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Michael Köhlmeier
Chaplin und Churchill am Strand

Die unerwartete, etwas bizarre Männerfreundschaft zwischen Charlie Chaplin und Winston Churchill ist Thema in Michael Köhlmeiers neuem Roman "Zwei Männer am Strand". Sie haben eine existenzielle Gemeinsamkeit: den "schwarzen Hund".

Von Ursula März | 06.11.2014
    Eine mondäne Dinnerparty in Santa Monica im Jahr 1927; die Haute Volaute aus dem nahen Hollywood hat sich versammelt, feiert, stellt sich zur Schau. Zwei der Gäste haben keinen rechten Spaß am Smalltalk-Betrieb und verdrücken sich ins Dunkel der Strandterrasse. Der eine ist eher klein, fast schmächtig, der andere ein körperlicher Koloss mit notorischer Zigarre im Mundwinkel. Sie kennen sich nicht persönlich. Nach einer Weile kommen sie flüsternd ins Gespräch und was nun folgt, darf man sich als einen romantisch-mystischen Moment des Erkennens gegenseitiger Seelenverwandtschaft vorstellen. Denn die beiden, äußerlich so asymmetrischen Männer erspüren bei einem kleinen Strandspaziergang eine existenzielle Gemeinsamkeit: den "schwarzen Hund". So nennen sie die Depressionen, die sich quartalsmäßig über ihr Gemüt her und sie zu Selbstmordkandidaten macht. Nach kaum einer Stunde Bekanntschaft schließen sie einen "Heiligen Pfadfinderpakt": Wann immer der schwarze Hund sie attackiert, werden sie sich zu Hilfe eilen.
    Aus dieser Schlüsselszene geht Michael Köhlmeiers neuer Roman "Zwei Herren am Strand" über eine unerwartete, etwas bizarre Männerfreundschaft hervor. Ob sich die Szene genauso abgespielt hat, kann der österreichische Schriftsteller Köhlmeier natürlich nicht wissen, denn er war nicht dabei. Er fantasiert sie der historischen Realität hinzu. Dass Charlie Chaplin und Winston Churchill sich kannten und über Jahre in Kontakt standen, das allerdings ist verbürgt. Ohne Mühe finden sich im Netz Bilder, die den wuchtigen britischen Premierminister und den schmächtigen Filmkünstler gemeinsam zeigen. Zwei Giganten der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, die der Roman von ihrer menschlichsten Seite zeigt, einer fast kindlichen Hilfsbedürftigkeit. Darin liegt die Pointe der Erzählung. Bereits in "Abendland", Köhlmeiers 2007 erschienenem Riesenepos, tauchen Chaplin und Churchill als Randfiguren auf, nun stehen sie im Zentrum einer raffinierten Erzählkonstruktion.
    Erweiterter Blick über die Protagonisten hinaus
    Anders als Daniel Kehlmann, der in seinem Bestseller "Vermessung der Welt" ein ähnliches Sujet bearbeitet, die historisch-fiktive Doppelbiografie des Mathematikers Gauß und des Naturforschers Humboldt, setzt Michael Köhlmeier einen Ich-Erzähler ein, dessen Geschichte weitläufig mit dem Duo Chaplin-Churchill verbunden ist. Er ist Lehrer für Geschichte und Literatur an einem Gymnasium und tritt in seiner Freizeit als Clown auf, eine Passion, in der sich folglich die Profession Chaplins spiegelt. Der Vater des Ich-Erzählers wiederum, der den Sohn als Witwer allein aufzog, ist ein Bewunderer Winston Churchills, er arbeitet sogar an einer Churchill-Biografie. Im Jahr 1974 lernt er bei einem Churchill-Kongress den Privatsekretär des Premierministers kennen. Sie schreiben sich über Jahre hin Briefe, und diese, auf insgesamt tausend Seiten angeschwollene Korrespondenz, die der Sohn erbt, ist nun die Grundlage des Romans "Zwei Herren am Strand".
    So referiert könnte diese postmodern angehauchte Konstruktion kühler und komplizierter klingen als sie sich tatsächlich liest. Sie erlaubt dem Roman jedoch etwas Wesentliches: die Erweiterung des Blicks über die zwei Protagonisten hinaus auf die politische Weltlage der Dreißigerjahre und den bedrohlichen Aufstieg Adolf Hitlers. Nicht zufällig endet die Binnenerzählung über das Freundschaftspaar Chaplin und Churchill im Jahr 1940. Im Kampf gegen Hitler ist dieses Jahr entscheidend, einem Kampf, an dem der Politiker und der Filmemacher an vorderster Front, wenn auch in unterschiedlicher Weise, beteiligt waren. Churchill wurde im Jahr 1940 britischer Premier und übernahm die militärische Führung gegen Deutschland. Charlie Chaplin brachte den Film "Der große Diktator" heraus, eine unerschrockene parodistische Demontage Hitlers.
    Vielleicht ist die allegorische Figur des schwarzen Hundes, gegen den Churchill und Chaplin ein Bündnis schließen und in dem unschwer ein Sinnbild Hitlers zu erkennen ist, eine Spur zu deutlich und zu oft in den Roman eingeführt. Aber an seinem Esprit und seinem stilistischen Schliff ändert dies nicht das Geringste.
    Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand. Roman, Hanser Verlag 2014, 253 Seiten, 17,90 Euro.