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Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus, Eine Gesamtdarstellung

Während der pseudoreligiöse Charakter des Nationalsozialismus für Ian Kershaw ein Erklärungselement für Hitlers Aufstieg und für die Zustimmung zur Kriegspolitik und zum Völkermord ist, glaubt Michael Burleigh den Nationalsozialismus verstehen zu können, in dem er ihn als politische Religion deutet. "Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung? ist das über 1000 Seiten lange Werk des Professors für Neuere Europäische Geschichte an der Universität Cardiff überschrieben, das jetzt in deutscher Übersetzung im Frankfurter Fischer Verlag erschienen ist. Unser Rezensent ist Volker Ulrich.

Volker Ulrich | 27.11.2000
    Die wissenschaftliche Literatur über den Nationalsozialismus füllt mittlerweile Bibliotheken, und dennoch schwillt die Zahl der Spezialuntersuchungen Jahr für Jahr weiter an. Um so mehr wächst das Bedürfnis nach einem orientierenden Leitfaden, nach einer Gesamtdarstellung, die Wege weist durch das Dickicht der Forschung. So greift man erwartungsvoll zum neuen Buch des englischen Historikers Michael Burleigh, das vom S. Fischer Verlag als erste "große historiografische Synthese" annonciert wird.

    Diesem Anspruch wird, das sei gleich vermerkt, das Werk nicht gerecht. Burleigh hat keine Gesamtgeschichte des Nationalsozialismus geschrieben und auch nicht schreiben wollen. Der Originaltitel "The Third Reich. New History" gibt korrekter wieder, worum es dem Autor geht. Er will, wie er im Vorwort sagt, "weder das Rad neu erfinden noch eine neuartige Gesamterklärung" liefern. Vielmehr geht seine Absicht dahin, auf bestimmte Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft neues Licht zu werfen. Dabei konzentriert er sich auf Bereiche, die in den letzten Jahren in der Forschung intensiv diskutiert worden sind: Polizeistaat und "Volksgemeinschaft", Eugenik und "Euthanasie", Judenverfolgung und Holocaust, "Rassische Neuordnung" und Lebensraumkrieg, Kollaboration und Widerstand. Die leitende Frage, welche die Fallstudien verbindet, lautet, wie es zu "dem fortschreitenden, zuletzt fast totalen moralischen Bankrott einer hochmodernen Industriegesellschaft im Herzen Europas" hat kommen können.

    Michael Burleigh geht von einem Erklärungsansatz aus, der vielversprechend klingt. Im Anschluss an die Arbeiten des Geschichtsphilosophen Eric Voegelin aus den dreißiger Jahren möchte er den Nationalsozialismus als eine "politische Religion" verstanden wissen. Hitler erscheint ihm als Erweckungsprediger, als ein "Messias", der es kraft seiner außergewöhnlichen demagogischen Fähigkeiten vermocht habe, sich eine gläubige Massengefolgschaft heranzuziehen. Mit diesem ideengeschichtlichen Ansatz, der den "Führer" der NSDAP als entscheidende Instanz wieder ins Zentrum rückt, wendet sich der britische Historiker zugleich gegen lange Zeit vorherrschende Tendenzen in der Sozialgeschichtsschreibung, die Radikalisierung der NS-Politik allein aus Struktur und Funktionsweise des Herrschaftssystems selbst zu erklären. So berechtigt die Kritik an manchen Überzeichnungen etwa Hans Mommsens ist - mit seiner Polemik gegen die "Hohepriester der modernen strukturalistischen Geschichtsschreibung", die er allesamt der "Orthodoxie" bezichtigt, schießt Burleigh ein ums andere Mal über das Ziel hinaus.

    Burleighs Verdikt vermag um so weniger zu überzeugen, als er seinen eigenen, als Alternative verstandenen Ansatz nicht konsequent durchgeführt hat. Eigentlich nur im ersten Kapitel, in dem er die Schwäche der Demokratie von Weimar und den Aufstieg Hitlers schildert, wird in Umrissen deutlich, worin der Erkenntniswert von Voegelins Theorie liegt: im Nachweis nämlich, wie geschickt die Nationalsozialisten an religiöse Gefühle und Rituale anknüpften und ihren Zwecken dienstbar machten. Die pseudoreligiöse Überhöhung von Politik mit dem früh ausgebildeten Führer-Kult im Zentrum wird als ein charakteristisches Element der NS-Bewegung hervorgehoben. Doch in den folgenden Kapiteln kommt Burleigh auf seinen Ansatz nur noch punktuell zurück, und am Ende verliert er ihn fast ganz aus dem Auge. Das scheint kein Zufall zu sein, denn zur Erklärung der Prozesse, die in Vernichtungskrieg und Holocaust mündeten, trägt das Konzept der "politischen Religion" in der Tat wenig bei.

