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Merz

Detjen: Herr Merz, Sie sind ja an sich Jurist, waren auch mal Richter. Kennen Sie aus dieser Zeit vielleicht noch das Amtsgericht Hohenschönhausen im Osten Berlins?

Stephan Detjen |
    Merz: Nur vom Namen her. Ich bin dort nie gewesen, ich bin Richter am Amtsgericht in Saarbrücken gewesen.

    Detjen: Als Jurist muss man es wahrscheinlich auch nicht kennen, aber politisch müsste das für Sie eigentlich ein Ort des Grauens sein, denn am vergangenen Sonntag bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus war dort ein Wahllokal des Wahlbezirks VI. Und als man da abends um 18.00 Uhr die Wahlurne geleert hat, fanden sich da traurige 3,6 Prozent Stimmen für die CDU, ganze 79,6 Prozent für die PDS. Das war jetzt - zugegeben - natürlich der Tiefpunkt dieses Wahlsonntags. Aber trotzdem wird sich da ja für Sie wahrscheinlich die Frage aufdrängen: Was geht dort in den Köpfen der Leute vor, was ist da los im Osten?

    Merz: Herr Detjen, das, was Sie beschreiben, ist im höchsten Maße besorgniserregend für die CDU. Aber auch die anderen Parteien haben keinen Grund, zu triumphieren. Wir haben eine geteilte Stadt Berlin, was das Wählerverhalten betrifft - relativ stabile politische Verhältnisse im Westen und eine PDS im Osten, die auf fast 48 Prozent der Wählerstimmen gekommen ist. Ich glaube, dass wir sehr intensiv darüber nachdenken müssen - wir, CDU/CSU -, wie wir in den nächsten Monaten bis zur Bundestagswahl mit der PDS umgehen, vor allen Dingen, wie wir mit ihren Wählerinnen und Wählern umgehen. Und wir werden auch nicht nachlassen in unserer Kritik am Verhalten der Sozialdemokraten, denn ich bleibe bei meiner Überzeugung, dass die Sozialdemokraten ein hohes Maß an Verantwortung mittragen, dass die PDS so stark geworden ist - dadurch, dass sie sie in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern mit in die Regierung genommen haben, dort hoffähig gemacht haben, übrigens mit katastrophalen wirtschaftlichen Ergebnissen für diese Länder. Aber sie haben auf diese Art und Weise auch den Eindruck vermittelt, es könnte sozusagen ein rot-rotes Bündnis in Berlin geben. Und wenn Sie sich das jetzt rechnerisch ansehen, dann gibt es ja auch eine glatte Mehrheit für ein solches Bündnis, das ich bis zum heutigen Tag nicht für ausgeschlossen halte, dass es noch zustande kommt, denn ich sehe umgekehrt nicht, wie eigentlich eine Koalitionsvereinbarung zwischen SPD, den Grünen und FDP aussehen soll. Die möchte ich gerne sehen; ich glaube noch nicht, dass sie zustande kommt.

    Detjen: Sie haben das ja sehr stark thematisiert im Wahlkampf, die - zugespitzt gesagt - 'Horrorszenarien' vor einem rot-roten Bündnis in Berlin. Einer Ihrer Stellvertreter im Fraktionsvorsitz im Bundestag, Günter Nooke, selbst Ostberliner, hat die CDU aufgefordert, ihr Verhältnis zur PDS zu überdenken. Nooke hat gesagt, es sei fraglich, ob die bisherige rein vergangenheitsbezogene Auseinandersetzung mit der PDS in Zukunft ausreichen werde.

    Merz: Ich bin mit meinem Stellvertreter im Fraktionsvorsitz Günter Nooke sehr einig, dass wir die PDS nicht nur rückwärts gewandt konfrontieren dürfen mit ihrer Vergangenheit, die sie ja zum großen Teil in der SED hatte - die Funktionäre sind ja in nicht unbeträchtlicher Zahl dieselben -, sondern dass wir die PDS messen müssen an ihren politischen Arbeiten, die sie heute leistet im Deutschen Bundestag, wo sie sich der Allianz gegen den internationalen Terrorismus verweigert, aber genau so dort, wo sie Regierungsverantwortung trägt. Sie trägt sie unmittelbar in Mecklenburg-Vorpommern, sie trägt sie mittelbar durch die Duldung der Landesregierung in Sachsen-Anhalt. Und in diesen beiden Ländern haben wir eine tiefe Rezession. Und die PDS mit diesen Ergebnissen ihrer gegenwärtigen Politik zu konfrontieren statt sie mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren, ist sicherlich ein Element einer besseren und erfolgversprechenderen Strategie gegen die PDS.

