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Metropolen von unten
"Downtown is where the action is"

Wer eine Metropole besucht, der läuft zwar mit offenen Augen durch die Stadt, vieles bleibt dennoch verborgen. In ihrem Buch "Unter dem Asphalt" eröffnet Fachjournalistin Leoni Hellmayr dem Leser die unterirdischen Geheimnisse von Berlin bis Tokio, von New York bis Istanbul.

Von Martina Wehlte | 04.05.2015
    Ein Eingang zu den Katakomben in Rom
    Ein Eingang zu den Katakomben in Rom (dpa / picture alliance / Bernhart)
    Wer von der New Yorker, Pariser oder Berliner Unterwelt spricht, meint gewöhnlich die verborgenen kriminellen Milieus dieser Metropolen. Die Berliner Unterwelten e.V. ist aber durchaus nicht die Dachorganisation krimineller Vereinigungen in der Bundeshauptstadt, sondern ein Zusammenschluss von Fachleuten und Autodidakten, die sich mit den unterirdischen Bauten der Stadt beschäftigen: Architekten, Historiker, Handwerker, aber auch Schüler und Rentner erforschen und dokumentieren die Geschichte der vergleichsweise jungen Berliner Unterwelt. Das unterirdische Entrée, zu dem jährlich gut 250.000 Besucher vom Blochplatz aus hinabsteigen, ist von preußisch kargem Charme:
    "Flackernde Neonlampen beleuchten den Raum und geben ihm eine kalte, sterile Atmosphäre. Die Wände und Decken sind kahl und betongrau. Bei einer Temperatur von 10 bis 15 Grad herrscht ein muffiger Geruch."
    Dagegen nimmt sich die Cisterna Basilica in Istanbul geradezu pompös aus, wie sie in warmes Licht getaucht auf dem Einband von Leoni Hellmayrs Buch "Unter dem Asphalt" zu sehen ist. Die Autorin ist mit dem Stoff alter Geschichte und Archäologie nicht nur vertraut, sondern weiß ihn auch lebendig zu vermitteln. Sie folgt einem Taucher in das Istanbuler Wasserversorgungssystem zu der eindrucksvollen Zisterne mit ihrer unterirdischen Säulenhalle aus dem sechsten Jahrhundert, die, unweit der Blauen Moschee gelegen, 138 auf 65 Meter misst:
    "Nichts als klares, grün-blaues Wasser. Der Taucher ist ganz allein. Plötzlich erscheint wenige Meter vor ihm eine Säule, dahinter folgen weitere. Sie leuchten strahlend weiß, ihre Kapitelle sind mit Voluten und Kreuzsymbolen verziert. Bizarr und unwirklich sehen sie aus, an diesem stillen und dunklen Ort, der so weit entfernt von jeglichem Leben zu sein scheint."
    Im Berliner Tiefbunker
    Während schon Kaiser Justinian im früheren Konstantinopel ehrgeizige Bauvorhaben unter der Erde vorantrieb, begann man in Berlin erst im 19. Jahrhundert in den märkischen Sand zu graben, und zwar um Lagergewölbe für Bier zu schaffen. Dann führte das von Werner von Siemens dort geplante Verkehrsnetz zum konsequenten Ausbau eines U-Bahnsystems, dessen erster unterirdischer Bahnhof 1902 eröffnet wurde. Ab 1940 wurden unter Leitung des Architekten und Generalinspektors für die Reichshauptstadt Albert Speer eintausend Bunkeranlagen und Luftschutzstollen errichtet, die je 100 Personen aufnehmen sollten. Das Projekt war Teil von Adolf Hitlers "Führer-Sofortprogramm", das entsprechende Sicherungssysteme in allen deutschen Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern vorsah und das größte zweckgebundene Bauprogramm der Geschichte ist. In den 1970er und 80er-Jahren sollte es Schutz im nuklearen Ernstfall bieten.
    Tunnel und Kammern unter dem alten Peking
    Eine Frau mit Einkaufstüten in einer Einkaufsstraße in Peking.
    Was genau befindet sich unter dem Asphalt? (Wang Zhao / AFP)
    Es war auch die Angst vor einem atomaren Angriff der Sowjetunion, die Mao Zedong 1969 veranlasste, ein weitverzweigtes System von Tunneln und Kammern unter dem alten Peking anzulegen. Etwa 70.000 Menschen mögen bis zu Maos Tod daran gebaut haben und es ist weder bekannt, wie viele unter den primitiven Bedingungen umgekommen sind, noch, wie lang dieses Labyrinth überhaupt ist. Nach Schätzungen könnten es über 1.000 Kilometer sein. Der Besucherzugang im Quian-Viertel ist heute versperrt. Aber es gibt in Chinas teurer moderner Hauptstadt durchaus Leben unter der Erde: In vielen Luftschutzkellern unter den Wohnhäusern hausen 20 bis 25 Geringverdiener zusammengepfercht in einem Raum. Zwar haben die kleinformatigen Fotos in Leoni Hellmayrs broschiertem Band lediglich dokumentierenden Charakter, aber sie sind gut gewählt. Der Blick in einen möblierten Pekinger Keller, in die Katakomben von Paris oder in einen deutschen Tiefbunker sind aussagekräftig genug.
    Das genaue Gegenbild bietet die Untergrundstadt von Montreal, ein 32 km langes, warmes Tunnelsystem mit Geschäften, Cafés, Wasserfontänen und Sitzbänken, ein Areal des Entertainments und des Konsums. Es entstand seit den 60er-Jahren als Indoor City nach Vincent Pontes städtebaulichen Plänen unter dem Motto "Downtown is where the action is"
    "Um den Exodus der innerstädtischen Wirtschaft aufzuhalten, konzipierte der Urbanist sein Modell einer mehrstufigen Stadt. Fußgänger- und Verkehrswege sollten auf getrennten Ebenen liegen. Um die verstopfte Innenstadt zu entlasten, müssten Parkplätze und Geschäfte in den Untergrund verlagert werden."
    Diese Vision einer zweckmäßigen Infrastruktur im 20. Jahrhundert steht in Kontrast zu den unterirdischen Friedhöfen als Stätten eines abergläubischen Schädelkultes in Neapel oder den Aquädukten und Überresten von Villen unter dem Asphalt Roms sowie den stinkenden, 2500 Jahre alten Abflusskanälen der italienischen Hauptstadt. Leoni Hellmayr lädt zu einer spannenden Reise quer durch die Welt und durch alle Zeiten ein. Ihr Resümée:
    "Die Recherchen zu diesem Buch haben mich viel gelehrt und mir im wahrsten Sinne des Wortes neue Welten geöffnet. Der Untergrund ist voller Überraschungen."
    Leoni Hellmayr: "Unter dem Asphalt. Was unter den Metropolen der Welt verborgen liegt"
    192 Seiten, Theiss Verlag. Preis: 16,95 Euro