir liegen bei 18 Prozent Arbeitslosigkeit und einer sehr schlechten Stimmung dort. Mein Zweifel setzt eben da an, dass diese Bundesregierung es einfach in sehr, sehr vielen Fällen nicht gekonnt hat, die notwendigen Reformen zu machen und dass ich deshalb auch nicht glaube, dass es diesmal gelingt. Man hat Ankündigungen gemacht, aber die Taten, die haben in vielen Fällen gefehlt.

    Detjen: Aber das verstehe ich richtig: Auch konkret, was die Bundesanstalt für Arbeit, was die Arbeitsmarktpolitik angeht, die Ziele, die der Bundeskanzler erklärt hat, unterstützen Sie, finden Sie richtig?

    Merkel: Nun, es geht ja in der Politik nicht um Ziele. Natürlich finde ich es richtig, dass der Bundeskanzler versuchen will, schneller zu vermitteln. Das ist ja nun auch das mindeste, was man aus einer Fehlentwicklung - wie er es selbst genannt hat - machen muss. Aber man kann sich eben nicht von Fehlentwicklung zu Fehlentwicklung hangeln und immer nur dann handeln und zwischendurch die ruhige Hand markieren, sondern man muss eben beizeiten zur Tat schreiten. Und wenn der Bundeskanzler zum Beispiel heute etwas sagt, was wir genau so fordern, die Arbeitslosen- und die Sozialhilfe zusammenzulegen, dann besteht der Unterschied darin, dass der Bundeskanzler jetzt dreieinhalb Jahre Zeit hatte, es zu tun, aber wir eben im Augenblick in der Opposition sind und es am 22. September tun werden. Und Schröder sagt ganz einfach: 'Ich mache das auch nächste Legislaturperiode', aber das ist einfach zu spät.

    Detjen: Aber wenn man die konkreten Maßnahmen anschaut - ich denke etwa an eines der letzten 'Interviews der Woche', die wir mit Ihnen im Deutschlandfunk geführt haben vor einem Jahr -, da haben Sie das Modell 'Kombilohn' vorgeschlagen. Inzwischen soll auch das in die Tat umgesetzt werden. Aber wir haben doch auch gelernt: Mehr als 30- bis 50.000 Arbeitsplätze lassen sich damit auch nicht schaffen. Wie groß sind denn die Spielräume überhaupt?

    Merkel: Der Kombilohn kann natürlich nur ein Element sein. Auch hier hat die Bundesregierung ja ewig gewartet, ehe sie das von einem Modellland oder von zwei Modellländern ausgeweitet hat auf das gesamte Bundesgebiet. Wir brauchen ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Wir brauchen auf der einen Seite für die, die Sozialhilfebezieher sind, vernünftige Möglichkeiten, etwas dazu zu verdienen. Wir brauchen aber vor allen Dingen wieder die Sicherheit, dass die, die arbeiten, auch immer mehr haben als die, die nicht arbeiten. Und das gilt vor allen Dingen für Familien mit Kindern, wo ein Elternteil in einer gering bezahlten Beschäftigung ist; deshalb haben wir ein Familiengeld vorgeschlagen. Dann muss man aufpassen, dass man den gesamten Niedriglohnbereich vernünftig in Gang bringt. Da sind wir der Meinung, dass die 630-Mark-Jobs von früher in Form von 400-Euro-Jobs wieder eingeführt werden sollen - unbürokratisch, und dass wir Arbeitsplätze dadurch entstehen lassen können, dass wir von 400 bis 800 Euro langsam erst die Lohnkosten ansteigen lassen für den Arbeitnehmer, so dass sich daraus wirklich ein Anreiz ergibt, Beschäftigung aufzunehmen. Und so ist der Kombilohn selbstverständlich nur eine Facette. Und was wir brauchen, ist ein Wettbewerb bei der Arbeitsvermittlung. Die Sozialdemokraten haben bis zum heutigen Tag private Vermittlung im Grunde immer geistig abgelehnt. Jetzt endlich lernen sie aus dem schrecklichen Ereignis, aber sie haben Zeit verschenkt, das ist doch das eigentlich Schlimme. Und ich vermisse bis heute ein Gesamtkonzept vom Bundeskanzler - vom Kombilohn bis hin zum Niedriglohnbereich.

