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Michael Wolffsohn
"Identität ist fließend"

Der Historiker Michael Wolffsohn ruft dazu auf, "die Vielheit unserer Identitäten zu akzeptieren". Identität sei "nichts Statisches", sagte er im Dlf. Angehörige religiöser Minderheiten, die Toleranz erwarten, müssten selbst tolerant sein. Er habe "nichts gegen den Kreuzerlass" in Bayern.

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main | 28.06.2018
    Der Historiker Michael Wolffsohn bei einer Lesung aus seinem Buch "Deutschjüdische Glückskinder" im Jüdischen Museum Berlin
    Michael Wolffsohn bei einer Lesung aus seinem Buch "Deutschjüdische Glückskinder" im Jüdischen Museum Berlin (imago stock&people / Uwe Steinert)
    Andreas Main: Wir tun uns schwer mit dem Nachdenken über Identität. Die einen tendieren dazu, eine überzeitliche Identität zu beschwören. Andere halten dagegen, Identität sei ein Konstrukt, das sich im geschichtlichen Prozess fortwährend wandelt. Und wie bei so vielen gesellschaftlichen Fragen wird auch diese Frage debattiert, als gäbe es nur Schwarz-Weiß. Grautöne sind Mangelware, wenn es um Identitätsfragen geht, egal ob religiös, konfessionell, national, regional, egal ob zugezogen oder schon länger verwurzelt.
    Michael Wolffsohn wird da hoffentlich weiterhelfen können. Der Historiker ist in Tel-Aviv geboren. Er ist 71 Jahre alt, seit 1954 lebt er in Deutschland, also ein Wandler zwischen den Welten schlechthin. Als jüdischer Deutscher mischt er sich in so manch eine politische Debatte ein, aber auch in Religionsdebatten, etwa hier bei 'Tag für Tag - Aus Religion und Gesellschaft' im Deutschlandfunk. Wir wollten uns gegenübersitzen und uns in die Augen schauen können. Deswegen zeichnen wir dieses Gespräch in Berlin auf. Willkommen und guten Tag, Michael Wolffsohn.
    Michael Wolffsohn: Guten Tag, vielen Dank für die Einladung.
    Patriot ist, wer sich kümmert
    Main: Sie sind ein deutsch-jüdisches Glückskind, so der Titel Ihres jüngsten Buches von 2017, warum?
    Wolffsohn: Erstens, weil ich aus einer Familie von Glückskindern komme. Das kann ich ganz leicht erklären. Meine Großeltern, die in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts geboren sind, meine Eltern um 1920, und alle haben überlebt - und das ist alleine schon, wenn man an das 20. Jahrhundert und die deutsch-jüdische Geschichte denkt, ein Glücksfall. Meine inzwischen 95-jährige Mutter hatte von sich selbst auch immer wieder gesagt, gerade deshalb bin ich - Zitat meiner Mutter - ein Glückskind. Zweitens bin ich selber ein Glückskind, Jahrgang 1947. Ich bin also als Historiker auch durchaus in der Lage, die eigene Lebensphase in einen historischen Zusammenhang einzuordnen. Wo, wann und wie lange gab es eine vergleichbar lange Friedensphase? Das alles ist ein Glück.
    Main: Um diese Identitätsfrage persönlich weiterzuspinnen, sind Sie, Michael Wolffsohn, ein Patriot?
    Wolffsohn: Ein Patriot - muss man natürlich erklären, was das ist. Wenn ein Patriot so verstanden wird, dass er oder sie die Hacken zusammenknallt und sagt auf Hochdeutsch, "Right or Wrong, my Country", dann ist das übler Nationalismus mit aggressivem nicht nur Unterton, sondern klar erkennbaren Zeichen.
    Wenn man aber den Patrioten versteht als Citoyen, also ein engagierter Bürger oder um es im englischen Sprachbereich zu sagen, Concerned Citizen, also der Citoyen, aber noch mit dem Adjektiv Concerned, also der sich Sorgen macht, kümmert, also ein Kümmerer um das eigene Gemeinwesen, und meine Definition eines Patrioten ist jemand, der oder die sich für das eigene Gemeinwesen einsetzt - weil es das eigene Gemeinwesen ist.
    Und jetzt kommt ein Kalauer: Ich habe überhaupt nichts gegen Eskimos, aber ich lebe nicht unter Eskimos, sondern in Deutschland. Und weil ich in Deutschland lebe und dieses Gemeinwesen in seinen nachweisbaren Qualitäten schätze und mithelfen möchte, das zu bewahren und auszubauen, verstehe ich mich als Patriot.
    "Striktheit ist immer ein Krisensymptom"
    Main: Lassen Sie uns zur Religion kommen. Welche Rolle sollte, müsste sie aus Ihrer Sicht spielen in diesen Identitätsdebatten, die wir in diesen Tagen führen?
    Wolffsohn: In Bezug auf die Religion, ehrlich gesagt, gar keine, weil - und das ist eine große Errungenschaft der modernen Gesellschaft schlechthin - Religion, das heißt das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, Privatsache zu sein hat. Das ist die erste allgemeine Antwort. Die zweite, wir dürfen ja nicht oder wir können ja nicht so tun, als ob die institutionalisierten Religionen völlig krisenfrei und nicht krisengeschüttelt wären. Das Gegenteil ist der Fall.
