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Mich stört das Wort "deutsch" - Es geht um westliche demokratische Kultur

01.11.2000
    Heinemann: Friedrich Nietzsche kannte seine Pappenheimer. Es sei ein Merkmal der Deutschen, dass bei ihnen die Auseinandersetzung um die Frage was ist deutsch nie ausstirbt, meinte der Philosoph. Nietzsches Vornamensvetter Friedrich Merz hat mit seinem Einsatz für die freiheitliche deutsche Leitkultur viel Staub aufgewirbelt. Wir haben den Dichter und Liedermacher Wolf Biermann vor dieser Sendung gefragt, ob er mit diesem Begriff etwas anfangen kann.

    Biermann: Sie fragen mich natürlich hinterlistig, weil es so einen riesigen Rummel um dieses Wörtchen gibt. Und dass es so einen riesigen Aufschrei gibt aus allen Richtungen zeigt auf jeden Fall, dass er in ein Wespennest gestochen hat, dass er Dinge angerührt hat, die viele Menschen tief bewegen, wahrscheinlich so tief, dass sie es nicht mal selber anfassen möchten. Insofern lohnt es sich schon, darüber nachzudenken.

    Heinemann: Bewegt es Sie auch so tief?

    Biermann: Ach, die Wahrheit ist: nein. Oder wenn ich es richtig missverstehe, worum dort gestritten wird, dann interessiert es mich natürlich am Ende doch. Auf jeden Fall locken Sie mich mit Ihrer Frage in ein Feld, ein gefährliches Feld, gewiss kein sogenanntes weites Feld, wie von Fontane oder von Grass gebraucht. Ich denke eher an ein Mienenfeld bei diesen drei oder vier Worten, denn jeder in Deutschland missversteht in solch einer Maulschlacht ja jedes Wort so gut er nur irgend kann, und wir können ja alle prima missverstehen.

    Heinemann: Herr Biermann, der Streit findet ja im Zusammenhang statt mit der Ausländerpolitik. Die USA erwarten von Einwanderern ein Bekenntnis zur amerikanischen Kultur. Die Franzosen halten ihre republikanischen Werte und die französische Zivilisation hoch. Sollten sich Einwanderer, die zu uns kommen, an eine freiheitliche deutsche Kultur anpassen?

    Biermann: Wissen Sie, was mich stört an diesem Wort? Das ist das Wort deutsch. Obwohl ich ja nichts anderes mache, von morgens bis abends mein Deutsch zu lernen und zu schreiben. Deutscher als ich kann man gar nicht sein. Und trotzdem stört mich das Wort, weil was gemeint sein sollte ist ja, dass solche Menschen, die aus dem Ausland kommen und aus einer sehr verschiedenen Kultur als einer westeuropäischen - - Mit Franzosen würde man so nie reden, mit Engländern übrigens auch nicht, auch nicht mit Amerikanern. Es sind die Moslems, es sind die Türken, es sind die Araber, es sind die Leute, die im Grunde keine westliche demokratische Kultur kennen. Das ist es, worum es hier eigentlich geht, und da bin ich allerdings der Meinung, jemand der in diesen Gegenden der Welt leben möchte, der soll nicht das Recht haben, seine Frauen zu misshandeln, zu beschneiden, der soll sich an die demokratischen Regeln der westlichen Zivilisation halten, an die demokratischen Regeln. Wenn er dagegen verstößt, dann soll er wissen, dass er hier nichts zu suchen hat. Dann soll er in diese alte Barbarei, der wir zum Glück entronnen sind, zurückgehen.

    Heinemann: Herr Biermann, darf ich noch mal zurückkommen auf das Wort deutsch. Ich hatte eben gesagt, die Amerikaner sagen ganz klar, hier bei uns herrscht die amerikanische Kultur, und die Franzosen sagen, bei uns die französische.

    Biermann: Das ist doch eine Phrase, mein lieber. Sie können in New York geboren werden als Chinese und leben als Chinese und sterben als Chinese, nämlich im chinesischen Viertel in New York, oder als Spanier im spanischen Viertel, oder als Jude im jüdischen Viertel. Da brauchen Sie kein Wort englisch und kommen prima von der Geburt bis zur Bahre. Das ist doch Quatsch!

    Heinemann: Aber es regt sich doch keiner auf, wenn man von amerikanischer Kultur spricht, und in Deutschland regt man sich auf, wenn man von deutscher Kultur spricht.