    Detjen: Wenn ich da noch einmal bleiben darf - beim Stichwort 'private Arbeitsvermittler'. Was können die überhaupt leisten? Wir haben ja letzte Woche im Falle der BSE-Tests auch über private Laboratorien reden müssen - über Privatisierung. Da zeigt sich doch, wie problematisch das auch sein kann, dass Privatisierung auch kein Allheilmittel jedenfalls ist.

    Merkel: Ja, es ist kein Allheilmittel, weil überall, wo Menschen arbeiten, auch Fehler gemacht werden. Aber diese Woche sprechen wir halt nicht über private Labors, sondern über eine öffentliche Bundesanstalt. Das heißt, Sie merken, dass sowohl im öffentlichen Bereich als auch im privaten Bereich immer Fehler passieren können. Auch der öffentliche Dienst ist vor Fehlern nicht gefeit, das haben wir ja gerade ausführlich am Beispiel der Bundesanstalt für Arbeit diskutiert. Und insofern geht es immer darum, auf der einen Seite Transparenz zu haben, Durchsichtigkeit, Überschaubarkeit, und es geht darum, Kontrollen zu haben. Und die Crux der Bundesanstalt für Arbeit zum Beispiel besteht ja darin, dass die Bundesanstalt zum Teil gegenläufige Dinge gemacht hat. Sie hat einerseits illegale Beschäftigung kontrolliert, also ist bestimmten Betrieben auch mal auf die Füße getreten, um es etwas lax zu sagen - und nachmittags sollte man wieder Lehrlinge bei den gleichen Betrieben unterbringen. Und deshalb sagen wir: Die Kontrolle der illegalen Beschäftigung ist nicht das Kerngeschäft der Bundesanstalt für Arbeit.

    Detjen: Frau Merkel, Bundeskanzler Schröder hat ja zu Beginn seiner Regierungstätigkeit gesagt, er wolle sich allein an den Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt messen lassen. Schröder mag das heute bereuen, aber würden Sie denn heute einen ähnlichen Maßstab für den Erfolg einer möglichen unionsgeführten Bundesregierung ausstellen?

    Merkel: Ich finde, dass es ein Fehler war, so großmarkig Dinge anzukündigen und dann nicht zu handeln. Und ich glaube schon, dass wir in Deutschland die Arbeitslosigkeit erheblich senken werden; ich werde mich jetzt nicht wieder auf den nächsten Zahlentreffer hier kaprizieren. Aber ich glaube, dass der Bundeskanzler und seine Bundesregierung einfach bestimmte Veränderungen nicht entschlossen angepackt haben. Sie haben . . .

    Detjen: . . . wenn ich hier noch einmal nachhaken darf: Sie würden also auch sagen: Wenn wir die Regierung übernehmen und uns nachhaltige Erfolge auf dem Arbeitsmarkt nicht gelingen, dann haben auch wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden. Der Satz gilt auch für Sie?

    Merkel: Ich gehöre nicht zu denen, die so großkotzige Ankündigungen machen, sondern ich gehöre zu denen, die handeln. Und dann stellt sich der Erfolg mit Sicherheit ein, und das halte ich auch für den richtigeren Weg.

    Detjen: Sie sagen, Sie wollen sich nicht auf Zahlen festlegen. Aber kann der Wähler in der jetzigen Situation vor einer nahenden Bundestagswahl nicht doch erwarten, dass auch die Opposition sich festlegt - dass sie konkret sagt, wieviele Arbeitslose denn im Fall eines Regierungswechsels erwarten können, wieder in Lohn und Brot zu kommen?

    Merkel: Nein, ich finde, dass der Wähler schon Konkretes erwarten kann, und zwar kann der Wähler erwarten, dass die Opposition, die die Regierung übernehmen möchte, ihm sagt, welche Dinge wir im Lande verändern wollen. Und dann muss der Wähler entscheiden, ob ihm diese Veränderungen richtig erscheinen oder nicht. Und da sagen wir, wir werden die nächste Stufe der Ökosteuererhöhung nicht durchführen; da sagen wir, wir werden alles daransetzen, den Mittelstand in die Lage zu versetzen, gleichbehandelt zu werden mit den Kapitalgesellschaften; da sagen wir, wir werden Bürokratie abbauen; da sagen wir, wir werden älteren Arbeitnehmern den Kündigungsschutz so verändern, dass sie auch eine Abfindung vereinbaren können, damit die Barriere, dass man sie überhaupt noch nimmt, niedriger wird und dass sie eine Chance haben, wieder in Beschäftigung zu kommen; da sagen wir, Teilzeitarbeit sollen die bekommen, die Kinder erziehen, die Angehörige pflegen - aber nicht jeder soll darauf einen Rechtsanspruch haben. Da sagen wir, wir wollen mehr Wettbewerb in den Universitäten und Hochschulen. Das heißt, wir haben ein ganzes Bündel von Maßnahmen, die wir den Bürgern anbieten und die aus meiner Sicht zu mehr Wachstum führen werden. Leider brauchen Sie in Deutschland erst mal drei Prozent Wachstum an Wirtschaft, um in der Beschäftigung einen Effekt zu erzielen, und deshalb muss auch diese Prozentzahl von Wachstum erst mal runtergenommen werden.