    Damit soll nun keineswegs der Eindruck erweckt werden, als sei Burleigh mit seinem umfänglichen Werk gescheitert. Im Gegenteil: Jedes der insgesamt zehn Kapitel ist für sich genommen lesenswert, weil der Autor kräftige Akzente setzt, weil er die Forschungen klug reflektiert und hier und dort auch zu neuen Einsichten gelangt. Zu Recht macht er etwa darauf aufmerksam, dass die Zerstörung des Rechtsstaates durch willkürlichen Polizeiterror in den ersten Monaten nach der sogenannten Machtergreifung "kein prosaisches Vorspiel" zum späteren "finsteren Hauptstück" war, sondern bereits "die entscheidende Abkehr" von den Normen einer zivilisierten Gesellschaft markierte. In der Verachtung für das Recht sieht Burleigh eine fundamentale Verwandtschaft mit der anderen totalitären Diktatur, der Sowjetunion unter Stalin, ohne dass der Autor der Gefahr erliegt, über den Vergleich der beiden Totalitarismen die singulären Züge des NS-Systems aus dem Auge zu verlieren. Der Nationalsozialismus, sagt er an einer Stelle, sei insofern über den Bolschewismus hinausgegangen, als er nicht nur das Denken der Menschen, sondern auch ihre Physis manipulieren wollte.

    Der britische Historiker hat bereits vor Jahren mit einer Studie aber die "Euthanasie" auf sich aufmerksam gemacht, und das Kapitel darüber zählt zweifellos zu den wichtigsten seines neuen Werkes. NachdrückIich weist Burleigh darauf hin, dass die Eugenik zwar ein internationaler wissenschaftlicher Trend der Zwischenkriegszeit war, dass sie aber nirgendwo solch radikale Konsequenzen zeitigte wie in Nazi-Deutschland. Hier und nur hier führte die rassistische Utopie der "Züchtung" der vermeintlich "Besten" zur Sterilisation von Hunderttausenden von Menschen und - seit Beginn des Zweiten Weltkriegs - zum Massenmord an Geisteskranken.

    Als einen "in seiner Bösartigkeit einzigartigen Vorgang in der Geschichte der Menschheit" bezeichnet der Autor auch die Judenverfolgung, angefangen vom Boykott am 1. April 1933. Für Burleigh zeigt bereits dieser Tag jene Dialektik von staatlich gelenkten Direktiven und "spontanen" Aktionen "von unten", die wesentlich zur Radikalisierung der antijüdischen Politik beitrug. Zugleich warnt er vor Pauschalaussagen über die Haltung der Deutschen. In einem Abschnitt "Deutsche Juden und ihre Nachbarn" legt er eindrucksvoll dar, wie unterschiedlich die Reaktionen auf die Ausgrenzung der Juden ausfielen und wie wenig sie sich in das von Daniel Goldhagen gezeichnete Bild eines allenthalben grassierenden "eliminatorischen Antisemitismus" fügen wollen. Burleigh betont, dass sich unter den fanatischen Parteiaktivisten bereits vor 1939 eine mörderische, Mentalität herausbildete. Allerdings habe sich diese erst unter den Bedingungen des "Rassenkrieges" gegen die Sowjetunion zur vollen Wirksamkeit entfalten können.

    Dem Unternehmen "Barbarossa" widmet der Autor ein ausführliches Kapitel, wobei er die durch die Wehrmachtausstellung ausgelösten jüngsten Diskussionen in seine Überlegungen einbezieht. Nicht den geringsten Zweifel lässt er daran, dass der Feldzug gegen die Sowjetunion "von vornherein und mit System als verbrecherischer Krieg angelegt war". Daraus folgt für ihn freilich nicht, dass man das Gros der daran beteiligten deutschen Soldaten als Verbrecher bezeichnen dürfte. Auch was die Realität der deutschen Kriegführung an der Ostfront betrifft, bemüht sich Burleigh um eine differenzierte Wahrnehmung, ohne die Verwicklung von Wehrmachteinheiten in die Mordaktionen der Einsatzgruppen und Polizeibataillone in irgendeiner Weise zu bagatellisieren. Ebenso deutlich brandmarkt er die deutsche Besatzungspolitik, die durch planmäßige Aushungerung der Bevölkerung, Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften und wahllose Brutalität bei der Partisanenbekämpfung gekennzeichnet gewesen sei.