    Detjen: Günter Nooke hat in dem erwähnten Artikel auch gesagt, die Politiker aus dem Ostteil Berlins müssten sich nicht nur stärker einbringen wollen, sondern sie müssten das auch tun können. Das klang, als sei das auch an die Adresse der eigenen Partei gerichtet, vielleicht auch an die eigene Fraktion. Wenn ich richtig informiert bin, sind nur zwei von insgesamt sieben Berliner Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus dem Ostteil der Stadt Berlin.

    Merz: Das ist richtig, und deswegen wünsche ich mir sehr, dass wir im nächsten Deutschen Bundestag in der nächsten Bundestagsfraktion von CDU und CSU wieder Kollegen aus dem Ostteil der Stadt haben. Und ich wünsche mir vor allen Dingen, dass Günter Nooke eine Chance bekommt, nicht nur in einem Wahlkreis wieder aufgestellt zu werden, sondern auch über die Landesliste der Berliner CDU einen so sicheren Platz zu bekommen, dass er in den Deutschen Bundestag zurückkehrt. Er kommt aus der damaligen Bürgerrechtsbewegung; er hat vielfältige politische Erfahrungen gesammelt. Er ist manchmal ein unangenehmer Querdenker, aber wir würden einen Fehler machen, wenn wir auf einen Mann wie Günter Nooke in der Bundestagsfraktion verzichten.

    Detjen: Vor der Tür bei Ihnen stehen auch schon die Westberliner. Man hört, Eberhard Diepgen will in den Bundestag. Ist das er Beitrag, den die Bundestagsfraktion zur Erneuerung der Berliner CDU leistet, dass sie dem umstrittenen Vorsitzenden sozusagen politisches Asyl in der Bundestagsfraktion gewährt?

    Merz: Der Fraktionsvorsitzende kann naturgemäß nicht in die einzelnen Wahlkreisentscheidungen von außen eingreifen. Das müssen die Berliner Freunde schon selbst entscheiden. Aber ich würde mir in der Tat wünschen, dass auch in der Zusammensetzung der Berliner Bundestagsgruppe nach der nächsten Wahl die Erneuerung zum Ausdruck kommt, die wir brauchen, damit es wirklich nicht nur in der Bundestagsfraktion, sondern insbesondere in der Berliner CDU einen neuen Aufbruch gibt. Sie ist gut beraten, wenn sie auch ihre Rolle in der Bundespolitik neu definiert. Ich glaube, die Berliner CDU sollte nicht Opposition nur in der Landespolitik machen, sondern sie sollte das Thema 'Rolle der Bundeshauptstadt Berlin' im wiedervereinigten Deutschland zu ihrem Thema machen und dies auch mit neuen Köpfen verbinden. Das wäre mein Wunsch auch an die Berliner Freunde.

    Detjen: Herr Merz, wenn wir auf Berlin, auf die Wahl dort, zurückblicken, muss man natürlich zugeben: Der Wahlkampf war für die CDU schwer. Nach dem 11. September war es für die Opposition schwer, sich inhaltlich gegen die Regierung zu profilieren. Das galt ja auch genau so für die Bundesebene. Aber in dieser Woche haben Sie wieder ein neues starkes Thema bekommen. Nachdem die führenden Wirtschaftsinstitute in der zurückliegenden Woche ihre Herbstgutachten vorgelegt haben, musste die Bundesregierung ihre Wachstumsprognose nach unten korrigieren, und die Experten der Wirtschaftsinstitute haben die Forderung der CDU unterstützt, die nächsten Stufen der Steuerreform vorzuziehen.