    Detjen: Sie haben jetzt das Stichwort 'Steuern' - auch das Stichwort 'Ökosteuer' - schon genannt. Sie sagen, die nächste - die fünfte - Stufe Ökosteuer soll außer Kraft gesetzt werden. Sie soll am 1.1.2003 nach den jetzigen Plänen in Kraft treten. Wenn ich es richtig verstehe, sagt Friedrich Merz aber inzwischen, das lässt sich technisch auch nicht machen, das lässt sich frühestens im Jahr 2003 machen, im Laufe des Jahres dann.

    Merkel: Auf jeden Fall werden da mit aller Kraft - die Wahl ist am 22. September, und das wird einer der ersten Schritte sein, dass wir nicht die Ökosteuer weiter erhöhen. Wir werden nicht alle Stufen auf einmal zurücknehmen können, das müssen wir den Bürgern ganz ehrlich sagen, weil das 30 Milliarden Mark sind. Und die sind im Augenblick nicht drin, weil Herr Eichel eine so falsche Steuerpolitik gemacht hat. Aber die Ökosteuer wird in ihrer letzten Stufe - Schluss endlich - nicht erhöht werden . . .

    Detjen: . . . am 1.1.2003 nicht erhöht werden?

    Merkel: So ist das.

    Detjen: Sie haben gesagt, der Mittelstand soll steuerlich entlastet werden. Michael Glos, der Chef der CSU-Landesgruppe, hat gesagt: Das ist auch kaum finanzierbar.

    Merkel: Die Frage ist ja, wie und wann wir das machen können. Für uns ist das oberste Gebot, und da gibt's auch mit dem Bundesfinanzminister keine Fragezeichen, dass der Stabilitätspakt selbstverständlich eingehalten wird. Theo Waigel hat den damals in Europa durchgesetzt, und wir werden da uns vollkommen vernünftig verhalten, weil es hier ja wirklich um eine langfristige Finanzpolitik geht. Ich sage, dass wir das Ziel haben, den Mittelstand schnell möglichst den Kapitalgesellschaften anzugleichen. Wir haben nicht das Ziel, für die Kapitalgesellschaften die Steuern dafür zu erhöhen, das darf auf gar keinen Fall passieren. Und wir haben mittelfristig - und das kann man nicht zum 1.1.2003 machen - natürlich das Ziel, dass wir eine neue Steuerreform machen, denn die Bürokratie, die Schwierigkeit, eine Steuererklärungen auszufüllen, die Kompliziertheit, die muss weg, und die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger muss insgesamt noch größer werden, damit der Bürger auch in den sozialen Sicherungssystemen Rente und Gesundheit wieder mehr auch eigene Beiträge leisten kann. Zur Zeit kann er das überhaupt nicht. Und wie schnell wir das mit dem Mittelstand schaffen, das hängt dann wirklich vom Kassensturz ab, von der Frage: Wo stehen wir am 1.1.2003? Herr Eichel verspricht uns im Augenblick gigantische Wirtschaftswachstumszahlen. Er hat sich voriges Jahr vertan, und jetzt müssen wir erst mal schauen, wie die Dinge sich entwickeln.

    Detjen: Sie haben jetzt auch die Kapitalgesellschaften erwähnt. Edmund Stoiber hat das ja auch sehr stark angeprangert, auch die Tatsache, dass viele Großunternehmen in Deutschland faktisch kaum noch Steuern zahlen. Kann man das denn ändern, ohne denen steuerliche Vorteile wieder zu nehmen, also faktisch die Steuern der Großunternehmen . . .