    Biermann: Das hängt damit zusammen, dass wir mal den Knall hatten, dass an unserem deutschen Wesen die ganze Welt genesen sollte. Man kann nicht wie eine Eintagsfliege in der Weltgeschichte leben und so tun, als käme man nicht von daher, wo man herkommt. Die Deutschen haben nun mal diese Schande auf dem Rücken und dafür sollen sie sich nun nicht dauernd entschuldigen und krümmen, aber sie sollen bei allem was sie sagen wissen, dass das im Hintergrund steht. Deswegen ist dieses Wort auch ein aufreizendes Unwort. Wissen Sie, was mich noch mehr stört als dieses Unwort, das ist der Streit der Politiker um dieses Unwort, weil die nämlich alle, auch wenn sie duftende Wahrheiten sagen, auch wenn sie wohlriechende Binsenwahrheiten von sich geben zu dieser Frage, in dieser Debatte nur etwas von sich geben, um im Grunde wie eine stinkende Lüge und Heuchelei und Bauernfängerei Stimmen gut zu machen bei den Wählern oder in der öffentlichen Meinung. Das heißt, die reden eigentlich gar nicht über dieses Problem, sondern die spekulieren bei allem, was sie sagen und was sie schweigen, nur darauf, ob es gut ankommt beim Pack, ob sie damit Einschaltquoten kriegen und Wählerstimmen. Das ist eigentlich der Gestank, der mich stört an dieser ganzen Debatte. Dabei steckt natürlich ein tiefes Problem dahinter, das wir alle haben. Deswegen regen wir uns ja so auf.

    Heinemann: Sie sprachen eben von dem Wespennest, in das Friedrich Merz gestoßen habe oder hat. Er beklagt, dass es in Deutschland keine allgemein akzeptierte Definition dessen gibt, was wir unter unserer Kultur verstehen. Sehen Sie das auch so?

    Biermann: Das ist doch aus meiner Sicht ein Quatsch. Kultur, Kultur, was ist denn Kultur? Das hängt davon ab, ob man morgens lieber Brötchen isst oder Brei, ob man sich die Zähne putzt vor dem Essen oder nach dem Essen, ob man Goethe und Schiller liebt. Es geht sozusagen von den niedrigsten Dingen der Lebensgewohnheiten aus, ob man Frauen aufs Maul hauen, wenn sie ihre Meinung sagen, oder ob man ihnen zuhört und sie akzeptiert, ob man ein Kind schlagen darf oder nicht, ob man seine Meinung sagen darf oder nicht in einer demokratischen Gesellschaft. Das ist alles Kultur. Das ist ein solches Wald- und Wiesenwort. Das betrifft ja das ganze Leben. Das meiste von dem, was wir hier Kultur nennen, hat mit Deutschland im engeren Sinne überhaupt gar nichts zu tun. Das ist, wie ich schon sagte, mehr eine westliche, demokratische europäische Kultur.

    Heinemann: Herr Biermann, die Parallelität zweier Debatten ist im Moment ganz spannend. Die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer hat ihre Partei am Wochenende zu einem unbefangeneren Verhältnis zur deutschen Nation aufgerufen und betont, dass sie Deutschland liebe. Sie ist dafür in den eigenen Reihen schwer kritisiert worden. Können Sie das nachvollziehen, dass man für den Satz "ich liebe Deutschland", sofern er jetzt nicht aus der rechtsextremen Ecke kommt, Prügel bezieht?

    Biermann: Von diesen alten Kadern der SED, von den Erben der DDR-Nomenklatura, von diesem ganzen verlogenen Pack wird man für solch eine Binsenwahrheit geprügelt. Natürlich, das finde ich prima. Wir können doch gar nicht anders als dieses Land, in dem wir leben, lieben. Deswegen hassen wir es ja auch so. Deswegen regt uns doch alles auf. Ich bin gerne in Frankreich, Sie wahrscheinlich auch, obwohl ich weis, dass es dort auch Nazis gibt, obwohl ich weis, dass es dort auch tiefe soziale Konflikte und Ungerechtigkeiten und Sachen zum aufregen gibt. Aber warum bin ich so gerne da? Weil ich mich nicht verantwortlich fühle, jedenfalls nicht in dem Maße, wie ich für mein eigenes Land, das ich liebe, verantwortlich sein sollte. Im Sinne der Beziehung zu einzelnen Menschen haben Sie doch bestimmt schon den Satz gehört, ich liebe ihn oder ich liebe sie, weil anders ist sie gar nicht auszuhalten. Wissen Sie was? Sie hätten mich eigentlich nicht anrufen sollen in dieser Frage. Sie hätten den Hölderlin anrufen sollen. Herr Hölderlin sitzt doch im Turm in Tübingen. Das weis doch jeder. Der Hölderlin hat im Grunde diese ganzen Fragen endgültig gelöst.