    Merz: Ja, wir haben in der Tat eine schwierige, sehr schwierige wirtschaftliche Lage in Deutschland. Ich will da jetzt gar nicht rechthaberisch sein, aber schon darauf hinweisen, dass wir bereits im Februar in der Aussprache über den Jahreswirtschaftsbericht dem Bundeskanzler gesagt haben, dass die Wachstumsprognosen, die die Bundesregierung damals noch zugrunde gelegt hat, eine völlige Fehleinschätzung der Lage sind. Wir sind daraufhin von der Bundesregierung, vom Bundeskanzler, scharf kritisiert worden, wir würden die Leistungen der Arbeitnehmer in Deutschland, die der Unternehmen in Deutschland nicht ausreichend würdigen, wir würden den Standort herunterreden - wir wären sozusagen, die daran Schuld wären, dass es Probleme gibt. Jetzt stellt sich heraus, dass wir in den ersten drei Quartalen des laufenden Jahres 2001 massive strukturelle Probleme wieder haben und deutlich sehen werden. Sie sind ja schon früher vorhanden gewesen, sie sind allerdings überdeckt worden durch einen schwachen Euro und einen darauf sich aufbauenden starken Export. Das ist jetzt nicht mehr der Fall, und damit kommen sämtliche strukturellen Schwächen der deutschen Volkswirtschaft zum Ausdruck. Und dafür kann nun die Bundesregierung die alte Bundesregierung nicht in Haftung nehmen. Das ist ihre Politik, das ist ihre Verantwortung, und dieser Verantwortung muss sie sich stellen. Und das ist natürlich auch eine Chance für die Opposition, deutlich zu machen, was eigentlich geschehen muss, damit man aus diesen strukturellen Problemen herauskommt.

    Detjen: Wenn Sie jetzt empfehlen und fordern, die nächsten Stufen der Steuerreform vorzuziehen, dann heißt das, das kostet Geld; 13,5 Milliarden Mark Steuerausfälle müssten dann ausgeglichen werden. Das heißt, Kreditaufnahme erhöhen - oder?

    Merz: Der Bundesfinanzminister wird ohnehin sein Ziel der Haushaltskonsolidierung nicht aufrecht erhalten können . . .

    Detjen: . . . aber er hält energisch daran fest . . .

    Merz: . . . er hält verbal energisch daran fest und verschweigt der deutschen Öffentlichkeit, dass die Gesamtverschuldung des Bundes nach der Legislaturperiode, also in knapp einem Jahr, 100 Milliarden D-Mark höher sein wird als zum Antritt der rot-grünen Bundesregierung; sie wird von 1,5 auf dann 1,6 Billionen D-Mark angestiegen sein.

    Detjen: Aber das ist ja noch wesentlich - wenn man es so sagen darf - eine Erblast des Finanzministers Lafontaine.

    Merz: Das ist ein Teil des Problems Lafontaine. Allerdings kann man es wirklich nicht nur dem Amtsvorgänger von Herrn Eichel anlasten. Auch diese Bundesregierung, auch dieser Bundesfinanzminister spart in Wirklichkeit nicht. Das Problem des Bundeshaushaltes ist, dass er die Sanierung über die Einnahmenseite versucht hat. Das sehen wir jetzt auch an dem Steuerpaket 'Versicherungssteuer - Tabaksteuer'. Auf der Ausgabenseite hat es eine immer größer werdende Schieflage gegeben zugunsten der sogenannten konsumtiven Ausgaben - zu Lasten der investiven Ausgaben. Und das ist das eigentliche Problem des Bundeshaushaltes. Diese Bundesregierung gibt Jahr für Jahr überproportional steigend mehr Geld aus für die Bewirtschaftung der Arbeitslosigkeit. Die Probleme der Rentenversicherung sind nicht gelöst; sie werden mit Ökosteuer versucht zu lösen, das heißt, sie suchen eine neue Finanzierungsquelle für ein fortbestehendes Problem. Die grundlegenden Probleme lassen sich nur lösen, wenn wir die Wirtschaftspolitik wieder sehr viel stärker über die Angebotsseite gestalten. Das heißt, wir haben in Deutschland unverändert zu hohe Steuerbelastungen - auch der Unternehmen. Wir haben eine katastrophal schlechte Eigenkapitalausstattung, besonders der kleinen und mittleren Unternehmen. Die wiederum - und damit bin ich bei der Steuerpolitik - werden auf das Jahr 2005 vertröstet, was die Steuersenkungen betrifft, die die großen Kapitalgesellschaften bereit im Jahr 2001 bekommen haben. Das ist ein grundlegender struktureller Fehler, der sich ordnungspolitisch nicht begründen lässt, der die Probleme verschärft. Und deswegen haben wir gesagt: Es gibt jetzt gar keine andere Möglichkeit. Wenn wir ohnehin vor der Alternative stehen, entweder aus Gründen der sich weiter verschlechternden Konjunktur, der weiter steigenden Arbeitslosigkeit, des weiteren Finanzierungsbedarfs ungelöster Probleme in den sozialen Sicherungssystemen, und wir werden Probleme haben in der Rente, in der Krankenversicherung, in der Pflegeversicherung - die Pflegeversicherung lebt seit längerer Zeit aus den Reserven -, dann wird man in der jetzigen Situation, die die Bundesregierung zu verantworten hat und nicht die Opposition, vor die Alternative gestellt: Wofür wird denn dann das Haushaltsproblem entstehen - entweder für die Bewirtschaftung der Arbeitslosigkeit oder für eine Verbesserung der Lage der mittleren und kleinen Unternehmen - muss man sich nach meiner festen Überzeugung, so wie die Sachverständigen es im Herbstgutachten auch gesagt haben, für Steuersenkungen, für vorgezogene Reformschritte entscheiden. Sonst wird das Problem sich verschärfen.

