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Michael Hampe
Ein Aufruf zur Freiheit

"Philosophie kann man nicht wie Physik lehren." Das sagt der Philosoph Michael Hampe. Mit seinem neuen Werk "Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik" möchte er zeigen, was Philosophie und Literatur gegenüber den von ihm sogenannten erklärenden und behauptenden Wissenschaften zu leisten vermögen.

Von Thomas Palzer | 10.12.2014
    Aufgeschlagenes Buch "Erinnerung an meine traurigen Huren" von Gabriel Garcia Marquez, aufgenommen am 2.4.2012
    Literatur und Philosophie befähigen den Menschen laut Michael Hampe zur semiotischen Autonomie. (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    Für die Gegenwart ist Wissen zu einem Fetisch geworden - angefangen bei der Selbstbeschreibung als Wissensgesellschaft über den Hang zu enzyklopädischen Verfahren bis hin zu Big Data. Wer weiß, will mehr wissen, und eine Gesellschaft, die sich selbst als Wissensgesellschaft apostrophiert, hält Wissen für die Voraussetzung, um eine säkulare Form der Erlösung zu erlangen - so wie einst die autogerechte Stadt die Voraussetzung dafür schien, um durch das Auto erlöst zu werden.
    Nicht von ungefähr erhebt ein Begriff wie Transparenz, der in den vergangenen Jahren eine steile Karriere hingelegt hat, Anspruch darauf, dass alles gewusst wird. Und die Figur, die einen Begriff wie Transparenz eskortiert, ist der Nerd. Der Nerd ist eine Sozialfigur, die in den vergangenen Jahrzehnten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Ein Nerd ist jemand, der wenig Erfahrung, aber viel Wissen angehäuft hat, ein Naseweis und Vielwisser, bei dem der Rhythmus zwischen Zuschauen und Teilnehmen massiv aus dem Lot geraten scheint. Im Nerd drückt sich aus, dass Erfahrung gegenüber Wissen in unserer Kultur mehr und mehr abgewertet wird.
    "Der Wunsch nach noch mehr Wissen ist nur eine Kompensation des Weisheitsverlustes und der Handlungsunfähigkeit - eine Kompensation, die die Unfähigkeit zu handeln, die sie überwinden soll, nur noch steigert."
    Wer das sagt, ist der an der ETH Zürich lehrende deutsche Philosoph Michael Hampe. Hampes neuestes Werk trägt den Titel "Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik" und beschäftigt sich, wie es der Titel bereits indirekt anklingen lässt, mit der tief greifenden Krise in Lehre und Erziehung, die für ein Bildungssystem kennzeichnend ist, das mit jeder neuen Reform nur versucht, den Unsinn der vorangegangenen auszubügeln. Diese Krise hat ganz wesentlich mit der Abwertung von Erfahrung zu tun und mithin der Abwertung der Leiblichkeit, insofern der Leib ja der Ort für alle Erfahrung ist. Erfahrung ist verkörpert, was die Möglichkeit einer abstrakten, homogenen und monolithischen Vernunft, die einzig und allein auf der Ratio basiert, unwahrscheinlich macht. Aber das genau wird, wenn man so will, von der Sozialfigur des eher ungelenken Nerds bestritten.
    Der Königsweg ins Freie
    Nach dem Bankrott des Humanismus sind es heute allein Wissen - und wirtschaftlicher Erfolg, an dem sich unsere Biografien orientieren. Und in den Fabriken, die Wissen und Theorien schaffen, geht es längst nicht mehr um die Bildung von Menschen, sondern nur noch um die Ausbildung zur Führungskraft.
    "Eine Ausbildung ist für die Universitätsleitungen nur dann noch wichtig, wenn man für sie viel Geld verlangen kann. Deshalb stellen sie naturgemäß die business studies ins Zentrum ihrer Hochschulen und nicht die humaniores und versuchen in Hochschulrankings ihre Institution auf einen guten Platz zu bringen, damit sie solvente Studierende anziehen können, die möglichst hohe Studiengebühren für auf dem Arbeitsmarkt begehrte Abschlüsse zahlen können."
    Michael Hampe verfolgt mit seinem weit gespannten Essay die Verteidigung des Individuums, wobei die Ansprüche, die vonseiten eines immer weiter um sich greifenden Szientismus erhoben werden, zurückgewiesen werden. Hampe will zeigen, was die Humaniora - also vorrangig Philosophie und Literatur - gegenüber den von ihm sogenannten erklärenden und behauptenden Wissenschaften zu leisten vermögen - als Zeugnisse der Erfahrung, die von Einzelwesen erzählen, statt Doktrinen für alle zu verbreiten. Erfahrungen lassen sich mit Theorien nämlich nicht ausschöpfen, da ihre Zusammenhänge weder rein kausal noch rein rational nachvollziehbar sind. Eine Vielzahl von Reflexionsformen und Erkenntnisstrategien leiten sich aus den Erfahrungen ab, die Menschen zustoßen und machen.