    Merkel: . . . nein, nein, das Kind ist weitestgehend in den Brunnen gefallen, das muss man mal ganz klar sagen - und zwar durch eine Steuerpolitik des Bundesfinanzministers, die einerseits den Mittelstand schlechter gestellt hat und andererseits die Kapitalgesellschaften im vorigen Jahr nun erlaubt hat, bestimmte Gewinnausschüttungen vorzunehmen nach neuen Bedingungen, die zu dieser desaströsen Steuerentwicklung in den Kommunen geführt hat . . .

    Detjen: . . . werden Sie das wieder rückgängig machen? . . .

    Merkel: . . . das kann man gar nicht wieder rückgängig machen, das ist geschehen und das ist auch im Weitestgehenden abgewickelt, weil das einmal schon eingelagerte und erwirtschaftete Gewinne waren. Die sind jetzt nur gehoben worden sozusagen aus den Unternehmen und können und können ausgezahlt werden zu einem geringeren Steuersatz als sie früher waren. Und deshalb kommt es dazu, dass zum Teil die Finanzämter das wieder zurückzahlen müssen. Das kann man nicht machen, das hätte die Bundesregierung anders und auf einen viel längeren Zeitraum verteilen müssen. Und das Dramatische ist ja nun, dass Herr Eichel praktisch in einer Zeit, in der sowieso die Weltwirtschaft in einem schlechten Zustand ist, noch einmal die Kommunen außerstande setzt, Investitionen öffentlicher Art anzukurbeln und damit natürlich der letzte Platz von Deutschland im Wirtschaftswachstum in Europa vorprogrammiert ist. Andere Länder haben sich da viel klüger verhalten.

    Detjen: Wenn man sich die Maßnahme jetzt konkret anschaut, dann drängt sich mir doch die Frage auf: Kann der Wähler von einem Regierungswechsel überhaupt noch einen echten politischen Paradigmenwechsel erwarten - oder anders gesagt: Können Sie mehr versprechen als Schröder vor der letzten Bundestagswahl, als er sagte: Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen?

    Merkel: Also, wir versprechen erst mal, dass das, was wir sagen, auch gehalten wird. Das wird der große Unterschied zu 'versprochen - gebrochen' sein, was wir jetzt vier Jahre lang erlebt haben. Herr Schröder hat gesagt: 'sechs Pfennig bei der Ökosteuer ist das Ende der Fahnenstange' - am Ende dieser Legislaturperiode liegen wir bei 35. Und der Paradigmenwechsel wird darin bestehen, dass wir an vielen Stellen, wo es kein Geld kostet - ich habe Ihnen ja die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gesagt, ich sage Ihnen Reform im Gesundheitssystem -, dass wir dafür sorgen werden, dass Menschen wieder besser ihre Leistung erbringen können und vor allen Dingen, dass es gerechter beim Erbringen von Leistung zugeht. Heute haben viele Menschen den Eindruck, dass es einen hohen Missbrauch an Sozialmaßnahmen gibt, dass die, die etwas leisten, eigentlich eher bestraft werden als dass sie dafür belohnt werden und dass viele das Gefühl haben, dass der, der arbeitet, eben nicht mehr in der Tasche hat als der, der nicht arbeitet. Und das wird sich ändern. Und da kommt immer wieder die gleiche Melodie bei uns raus: Wir trauen dem einzelnen Menschen etwas zu, wir glauben, dass er etwas leisten möchte. Wir spielen nicht die Gruppen Gewerkschaften, Unternehmensverbände gegeneinander aus, sondern wir versuchen, dass die Leistung von jedem einzelnen sich dann dazu addiert, dass Deutschland insgesamt wieder besser dasteht.

    Detjen: Frau Merkel, lassen Sie uns vielleicht jetzt vom Thema Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik zu anderen Themen kommen. Beim letzten Regierungswechsel zu einer unionsgeführten Regierung hat Bundeskanzler Kohl damals eine geistig moralische Wende versprochen. Würden Sie nochmal mit einem Regierungswechsel den Anspruch verbinden - sagen wir -, die intellektuelle Befindlichkeit der Deutschen umzuwälzen?