    Detjen: Aber noch mal nachgefragt: Um den Preis einer höheren Staatsverschuldung?

    Merz: Herr Detjen, wir werden im nächsten Jahr so oder so die Staatsverschuldung, die mit 41,3 Milliarden D-Mark Netto-Neuverschuldung im Bundeshaushalt angesetzt ist, nicht einhalten können. Die Bundesregierung steht vor der Wahl zwischen zwei Übeln, die Staatsverschuldung wegen der sich verschlechternden konjunkturellen Lage weiter steigen zu lassen oder kurzfristig ein Defizit zusätzlich in Kauf zu nehmen, damit Wachstum und Beschäftigung, insbesondere in den mittleren und kleinen Unternehmen, entstehen kann. Und wenn man vor diese Wahl gestellt ist, kann man sich ernsthafter weise nur für die zweite Lösung entscheiden - so, wie die Sachverständigen es vorgeschlagen haben.

    Detjen: Aber es gibt da auch Experten, die das kritisch sehen. Die warnen vor allen Dingen vor den Auswirkungen, die das über Deutschland hinaus, nämlich auf die europäischen Stabilitätsziele haben könnte.

    Merz: Es gibt einen kleinen Spielraum innerhalb des europäischen Stabilitätspaktes nach oben, was die Gesamtverschuldung und die Neuverschuldung betrifft. Der ist nicht sehr groß, aber der würde ausreichen, um diese vorgezogene Steuerreform zu finanzieren. Und wir werden in der Europäischen Union unglaubwürdig, wenn wir notwendige strukturelle Reformen ständig weiter vor uns herschieben, insbesondere in den Sozialsystemen und auf der anderen Seite die Staatsverschuldung ohnehin steigt. Insofern - ich sag's noch mal: Wenn man in einer solchen Lage ist, wie die Bundesregierung sie jetzt herbeigeführt hat, dann steht man möglicherweise vor der Wahl zwischen zwei Übeln. Und dann muss man sich für das Übel entscheiden, das wenigsten Aussicht auf mittelfristige Besserung der Lage eröffnet. Das wird bei der gegenwärtigen Politik der Bundesregierung sicher nicht der Fall sein - steigende Arbeitslosigkeit, steigende Steuern, steigende Sozialversicherungsbeiträge, ein Wegbrechen des wirtschaftlichen Wachstums, Rezession bereits in zwei Bundesländern in Deutschland. Dies ist alles eine ziemlich düstere Aussicht für das kommende Jahr, und ich habe wenig Verständnis dafür, dass der Bundesfinanzminister jetzt wieder mit der Gesundbeterei über das Wachstum im Jahr 2002 beginnt. Und je mehr Zeit ins Land geht, je schärfer wird sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt darstellen.