    Da die Menschen auf die Welt, aus der sie hervorgegangen sind, reagieren, entwickeln sie verschiedene Strategien, um Annahmen und Behauptungen zu begründen und zu Doktrinen aufzuplustern.
    Da in der Auseinandersetzung mit einem im sokratischen, also fragenden Sinn philosophischen oder literarischen Werk die Erfahrungen eines Individuums geteilt werden, lässt sich Einblick in die unterschiedlichen Formen der Vernunft und Wirklichkeitsauffassungen gewinnen. Das übt die Einzelwesen in ihre Befähigung ein, sich auf sich selbst und auf andere reflexiv zu beziehen. Der Königsweg ins Freie.
    "Wer sich die Begriffe der Masse, Energie, Kraft, Ladung, Beschleunigung und so weiter angeeignet hat, verfügt über einen Wissensgrundstock, auf den er sich verlassen kann. Wer sich dagegen zum ersten Mal mit Spinoza oder Whitehead auseinandersetzt, nachdem er schon Platon und Aristoteles oder Descartes und Kant studiert hat, muss umlernen."
    Die Geistesfreiheit der europäischen Zivilisation
    Die Philosophie fängt also jedes Mal von vorn an, was nur der als Mangel missverstehen kann, der die szientifische Ideologie des Fortschritts nicht als solche durchschaut. Im Hinblick auf Erfahrungen gibt es keinen Fortschritt - was sollte das auch bedeuten? Trauer, Enttäuschung, Glück und das Erlebnis, zum ersten Mal in eine Erdbeere gebissen zu haben, lassen sich nicht optimieren oder gar in einem Ranking bewerten. Jede Erfahrung ist einmalig und einzigartig - und deshalb ist auch jedes Lebewesen, das sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass es das Leben erlebt, einmalig und unwiederholbar. Sokratische Philosophie, also eine, die Doktrinen befragt, und Literatur bezeugen, was leben und erleben heißt: Nämlich, dass leben mit einem inneren Erlebnis verbunden ist. Um es mit Hugo von Hofmannsthal zu sagen: Stunde, Luft und Ort machen alles.
    "Sokratische Fragen an die Neurowissenschaften, ob sie unter "freiem Willen" wirklich das verstehen, was man landläufig darunter versteht, oder an die Politik, ob die Erhöhung des Bruttoinlandproduktes irgendetwas mit Gerechtigkeit und Glück zu tun habe und was die Politik jenseits der Wahlplakate überhaupt unter Gerechtigkeit und Glück versteht, aber auch Fragen an die Erziehungsinstitutionen, zu welchen Erwachsenen sie die Kinder eigentlich erziehen wollen: Zu besonders konkurrenzfähigen oder besonders gerechten und glücklichen Menschen, solche Fragen sind nicht nur in der Universität relevant. Sie überhaupt stellen zu können, macht die Geistesfreiheit der europäischen Zivilisation aus."
    Mit anderen Worten: Nicht-doktrinäre Philosophie und Literatur dienen der Belehrung und Erziehung, und zwar - genauer - der Erziehung des Herzens, der éducation sentimentale. Das gelingt ihnen, indem sie Distanzierung ermöglichen und dadurch die Selbstbestimmung steigern, das ist die Fähigkeit, sich zum eigenen Leben zu verhalten. Anders als Wissenschaften, die wie die Physik oder Ökonomie Behauptungen aufstellen, geht es Erzählungen nicht darum, Gefolgschaften zu organisieren. Behauptungen sind unfähig, für ein ja stets aktuell zu lebendes Leben Orientierung zu gewährleisten. Bestenfalls stellen sie Wissen zur Verfügung, doch ...
    "... wie sehr Menschen den Umfang und Genauigkeit dieses Wissens auch ausdehnen, es liefert ihnen deshalb doch keine Orientierung, wie sie mit ihren Bedürftigkeiten und ihrer Sterblichkeit umgehen, was sie mit ihrem Leben machen sollen."
    Systeme sind, wie Hampe zeigt, immer doktrinär, denn sie basieren auf Regeln - und Regelfolgen beruhen ganz unten am "Boden" auf einer Behauptung, in der sich letztlich nur eines zeigt: dass sich das Mächtigere gegen das Schwächere in irgendeiner Form durchgesetzt hat. Systeme führen zur Abrichtung, wie Michael Hampe drastisch bemerkt.