    Merkel: Ich werde mit einem Regierungswechsel verbinden, dass wir den Menschen sagen können, Deutschland kommt vom Schlusslichtplatz wieder nach vorne in eine vernünftige Situation. Das heißt, die Menschen in diesem Lande haben wieder diese Chance, dass aus Deutschland das gemacht wird, was in Deutschland auch drin steckt, und zwar nicht in einem platten nationalistischen Sinne, sondern in dem Sinne, dass hier in diesem Lande tolle Menschen leben und dass dies das größte Land Europas ist und dass es uns nicht angemessen ist, dass wir den 25. Platz von 32 Ländern in der Bildungsstudie haben usw. Deshalb würde ich sagen, es wird ein Wechsel sein, der mit einem Gefühl von Leistungsgerechtigkeit verbunden ist, ein Wechsel sein, der mit einem Stück Stolz auf dieses Land verbunden ist und ein Wechsel sein, der sagt: Deutschland und Europa gehören heute zusammen; Europa soll stark sein, auch gegenüber Amerika - in den außenpolitischen und militärischen Fragen, und wir wollen gerne wieder in diesem Lande leben und das auch erbringen, was in diesem Lande steckt.

    Detjen: Sie sagen 'Stolz, Stärke Europas' - Ihr Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hat in seiner Passauer Aschermittwochsrede das Wort 'Patriotismus' zu einem Schlüsselbegriff gemacht. Was taugt dieser Begriff als politische Kategorie?

    Merkel: Dieser Begriff taugt eine Menge, weil die Menschen in Deutschland mit ihrem Heimatland eine Menge ja auch verbinden. Es ist unsere Heimat - das gilt im übrigen auch für viele ausländische Bürgerinnen und Bürger, für die ist Deutschland genau so ihre Heimat wie für die, die deutscher Herkunft sind, und aus diesem Gemeinschaftsgefühl wollen wir unsere Stärken in Europa einbringen. Und deshalb kann ich mit dem Begriff des 'aufgeklärten Patriotismus' oder auch der 'Liebe zum eigenen Heimatland, Vaterland' durchaus etwas verbinden. Und ich glaube, dass das auch viele Menschen sehr stark bewegt.

    Detjen: In welchen Momenten haben Sie denn patriotische Empfindungen?

    Merkel: Ja, was heißt patriotisch? Ich sag ja so ein bisschen 'Liebe zum Heimatland' - ja, wenn ich ganz weit weg bin von Deutschland, dann zeigt sich meistens, dass man weiß, was zu Hause ist. Wenn man auch mit Vertretern anderer Kulturen darüber spricht, was bei uns gut ist, was bei uns schön ist, was wir lieben - genau so, wie andere ihre Dinge lieben, dann finde ich, ist das durchaus immer mal ein Moment, wo man sagt: Ich bin eigentlich auch gerne in Deutschland zu Hause.

    Detjen: Aber das ist jetzt nicht in erster Linie eine politische Kategorie.

    Merkel: Nein, das ist eine emotionale, eine befindliche Kategorie, und die Aufgabe der Politik ist es doch, die Rahmenbedingungen, also die Strukturen dafür zu schaffen, dass die Leute sagen: Hier kann man gut leben - dass die Straßen in Ordnung sind, dass man pünktlich zur Arbeit kommt, wenn man es möchte, dass man eine ordentliche Ausbildung bekommt, dass die Universitäten attraktiv sind und auch mal ein Amerikaner zu uns studieren kommt, dass die Banker aus London sich überlegen, ob sie nicht doch lieber nach Frankfurt ziehen, weil es hier einfach eine gute Lebensqualität ist, dass man eine ordentliche Umwelt hat, dass man eine schöne Landschaft hat, dass man Kultur hat im eigenen Lande. Das sind doch alles Kategorien, für die die Politik die Voraussetzung schafft. Das sind keine politischen Kategorien, aber die Politik hat das Land so zu ordnen, dass die Menschen ihre Empfindungen auch ausleben können. Und die Menschen wollen nicht Letzter sein, die Menschen wollen nicht erleben, dass man zwei Wochen braucht mit geleasten ukrainischen Maschinen, um 100 Soldaten von Deutschland nach Afghanistan zu bringen. Die fragen sich, in was für einem Lande sie eigentlich wohnen. Früher hieß es mal 'Made in Germany', und heute heißt es eben zum Teil, dass wir die simpelsten Dinge nicht mehr können. Und das muss sich ändern.

    Detjen: Frau Merkel, Sie haben eben gesagt, Europa solle stark sein - und haben konkret hinzugefügt, auch gegenüber den USA. Sagen Sie das auch vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion, der aktuellen Spannungen im Kampf gegen den Terrorismus - Stichwort 'Iran'?