    Detjen: Das heißt, da ziehen Sie auch die Prognosen der Wirtschaftsinstitute in Zweifel, die das ja sagen, im ersten halben Jahr wird der Aufschwung kommen . . .

    Merz: . . .die Institute gehen ja in ihren Prognosen davon aus, dass wir keine Verschärfung der internationalen Sicherheitslage bekommen, sie gehen davon aus, dass wir keine Ölpreissteigerungen bekommen und sie gehen davon aus, dass wir stabile, möglicherweise weiter sinkende Zinsen durch die Zentralbank bekommen. Das sind alles Annahmen, die nicht unrealistisch sind. Aber die können genau so gut nicht eintreten, und deswegen muss man auch als verantwortungsvoller Wirtschafts- und Finanzpolitiker eher von einem kritischen Szenario ausgehen und nicht ständig optimistische Annahmen zugrunde legen, die bei der kleinsten Veränderung der globalen Rahmenbedingungen in sich zusammenbrechen, so wie wir das auch in diesem Jahr erlebt haben.

    Detjen: Aber heißt das nicht vielleicht gerade - wenn man als Politiker anders und möglicherweise kritischer sehen muss -, dass man sich in der Politik Handlungsreserven offen halten muss und da vielleicht dann im Augenblick doch noch eher mit der ruhigen Hand agieren muss?

    Merz: Das ist ja ein schönes Bild, eine schöne Metapher, nur wir erleben jetzt die Politik der ruhigen Hand seit neun Monaten, und das Ergebnis ist das, das ich eben beschrieben habe: Steigende Arbeitslosigkeit, steigende Steuern, steigende Sozialversicherungsbeiträge. Der Bundeskanzler geht ja der Lösung der Probleme aus dem Weg. Er ist ja noch nicht einmal bereit, dem Bündnis für Arbeit die Arbeit der Wissenschaftler zugrunde zu legen, die er selbst in Auftrag gegeben hat. So kann man nicht arbeiten, und wenn man so arbeitet, verspielt man sämtliche Spielräume, die man hat - auch wenn sich die Lage verschlechtert, so wie das jetzt zu befürchten ist, auch im Gefolge der Anschläge aus den USA. Es wird nicht besser, es wir eher noch eine kritischere Lage geben.

    Detjen: Herr Merz, in der Wirtschaftspolitik hält der Bundeskanzler seine Hand noch ruhig, in der Innenpolitik dagegen erweist sich die Bundesregierung ja als ganz erstaunlich handlungsfähig. Der Bundesinnenminister schnürt ein Sicherheitspaket nach dem anderen und arbeitet dabei die gesamte Forderungsliste der Union ab. Oder bleiben aus Ihrer Sicht auf diesem Themenfeld noch Wünsche offen?

    Merz: Also, da werden natürlich schöne Pakete geschnürt. Ob es für diese Pakete auch Mehrheiten im Bundeskabinett und anschließend im Bundestag und im Bundesrat gibt, ist noch nicht erwiesen. Wahr ist - und deswegen hat der Bundeskanzler ja auch unsere Unterstützung in den außenpolitischen Fragen und auch in den wesentlichen innenpolitischen Fragen -, dass diese Bundesregierung im Kern auf die Herausforderung des internationalen Terrorismus richtig reagiert hat. Ich bin auch nicht bereit als Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, kleinkarierte Parteipolitik zu machen, wenn es um große neue Herausforderungen im Bereich der Sicherheit für unser Land und für die gesamte zivilisierte Welt geht. Die Menschen in Deutschland haben zum Teil Angst; sie haben jedenfalls Befürchtungen vor einer bisher nicht so wahrgenommenen Bedrohung. Und dass hier die demokratischen Parteien, insbesondere die Volksparteien zusammenarbeiten, wenn die Bundesregierung etwas im Kern Richtiges tut, nämlich zum einen uneingeschränkte Solidarität mit den amerikanischen Freunden zu bekunden, zum zweiten auch in der inneren Sicherheit Maßnahmen auf den Weg zu bringen - übrigens solche, die wir ja zum Teil seit Jahren fordern. Ich nenne mal beispielsweise die Fortsetzung einer vernünftigen Kronzeugenregelung, die wir seit 1999 immer wiederholt haben, seitdem die alte Kronzeugenregelung ausgelaufen ist, sichere Rechtsgrundlagen für verdeckte Ermittler, biometrische Daten in den Pässen - das sind ja alles keine Erfindungen des Bundesinnenministers Otto Schily, sondern er kommt jetzt Forderungen der Union entgegen, weil er erkannt hat, dass die innere Sicherheit bedroht ist. Und da kann ich nur sagen: Herzlich willkommen, wenn wir es denn zusammen machen können, machen wir's zusammen. Aber ich möchte zunächst einmal Kabinettsbeschlüsse sehen und nicht nur jeden Tag neue Pakete und neue Diskussionen.