    Im Grund vertritt der Philosoph eine Art kybernetisches Modell der Wirklichkeit, insofern diese von uns nur deshalb erkannt werden kann, weil wir unsererseits von ihr gewusst werden - um es pathetisch und im Sinne von Alfred North Whitehead auszudrücken, an dem sich Hampe im weiteren Sinn orientiert. Nicht-doktrinäre, sokratische Philosophie und Literatur sind Formen des Weltzugangs, die Wirklichkeit erschließen - und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer rationalen Struktur. Wie für Richard Rorty hebt Hampe die Trennung zwischen Literatur und Philosophie auf, aber anders als Rorty nicht, weil es auf die Wahrheit der Gehalte nicht mehr ankäme, sondern ganz im Gegenteil, weil die unterschiedlichen Wahrheiten der Einzelwesen endlich zur Geltung gebracht werden müssen. Hampe ist kein Vertreter der Postmoderne und des radikalen Konstruktivismus. Vielmehr insistiert er auf die Wahrheitsfähigkeit jeder Perspektive, die ein Einzelwesen einnimmt. Denn umgekehrt "weiß" die Wirklichkeit um jede Perspektive, die man zu ihr einnehmen kann. Das macht sie so opak, dass sie von keiner Theorie erreicht, geschweige denn durchschaut werden kann.
    Mit Hampe zu reden, geht es also darum, gegenüber den Doktrinen dissidentes Sprechen einzuüben und seine eigene Stimme zu finden. Denn erst dann ist es dem Einzelnen möglich, auf die Welt kreativ zu antworten - nicht gemäß vorgeprägter Muster und Abrichtungen.
    Vernunft im Plural
    Literatur und Philosophie befähigen den Menschen zur, wie der Autor es ausdrückt, semiotischen Autonomie, folglich dazu, Bevormundung zurückzuweisen - auch und gerade die der Wissenschaft und des Experten. Literatur und Philosophie (im sokratischen Sinn als nie endende Rede und Gegenrede) stellen Lehren infrage und Erzählungen Behauptungen gegenüber und versuchen so, das Kommen und Gehen der Einzelheiten, aus denen die Welt beziehungsweise das Leben besteht, in ihrer unauslotbaren Bedeutung immer wieder neu auszulegen.
    In einem Interview mit dem Philosophie Magazin sagt Hampe sehr anschaulich:
    "Wenn man erst einmal merkt, wie Sokrates es beispielhaft getan hat, dass es einen Spielraum gibt, über die Welt zu sprechen, und vor allem, wenn man merkt, dass weder die Welt "da draußen" noch andere Menschen endgültig festlegen, wie wir über die Welt zu sprechen haben, dann kann ich mir überlegen, ob ich ebenfalls so wie die anderem sprechen und dementsprechend handeln will. Oftmals findet so etwas wie ein Kidnappen der individuellen Existenz durch allgemein anerkannte Sprechweisen statt, und das Ergebnis sind Menschen, die sich in ihrem eigenen Leben und Reden nicht wiedererkennen."
    Das Suchen nach Wahrheit ist kein Privileg der Wissenschaft, denn Wahrheit lässt sich nicht nur über die Vernunft oder, besser, nicht nur über die rationale Vernunft erschließen. Auch im Alltäglichen und in den "Volkskulturen" sucht man mit unterschiedlichen Strategien nach Wahrheit. Auch die Kunst sucht nach Wahrheit, ohne dass sie deshalb immer vernunftgeleitet wäre. Ähnlich wie der Methodenpluralist Paul Feyerabend erkennt Hampe in der Vernunft nur deren Plural: Vernünfte. In ihnen offenbart sich eine Vielzahl von Denkstilen - so wie es in der Kunst vielfältige Stile gibt. Theorie und Erzählung, wissenschaftliche und ästhetische Reflexion lassen sich darum kaum voneinander scheiden.
    Hampe zeigt in seinem Essay "Die Lehren der Philosophie", dass Doktrinen und Systeme dem Individuum niemals gerecht werden, weil sie die Erfahrungen des Einzelnen abwerten und die Subjekte über einen Kamm scheren - so, als handelte es sich bei Einzelwesen nicht um Einzelwesen, sondern um Soldaten.
    Hampe sympathisiert mit einem Gedanken des amerikanischen Philosophen Richard Rorty, der in der Literatur die einzige Möglichkeit gesehen hat, wo sich säkulare und aufgeklärte Gesellschaften noch "religiös" betätigen können. Sein Buch "Die Lehren der Philosophie" ist ein Essay über und ein Aufruf zur Freiheit.
    Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp Verlag, 2014. 455 Seiten, gebunden, 24,95 Euro.