    Merkel: Ich würde nicht so weit gehen, von Spannungen zu sprechen. Ich war neulich auf der Münchner Sicherheitskonferenz und habe dort in aller Schärfe erlebt, dass die Amerikaner finden - und zum Teil mit recht -, dass die Europäer ihre Leistungen für eine militärische Sicherung der Freiheit und der Demokratie nur unzureichend erbringen, weil sie technisch schlecht ausgestattet sind, weil sie auch nicht genug Kraft aufwenden. Und das gilt ja auch für den Zustand der Bundeswehr - leider. Und ein starker Partner, so wie ich mir Europa wünsche - in der NATO, in der Allianz mit den Amerikanern -, der kann natürlich sehr viel mehr durchsetzen. Und ich rede nicht von Spannungen, sondern ich rede davon, dass wir als Europa unsere Vorstellungen von Frieden und Freiheit, auch vom Kampf gegen den Terrorismus genau so einbringen wie die Amerikaner, wenn wir gemeinsam eine Allianz bilden wollen. Und dass es da Unterschiede gibt in der Wahrnehmung, das gehört zu einer Freundschaft dazu, das kommt 'in den besten Familien vor', um es in Anführungsstrichen zu sagen. Aber wichtig ist, dass wir überhaupt auch die Kraft haben, das, was wir uns vorstellen, dann auch vorzubringen. Und da darf Europa sich nicht sozusagen ins Abseits bringen dadurch, dass wir zu wenig für Sicherheit und militärische Stärke tun.

    Detjen: Aber es ist ja jetzt ganz konkret, gerade auch aus den Reihen der Union, Kritik an Politikern der Bundesregierung, namentlich an Außenminister Fischer, gekommen, als er die USA doch sehr deutlich kritisiert hat für die starken Worte gegenüber dem Iran.

    Merkel: Ich fand, dass der Bundesaußenminister einen Augenblick lang in eine eher innenpolitische Rolle verfallen ist. Ich finde, gegenüber dem Irak muss man als erstes mal sagen, dass der Irak seine internationalen Verpflichtungen - die UN-Resolutionen - einhalten muss, dass Inspektoren wieder in das Land müssen, um zu kontrollieren, ob dort Massenvernichtungsmittel hergestellt werden. Viele Menschen haben Angst natürlich, wenn es darum geht, dass die Amerikaner auch von einem Eingreifen in den Irak sprechen. Aber der Irak muss klarmachen, dass er die internationale Staatengemeinschaft sich überzeugen lässt, dass er keine Massenvernichtungswaffen produziert. Das tut der Irak im Augenblick nicht, und ich finde, die Europäer und die Amerikaner sollten den politischen Druck auf den Irak erhöhen, damit hier gehandelt wird. Und der Irak bewegt sich ja auch, wenn er politischen Druck spürt. Und darauf kommt es mir viel mehr an, als jetzt als erstes Kritik zu üben.

    Detjen: Frau Merkel, in der kommenden Woche wird sich der Konvent konstituieren, der eine europäische Verfassung ausarbeiten soll. Die CDU hat dazu Vorstellungen entwickelt. Werden Sie tatsächlich so weit gehen, dort einen Prozess unterstützen, der auf die Bildung eines staatsähnlichen europäischen Gebildes hinausläuft, dass, so wie es ja explizit auch von Herrn Stoiber erklärt wurde, etwa auf die Abschaffung nationaler Institutionen bis zu nationalen Verteidigungsministerien hinausläuft?