    Detjen: Dennoch - wenn auch nicht so stark von der CDU/CSU-Opposition - gibt es Kritik an dem, was Schily da zusammenschnürt in seinen Sicherheitspaketen, insbesondere was die Ausweitung der Befugnis von Datenerhebungen und Ermittlungen durch die Sicherheitsbehörden betrifft. Da gibt es rechtsstaatliche Bedenken, etwa zusammengefasst von der Bundesjustizministerin. Gibt es da Dinge bzw. Kritikpunkte, die Sie teilen?

    Merz: Man muss natürlich sorgfältig jetzt über die Maßnahmen sprechen, und ich bin auch sehr dafür, dass wir jetzt nicht alles über den Haufen werfen, was in den letzten Jahren auch an - ich sag mal das Stichwort 'informationelle Selbstbestimmung' - was durch Datenschutz erreicht worden ist. Nur bitte: Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden. Das heißt im Klartext: Die Sicherheitsbehörden, die Verfassungsschutzämter, die bestimmte Erkenntnisse haben - auch über in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste Ausländer -, müssen diese Erkenntnisse doch anwenden dürfen, wenn Ausländer Asylanträge stellen oder Einwanderungsanträge stellen.

    Detjen: Aber die Punkte, die Sie jetzt angesprochen haben, die sind ja auch weitgehend unumstritten. Das, was an Kritik jetzt zu hören ist, richtet sich etwa auf die von Schily geplante Konstruktion des Bundeskriminalamtes und die Ausweitung seiner Befugnisse. Wenn man das anschaut, da würde ja tatsächlich eine neuartige Behörde entstehen, eine Mischung aus Polizei, Nachrichtendienst und vielleicht amerikanischem FBI. Jetzt kann man ja sagen, die Bedrohungen, auch die Organisationsformen des Terrorismus sind neu. Muss man darauf dann auch mit neuartigen Sicherheitsbehörden in Deutschland reagieren?

    Merz: Dass wir jedenfalls in Deutschland länderübergreifend Polizeiarbeit auch so organisieren müssen, dass hier wirklich mit hoher Effizienz gegen die Bedrohung des internationalen Terrorismus auch im Inland vorgegangen werden kann, ist für mich außerhalb jeder Frage. Gleichzeitig muss man aufpassen, dass die Kompetenzen sich nicht gegenseitig im Wege stehen - also dass nicht Länderpolizeien und BKA plötzlich am selben Objekt arbeiten und sich dann gegenseitig beschatten, um es mal etwas salopp zu sagen. Hier gibt es in der Tat Kompetenzabgrenzungsprobleme, die müssen gelöst werden. Aber sie müssen nicht gelöst werden im Sinne von Kompetenzhakeleien, sondern sie müssen gelöst werden im Interesse höchstmöglicher Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Darauf haben sie einen Anspruch.

    Detjen: Kann es sein, dass trotzdem eine der Erkenntnisse aus dem 11. September und dem, was wir seitdem gelernt haben, auch sein muss, dass man neu und verstärkt den Dialog mit Muslimen in Deutschland suchen muss? Und ich denke da ganz konkret auch an die Frage des Schulunterrichts. Wir hatten in der zurückliegenden Woche vom Verwaltungsgericht Berlin ein Urteil, das der islamischen Föderation in Berlin, die von manchen als fundamentalistisch angesehen wird, den Zugang zum Religionsunterricht an den Schulen geöffnet hat