    Heinemann: Nämlich wie?

    Biermann: Na ja in seinem Hyperion, in seinem wunderbaren Hyperion. Ich meine jetzt diesen berühmten vorletzten Brief, den jeder auswendig kann, Hyperion an Bellamien, wo er sagt, "so kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefasst, noch weniger zu finden. Demütig kam ich wie der heimatlose blinde Ödipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götter Heim empfing und schöne Seelen ihm begegnen" und so weiter. Dort heißt es, die Deutschen sind durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch die Religion barbarischer geworden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls und so weiter. "Es ist ein hartes Wort und dennoch sage ich es, weil es wahr ist. Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen", sagt Herr Hölderlin. "Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen. Ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände, Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt" und so weiter. Ich konnte das früher mal alles auswendig. Es ist auch herzzerreißend, wenn man unsere Dichter oder Künstler uns so was liest. "Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran. Du siehst sie sieben Jahre später und sie wandeln wie die Schatten, sind wie ein Feld, das der Feind mit Salz besät, dass es nimmer einen Grashalm treibt" und so weiter. Dann kommt noch dieses: "Wo ein Volk das schöne lebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht wie Lebensluft ein allgemeiner Geist. Da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung." Ah, das ist doch der Satz, den wir jetzt brauchen. "Die Heimat aller Menschen ist bei solchem Volk, und gerne mag der Fremde sich verweilen. Wo aber so beleidigt wird die göttliche Natur und ihre Künstler, da ist des Lebens bester Sinn" oder so ähnlich, "Freude, Lust hinweg". Ich weis nicht mehr genau, aber sinngemäß. "Und jeder andere Stern ist besser denn die Erde".

    Heinemann: Wolf Biermann zitiert Friedrich Hölderlin. Das gibt es nur im Deutschlandfunk. - Herr Biermann, ich muss auf einen Begriff, den Sie gerade gesagt haben, noch mal zurückkommen, nämlich wer den Genius liebt. Die Frage etwas umgedreht: Kann ein Volk, dessen Elite die eigene Geschichte so eindeutig negativ beurteilt, wie dies hierzulande der Fall ist, je gastfreundlich werden? Gehört zur Toleranz nicht auch das, dass man sich des eigenen sicher ist, so wie Sie Hölderlin zitieren können?

    Biermann: Da haben Sie Recht. Wer nicht bei sich selbst ist, kann auch nicht bei anderen sein. Hölderlin lebt übrigens am meisten nicht unter den Fremden, die nach Deutschland kommen, sondern darunter, dass er selbst als Deutscher ein Fremdling im eigenen Lande ist. Das ist doch die explosive Formulierung in seinem Hyperion. Das ist doch das, was uns heute noch aufregt. So fremd wie die Fremden in Deutschland sind wir doch allemal, die dieses Land lieben und es deswegen verändern wollen und verbessern wollen. Das ist alt wie die Menschheit, nichts besonderes. So geht es den Franzosen mit Frankreich genauso. Das ist nur unsere deutsche Version.

    Heinemann: Herr Biermann, sollen wir heute die Diskussion um die Leitkultur für beendet erklären?

    Biermann: Es ist eine Scheindiskussion des Politikerpacks. Die sind genagelt, wie Sie hoffentlich beim Deutschlandfunk nicht so brutal wie Ihre Kollegen beim privaten Fernsehen, auf Einschaltquoten. Davon geht eine grausame korrumpierende, lähmende und gleichmachende Wirkung aus. Das wissen Sie auch ohne mich. Deswegen möchte ich überhaupt nicht, dass Politiker über dieses Thema öffentlich reden. Die reden, ob Sie es wollen oder nicht, nur über ihre eigenen Interessen, nur über ihre eigenen Interessen, über die sie nicht hinwegschauen können.

    Heinemann: Und aus diesem Grund sprachen wir mit Wolf Biermann. - Herr Biermann, herzlichen Dank fürs Gespräch!