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Messerstechereien - oft am helllichten Tag

Das Londoner East End: überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit, heruntergekommene Sozialwohnungen, ein Stimmengewirr aus 80 Sprachen - dafür ist das Viertel bekannt. Auf der Hauptstraße, Murder Mile genannt, bekriegen sich Kinder auf dem Schulweg regelrecht.

Von Ruth Rach |
    Homerton, ein sogenanntes Problemviertel in Ostlondon. Baustellen, Maschendraht, ein Labyrinth aus Sozialwohnungen, und dazwischen ein paar viktorianische Villen, unbehaust, verfallen.

    Die Hauptstraße, vor ein paar Jahren in "Mördermeile" umbenannt. Sie wirkt harmlos. Schwer vorstellbar, dass sich hier Jugendliche tödliche Kämpfe geliefert haben, nur weil sie aus verschiedenen Bezirken stammten.

    Gleich hinter der Hauptstraße liegt das Homerton Krankenhaus. Ein heller freundlicher Bau. Am Empfang sitzt ein bulliger Mann mit Glatze und Tattoos. Er trägt eine neongelbe Uniform mit der Aufschrift "Security". In der Eingangshalle flanieren Patienten im Pyjama, plaudern Besucher. Im Café sitzen Mark Purcell, Krankenhaussprecher, und John Coakley, der medizinische Direktor des Homerton Hospital.

    "Die Hauptprobleme hier in der Klinik sind - was Jugendliche angeht - Alkohol, Fettsucht, Drogen, Gewaltverbrechen. Häufigste Waffe ist das Messer. Viele Opfer und Täter kennen sich. Die Konflikte haben oft mit ihrer Bandenzugehörigkeit zu tun. Die Auslöser sind meist unglaublich trivial. Da reicht eine Bemerkung wie: Deine Freundin sieht aber heute besonders hässlich aus."

    Auf dem Flur sind gelbe Streifen aufgemalt. Sie führen wie Ariadnefäden zu den Abteilungen. Die meisten Zwischenfälle, bei denen Alkohol mit im Spiel ist, passieren an Wochenenden, erzählt Mark Purcell auf dem Weg zum Büro. Messerstechereien passierten meistens spontan, oft am helllichten Tag, auf dem Weg von oder zu der Schule.

    "Bei Jungs geht es stets um Prestige und Macht unter Gleichaltrigen: Du musst dich vor ihnen beweisen. Wenn du zu einer Gang gehörst, die für dich wichtiger ist als deine Familie, oder wenn du vielleicht gar keine richtige Familie hast, dann wirst du das tun, was deine Gleichaltrigen verlangen."

    Im Büro denkt Dr. Coakley über seine langjährige Erfahrung in der Klinik nach. Und über seine eigene Jugendzeit in Liverpool.

    "Auch damals gab es Messerstechereien. Man denke nur an die Teddyboys, die Mods, und die Rockers, in den 50er- und 60er-Jahren. In meiner Schulzeit gehörten wir alle zu einer Bande: Wer eine andere Schuluniform trug, wurde als feindlicher Stamm betrachtet und bekämpft. Der entscheidende Unterschied ist, dass heute viel mehr Jugendliche ein Messer tragen, um sich - wie sie meinen - zu verteidigen."

    Dr. Coakley steht auf. Gleich beginnt seine nächste Schicht. Er hat sich auf Trauma-Medizin spezialisiert. Gerade bei Stichverletzungen seien sich Täter und Opfer über den Ernst der Situation oft nicht klar, betont Mark Purcell.

    "Ihnen ist gar nicht bewusst, wie viel Schaden sie mit einem scharfen Objekt anrichten können, und dass ihr Opfer womöglich sehr schnell verblutet."

    John Coakley nickt. In Film, Fernsehen und Videospielen werde ein völlig falsches Bild gezeichnet: Da würden riesige Blutlachen gezeigt und Schwerverletzte, die entweder sofort zusammenbrächen oder aber jede Menge Zeit hätten, um doch noch gerettet zu werden. Die Realität sei ganz anders.

    "Die Opfer sehen aus, als wären sie ganz o.k., aber dann brechen sie plötzlich zusammen. Wenn eine wichtige Arterie verletzt ist, sieht man äußerlich kaum Blut. Umso gravierender sind die inneren Blutungen. Ich kann mich an einen jungen Mann erinnern, der wusste nicht einmal, dass er eine Stichwunde hatte. Er dachte, er sei zusammengeschlagen worden. Es war kein Tropfen Blut zu sehen. Als wir seinen Brustkorb öffneten, entdeckten wir literweise Blut, und einen Stich direkt durch die Leber."

    Dr. Coakley und seine Kollegen gehen regelmäßig in Schulen, um die Jugendlichen anhand drastischer Beispiele über die Wirkungen von Messern und Schusswaffen aufzuklären. Vor ein paar Jahren habe er deutlich mehr Notfälle behandelt, sagt Dr. Coakley. Er habe das Gefühl, das Schlimmste sei vorbei. Aber vielleicht liege das auch nur daran, dass die gravierendsten Fälle neuerdings direkt in eine Spezialklinik eingeliefert würden. Genau weiß das niemand. Denn Opfer, die überleben, gehen nicht unbedingt ins Krankenhaus, und erst recht nicht zur Polizei.

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    am Samstag ab 11:05 Uhr im Deutschlandfunk
    Gesichter Europas - "Auf Messers Schneide. Jugendgewalt in Großbritannien"