    Der britische Historiker scheut nicht davor zurück, die deutschen Täter in Nahaufnahme zu zeigen. Er vergleicht sie, ein Wort Nietzsches aufgreifend, mit "losgelassenen Raubtieren", die sich im "gesetzlosen Niemandsland" des Ostens als absolute Herren über Leben und Tod aufführen konnten. Andererseits verschweigt er nicht die Unterstützung, welche die deutschen Besatzer bei Teilen der einheimischen Bevölkerung fanden - bei Litauern, Letten, Ukrainern und Russen -, aber auch in Ländern Westeuropas und Skandinaviens - bei Franzosen, Belgiern, Holländern und Norwegern. Das Thema der Kollaboration ist in der deutschen Geschichtsschreibung aus verständlichen Gründen lange Zeit vernachlässigt worden. Burleighs Ausführungen dazu machen deutlich, wieviel für die Forschung hier noch zu tun ist. Das Ergebnis wird nicht, wie gelegentlich befürchtet worden ist, eine Relativierung der deutschen Schuld sein, wohl aber eine Europäisierung der Perspektive.

    Bemerkenswert zwiespältig urteilt Burleigh über den deutschen Widerstand gegen Hitler. Er plädiert dafür, den aufopferungsvollen Kampf vieler Kommunisten gegen die Nazi-Barbarei zu entheroisieren, weil er nicht losgelöst werden könne von den fragwürdigen Zielen, denen er gedient habe. Umgekehrt nimmt er jedoch die Vertreter des konservativen Widerstands vor dem Vorwurf in Schutz, sie seien keine Demokraten gewesen:

    "Anstatt die Zukunftsvorstellungen der Oppositionellen ahistorisch an den Maßstäben des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu messen, wird man ihm gerechter, wenn man sie als Produkte konkreter geschichtlicher Erfahrungen, Kompromisse und taktischer Anpassungen begreift ... Es liegt eine gewisse Böswilligkeit darin, einen Mann wie Hasselt retrospektiv einen Vorwurf daraus zu machen, dass seine Anschauungen sich nicht mit den Normen der modernen Nachkriegsdemokratie deckten; immerhin durchlief er seine prägenden Jahre noch in der vorrepublikanischen Ära. Es mag hierfür achtenswerte politische Gründe geben, aber gute Geschichtsschreibung ist das nicht."

    Wohl wahr, doch müsste diese verständnisvolle Nachsicht dann wohl auch für den kommunistischen Widerstand gelten. Die Darstellung schließt mit der Schilderung des Untergangs des "Dritten Reiches", der Züge einer "inszenierten Apokalypse" im Stile einer Wagneroper trug. Besonders interessant sind hier Burleighs Überlegungen zum alliierten Bombenkrieg, dessen Auswirkungen auf die industrielle Produktion und die Moral der Bevölkerung er höher veranschlagt, als dies häufig geschieht. Die Bilanz, die der Autor am Ende zieht, könnte deutlicher nicht ausfallen:

    Es dürfte wohl kaum je ein Reich gegeben haben, über das sich schlechterdings nichts Positives sagen Iässt."

    Selten sind die moralischen Verheerungen, die Hitlers Herrschaft angerichtet hat, so eindrucksvoll dargestellt worden. Darin liegt der Wert von Burleighs Buch. Und hätte der Verlag es nicht mit einem falschen Etikett ausgestattet, hätte der Autor selbst nicht einen Ansatz gewählt, der die ihm aufgebürdete Erklärungslast nicht tragen kann - man würde nicht zögern, das Werk bedeutend zu nennen.

    Volker Ulrich über Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus, Eine Gesamtdarstellung. Der im Frankfurter Fischer Verlag erschienene Band umfasst 1054 Seiten und kostet DM 88,-- Unser Rezensent Volker Ulrich hat jetzt im Münchner C.H. Beck Verlag eine Biographie vorgelegt, die das Leben des Sozialrevolutionärs und Rebellen Karl Plättner erzählt. Willi Jasper hat sie gelesen."