    Merz: Die Gerichte können immer nur so entscheiden, wie vorher die gesetzlichen Grundlagen vom Gesetzgeber gemacht worden sind. Insofern ist das nicht eine Frage, die vor Gericht entschieden werden muss, sondern im Parlament. Was wollen wir? Wollen wir ausländerfreundlich, offen, tolerant bleiben und erwarten wir umgekehrt, dass diejenigen, die nach Deutschland kommen, einen eigenen Integrationsbeitrag leisten? Meine Antwort darauf ist beide Male klar und eindeutig 'ja'. Das bedeutet aber, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass in Deutschland Parallelgesellschaften entstehen. Es bedeutet, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass außerhalb des staatlich beaufsichtigten Schulunterrichtes beispielsweise Koranschulen entstehen. Hier in Köln könnte man darüber eine lange Diskussion führen; es gibt massive Probleme. Dies alles heißt im Klartext: Islamunterricht, Koranunterricht 'ja', auch in staatlichen Schulen - aber unter staatlicher Schulaufsicht und in deutscher Sprache.

    Detjen: Aber widerspricht das nicht dem, für das Sie sich im Streit um das brandenburgische Schulfach 'LER' mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ja auch eingesetzt haben, nämlich für das Ziel, dass der Religionsunterricht eben nicht vom Staat gestaltet werden soll, sondern von den anerkannten Religionsgemeinschaften?

    Merz: Nein, genau das war ja der Kern unserer Normenkontrollklage gegen das Land Brandenburg, dass wir nämlich gesagt haben, dass nicht nur ein wertneutrales Unterrichtsfach 'Lebenskunde, Ethik und Religion' angeboten wird, sondern dass Religionsunterricht erteilt wird in staatlichen Schulen durch Vertreter der Kirchen und Glaubensgemeinschaften. So steht es im Grundgesetz. Es steht nicht im Grundgesetz, dass katholischer und evangelischer Religionsunterricht zu gewähren ist, sondern es steht 'Religionsunterricht' im Grundgesetz . . .

    Detjen: . . . durch Vertreter der Religionsgemeinschaften, das muss doch dann auch Vertreter der Muslime einschließen, oder nicht?

    Merz: Ja, selbstverständlich, in den staatlichen Schulen. Wenn es - und in Berlin, in Brandenburg, in vielen anderen Teilen der Republik ist das so - wenn es einen nennenswerten Anteil muslimischer Schüler gibt, dann haben diese Schüler einen Anspruch darauf, dass Religionsunterricht in ihrer Glaubensrichtung erteilt wird, dass islamischer Religionsunterricht erteilt wird, aber - ich sag's noch einmal - unter deutscher Schulaufsicht und in deutscher Sprache. Dann macht die Sache Sinn, dann ist es ein Beitrag zur Integration, und dann kommt auch die Toleranz zum Ausdruck, die übrigens schon den preußischen Staat auch in Religionsfragen ausgezeichnet hat.

    Detjen: Herr Merz, lassen Sie mich ganz zum Schluss noch mal auf die CDU zu sprechen kommen. Anfang Dezember trifft sich Ihre Partei zum Bundesparteitag in Dresden. Da steht ein Leitantrag auf der Tagesordnung, der inhaltlich, programmatisch den Weg zur Bundestagswahl weisen soll. Jetzt können Sie uns Journalisten ja gerne auf die Folter spannen, aber können Sie es Ihrer Parteibasis zumuten, dass weiterhin offen bleibt, unter welcher personeller Führung diese Programmatik dann umgesetzt wird?

    Merz: Herr Detjen, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass wir auf die 'K-Frage' erst ganz zum Schluss dieses Interviews zu sprechen kommen. Wir haben darüber lange vor der Berlinwahl, lange vor der Hamburgwahl in der Partei, in beiden Parteien in der Bundestagsfraktion gesprochen. Wir haben einen Zeitplan verabredet und wir sind aus vielen Gründen gut beraten, diesen Zeitplan einzuhalten. Wir klären auf dem Bundesparteitag eine Reihe von sachpolitischen Positionen, wir diskutieren über einen Leitantrag des Bundesvorstandes, der sich sehr viel mit Fragen der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarktpolitik auseinandersetzt. Die Sachfragen stehen für uns im Vordergrund, die Personalfragen werden Anfang des Jahres entschieden. Es bleibt dabei.

    Detjen: Vielen Dank Herr Merz.