Donnerstag, 18. April 2024

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Michael Lewis
"Erhöhtes Risiko"

Washingtons Amtsstuben und ihre Gegner – das eigene Volk. Der Autor Michael Lewis findet Unfähigkeit auf der einen, Abneigung und Misstrauen auf der anderen Seite vor. In "Erhöhtes Risiko" gibt er jenen eine Stimme, die den Betrieb am Laufen halten und vor Fehlentwicklungen warnen.

Von Martin Tschechne | 08.04.2019
Das Buchcover Michael Lewis: "Erhöhtes Risiko", im Hintergrund das Weiße Haus in Washington
Michael Lewis schaut auf das, was im Schatten der rhetorischen Blendgranaten von Donald Trump passiert (Campus Verlag; Hintergrundbild: dpa-Bildfunk / AP / Andrew Harnik)
Eines Tages, sagt Michael Lewis, und es klingt wie ein Seufzen, eines Tages werde jemand die Geschichte der sonderbaren Beziehung zwischen den Bürgern der USA und ihrem Staat schreiben. Denn ob es um die Warnungen des staatlichen Wetterdienstes geht, um sauberes Trinkwasser, den radioaktiven Müll der Atomwaffenproduktion, oder um die Förderung strukturschwacher Regionen - immer wieder erlebten Beamte, wie kategorisch die Bevölkerung jede staatliche Koordinierung ablehnt. Und immer wieder fragt sich etwa Lillian Salerno, die frühere Förderbeauftragte des Landwirtschaftsministeriums, wie diese Feindseligkeit zu erklären sei - selbst bei gebildeten Menschen, selbst bei solchen in öffentlichen Ämtern.
"Überall im Süden habe ich mit Politikern gesprochen, von denen ich regelmäßig zu hören bekam: 'Wir hassen Washington. Ihr nervt.' Darauf ich: 'Seid ihr euch da so sicher? Meine Abteilung hat dieses Jahr eine Milliarde in eure Wirtschaft gesteckt!' Und gedacht habe ich mir: Wir sind doch der einzige Grund, dass euer beschissener Bundesstaat noch nicht längst vor die Hunde gegangen ist.
Lillian Salerno ist eine von vielen. Der Wirtschaftsjournalist Michael Lewis hat sich kurz nach Beginn der Ära Donald Trump auf eine lange Reise durch die vordergründig weniger spektakulären Ressorts der Verwaltung gemacht. Seine Ziele waren also die Ministerien für Energie, Landwirtschaft und Handel: riesige Apparate, die mit Milliarden-Etats und Hunderttausenden von Mitarbeitern für das Funktionieren des Staates zu sorgen haben - für die Entwicklung seiner Ressourcen, die Gesundheit seiner Bürger, die Kontrolle des Miteinanders. Und die dennoch für gewöhnlich im Schatten stehen, wenn die Macht im Lande ihre politischen Blendgranaten zündet. Wenn sie fremde Mächte attackiert, internationale Abkommen aufkündigt, das Sozialsystem aushöhlt und Mauern baut.
Welche Arbeit nicht getan wird
Vorsicht, mahnt Lewis dann. Die wirklichen Mauern entstehen derweil in den Köpfen. Und die wirklichen Gefahren drohen da, wo niemand hinschaut.
"Vielleicht war es in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch nie so interessant zu erfahren, was in diesen grauen Gebäuden vor sich geht. Und vielleicht hat die Politik ihre Arbeit dort noch nie derart inkompetent oder gar nicht getan."
Es sind Momentaufnahmen einer nur auf den ersten Blick irrationalen Politik, die Lewis ausbreitet. Denn tatsächlich steckt ein zynisches Kalkül dahinter, wenn leitende Posten in einem Ministerium nach einem Regierungswechsel verzögert oder gar nicht oder wenn, dann mit provozierend unfähigen und desinteressierten Parteisoldaten besetzt werden.
Je größer die Vorbehalte gegen den Staat, so dieses Kalkül, desto leichter kann der sich aus seiner Zuständigkeit herausziehen. Gut zwei Jahre nach dessen Amtsantritt fährt Lewis also eine lange Kette von Zeuginnen und Zeugen auf, die das Programm des Präsidenten als Strategie der gezielten Destruktion entlarven.
Kathy Sullivan ist eine von ihnen. 1984 war sie Astronautin, die erste Frau, die einen Spaziergang im Weltraum unternahm. Später landete sie im Handelsministerium. Ihre Aufgabe dort: Entwicklung und Einsatz von Satelliten zur Beobachtung des Klimas. Und darauf aufbauend: die immer bessere Vorhersage von Unwetter-Katastrophen.
Das große Misstrauen
Die wahre Herausforderung allerdings: herauszufinden, warum die Menschen in bedrohten Gebieten die sehr verlässlichen Warnungen immer wieder in den Wind schlagen. Und ihre deprimierende Antwort: Eben weil diese Warnungen vom Staat kommen.
"Sie hätte in ihr Büro gehen, die Tür hinter sich zumachen, sich an die Stirn schlagen und sich sagen können, dass es nicht ihre Aufgabe war, die Bürger vor ihrer eigenen Dummheit zu retten. Stattdessen fragte sie sich: Warum verstehen wir unsere Bürger nicht?"
Es ist eine Konstante der amerikanischen Kultur, dem Staat aus tiefstem Herzen zu misstrauen. Ein Erbe vielleicht aus der Zeit der Pioniere, als jeder im Kampf um das Überleben in der Wildnis auf sich allein gestellt war. Längst vergangene Zeiten - doch inzwischen haben konservative Politiker erkannt, dass sich der fortgeschriebene Mythos sehr effektiv gegen das eigene Volk einsetzen lässt - indem sie nämlich die Freiheit des Einzelnen immer lauter und immer schamloser definieren als Freiheit von sozialer Absicherung, von gerecht verteilten Bildungschancen und einem allgemeinen Gesundheitssystem.
Eines Tages, so hatte Lewis angekündigt, werde jemand die lange und merkwürdige Geschichte der Beziehung zwischen den Bürgern der USA und ihrem Staat schreiben. Sein Buch "Erhöhtes Risiko" liefert zumindest Einblicke, die je nach Temperament und Tagesform Leser wütend machen oder verständnislos den Kopf schütteln lassen werden. Und die zumindest eines belegen: Wer alle Widersprüche der amerikanischen Politik auf das erratische Verhalten des Präsidenten reduziert, auf seine psychischen oder intellektuellen Defizite - der verkennt eine Wirklichkeit, die viel größer und komplexer ist. Und offenbar auch viel kaputter.
Michael Lewis: "Erhöhtes Risiko",
Campus Verlag, 223 Seiten, 24,95 Euro.