    Merkel: Nun wollen wir mal nicht gleich die Jahrhundertwende vorweg nehmen, aber es ist ein Verfassungsvertrag - nach unserer Auffassung -, an dem gearbeitet wird. Und dort, wo Verfassung mit im Spiel ist, heißt es auch, dass Kompetenzen abgegeben werden. Das haben wir ja schon getan in bezug auf das Geld - mit dem EURO zum Beispiel. Und das werden wir auch im Bereich der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zum Beispiel tun. Wir werden jetzt den europäischen Haftbefehl haben in der Sicherheitspolitik, wir werden in der Verteidigungspolitik eine gemeinsame europäische Eingreiftruppe von 60.000 Mann haben - wo wir natürlich dann auch ein Stück Kommandogewalt abgeben. Das heißt nicht gleich, dass auch die inneren Strukturen der Bundeswehr aufgelöst werden, aber Schritt für Schritt wird natürlich mit einer gemeinsamen europäischen Handlung auch ein Teil nationaler Souveränität abgegeben. Uns kommt es darauf an, dass das vor Ort und im eigenen Land entschieden wird, was besser im eigenen Land entschieden werden kann. Und da glauben wir zum Beispiel Arbeitsmarktpolitik; da glauben wir, viele Teile der Steuerpolitik, Familienpolitik, Gesundheitspolitik - das alles wird national bleiben. Aber es wird Bereiche geben - in der Forschungspolitik zum Beispiel Bereiche -, wo wir große Investitionen machen, die ein Land nicht schafft, in der Verteidigungspolitik, wo es um die Sicherung des Friedens in Europa geht oder um Krisenreaktionskräfte, im Bereich der Wettbewerbspolitik, wo es ja heute schon der Fall ist - alles Bereiche, wo wir auch Souveränität abgeben, nicht, weil wir keine Lust haben, da mehr national zu machen, sondern dass wir als Deutschland und Europa stärker werden im weltweiten Wettbewerb, wenn wir es gemeinschaftlich tun. Das muss immer der Maßstab sein.

    Detjen: Frau Merkel, reden wir auch über die Veränderung und teilweise Auflösung von nationalen Grenzen im traditionellen Sinne. Dazu gehört im weiteren Sinn auch das Thema 'Zuwanderung'. Die Union ist in der letzten Woche zu den Konsensgesprächen mit dem Bundesinnenminister nicht mehr gegangen. Ist das Thema damit für Sie erledigt?

    Merkel: Das Thema ist natürlich überhaupt nicht erledigt - das wird ja auch in der nächsten Woche im Parlament abschließend beraten und dann in den Bundestag gehen -, sondern es waren ja zusätzliche Gespräche zu den normalen parlamentarischen Beratungen, bei denen die CDU und CSU ihre Vorschläge beim Bundesinnenminister schon vor zwei Wochen eingereicht haben. Der Bundesinnenminister hatte dann bis zur letzten Woche keinen einzigen schriftlichen Antwortentwurf mal gemacht - worauf kann er eingehen, worauf kann er nicht eingehen. Und dann hat das wirklich keinen Sinn, dort immer wieder hinzugehen und immer wieder über die gleichen Unionsvorschläge zu sprechen. Wir haben den Eindruck, dass der Bundesinnenminister gefangen ist von der sozialdemokratischen und grünen Fraktion. Und an dem Beispiel von diesem Zuwanderungsgesetz zeigt sich, dass der ganze Schröder'sche Kampf um die Mitte im Grunde ein Phantom ist, weil letztlich alte linke Ideologien immer noch bei Rot und Grün den Vorrang haben, weil man letzten Endes nicht die Zuwanderung begrenzen will und es einfach nur in die Überschrift geschrieben hat. Und ich kann an der Stelle nur sagen: Da zeigt sich mal wieder, dass die Mitte eben rechts von links ist, und Herr Schily möchte da vielleicht hin, aber die anderen lassen ihn nicht. Und das können wir nicht mitmachen.

    Detjen: Frau Merkel, vor etwas mehr als vier Jahren, als sich das Ende der Regierungszeit Kohl schon abzeichnete, ist Joschka Fischer mal in einem Interview gefragt worden, wovor er Angst hat. Und er hat geantwortet: Vor der Regierungsübernahme. Ist Ihnen auch schon mal bang geworden, dass möglicherweise im Herbst die Union wieder die Regierung übernehmen müsste?

    Merkel: Nun, diese Antwort von Herrn Fischer war ja eine klassische Freud'sche Fehlleistung, denn Deutschland hat nun dreieinhalb Jahre gespürt, dass Herr Fischer vor der Regierungsübernahme Angst hatte, Herr Schröder wahrscheinlich auch, und dass man letztendlich auch viele Menschen Opfer eines rot-grünen Experimentes geworden sind. Wir waren in der Regierung, wir haben Fehler gemacht. Wir sind dafür abgewählt worden 1998. Die Menschen haben große Hoffnungen in Rot-Grün gesetzt. Sie sind inzwischen mehrheitlich überzeugt, dass Rot-Grün die Anforderungen nicht erfüllt. Und deshalb habe ich überhaupt keine Angst vor einer Regierungsübernahme, sondern ich würde das als eine unheimlich tolle Sache empfinden, wenn wir endlich wieder Politik gestalten könnten. Und dafür werde ich mit Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat sehr intensiv kämpfen.