    Nun gibt es wiederum ein Gegenargument, das heißt nämlich: Seht doch an, der Islam, nicht zuletzt in seiner fundamentalistischen Variante, ist in einer Phase der Hochkonjunktur. Aber Hochkonjunkturen dieser Art sind auch eine Reaktion auf Verunsicherung. Beispiel: wenn Sie sich Fotos aus der islamischen Welt in den 20er-, 30er-Jahren ansehen, etwa Strandszenen, werden Sie kaum Unterschiede erkennen zwischen – sagen wir mal – Fotos des Strandbads Wannsee und am ägyptischen Mittelmeer. Ich habe gerade eine Ausstellung von Fotos aus Ägypten in den 20er- und 30er-Jahren gesehen. Das wäre heute undenkbar in Ägypten, vielleicht zumindest an manchen Stränden schon, aber nicht in anderen islamischen Staaten. Oder dass die Frauen ohne Kopftuch herumgelaufen sind.
    Demonstranten feiern in Teheran am 17. Januar 1979 die Flucht des Schahs nach Ägypten
    Re-Islamisierungswelle seit der iranischen Revolution 1979 (imago stock&people)
    Seit wann sind sie mit dem Kopftuch so sichtbar überall? Seit - im Grunde genommen - der iranisch-islamischen Revolution, die überschwappte auch auf die sunnitische Welt. Lange Rede, kurzer Sinn: Auf eine Radikalisierung im politisch-gesellschaftlichen Feld ist dann auch diese strikte Religiosität entstanden. Aber Striktheit ist immer auch ein Krisensymptom. Wenn die Striktheit betont werden soll, dann heißt das, im Grunde genommen ist das Innere wackelig und ich muss von außen ein Gerüst aufbauen, damit das Innere gehalten wird.
    Main: Heißt das, dass diejenigen, die als eine Gegenbewegung dazu aufrufen, die eigene christliche Identität zu stärken und zu stabilisieren, dass die auch im Krisenmodus unterwegs sind?
    Wolffsohn: Aber selbstverständlich! Gerade die Versuche, sich sozusagen als christlich zu verstehen in Abgrenzung von der immer größer gewordenen Zahl von Muslimen. Also, wenn ich mich christlich abgrenze, dann muss ich auch das Christentum kennen und praktizieren, aber das ist doch eine Illusion. Wir kennen alle die Zahl der Kirchenaustritte, nicht nur in Deutschland. Vergleichen wir einmal Italien von heute mit dem Italien der 50er-Jahre. Das Gleiche gilt für Spanien. Beide, Italien und Spanien waren tief christlich-formalistisch, wenn man das so sehen will und inzwischen sind das auch völlig freie, wenn Sie wollen fast atheistische Gesellschaften geworden.
    Main: Das ist ein Faktum, aber würden Sie als jüdischer Zeitgenosse, als deutsch-jüdisches Glückskind darauf hoffen und fordern, dass es so etwas wie eine Re-Christianisierung dieses Landes gibt?
    Wolffsohn: Nicht im Sinne einer Wiederverkirchlichung. Ich lehne das auch für das Judentum ab. Denn: Wenn ich Kritik oder zumindest die kritischen Punkte in der institutionalisiert christlichen Welt nenne, also in den Kirchen, so kann ich das eins zu eins auch für die jüdischen Institutionen nennen. Aber es gibt eine moderne Orthodoxie, auch im Christentum, auch im Judentum. Es ist hochinteressant, im Judentum, etwa die Chabad-Richtung, die scheinbar, nein, tatsächlich strikt religiös ist, aber mit einem hohen Maß an Modernität, wobei sich Modernität und Tradition in keiner Weise ausschließen. Das ist ein interessantes Angebot. Ich selber kann es nicht praktizieren, will es auch nicht, aber ich halte es für ein legitimes, in der christlichen Welt genauso.
    "Die Identität fließt"
    Main: Also Selbstvergewisserung ja, aber nicht in Abgrenzung zu anderen?
    Wolffsohn: Völlig klar.
    Main: Ist das so richtig zusammengefasst?
    Wolffsohn: Ja, aber ich will ganz grundsätzlich werden. Jenseits des Religiösen: Für mich der bedeutendste Schriftsteller, der also nicht nur schreiben und denken konnte, sondern die menschliche Existenz in ihren Brüchen eingefangen hat, ist Shakespeare. Bei Shakespeare kommt immer wieder das Thema auf - und ich zitiere jetzt hier aus dem Othello, wo einer der Akteure, wir müssen jetzt nicht in die Einzelheiten gehen, sagt: "I am not what I am."
    Main: Ich bin nicht, wer ich bin.
    Wolffsohn: Ich bin nicht, der ich bin. Das heißt, einerseits scheine ich nach außen, einerseits sehe ich mich auch so, wie ich bin. Aber ich bin im Grunde genommen jetzt in dieser Situation ein anderer, als der ich vorhin war und nachher sein werde. Das können Sie also in der ganzen abendländischen Philosophie lesen: Heraklit, das Wasser im Fluss ist das Wasser, aber es ist nicht dasselbe Wasser, denn das Wasser fließt weiter. Was heißt denn das? Und irgendwann kommt die Bildung tatsächlich als Hilfsmittel für uns. Übertragen auf unsere Problematik Identität, die ist ja nichts Statisches. Sie fließt und da gibt es Nebenflüsse und dann ist mal der eine Nebenfluss stärker, mal der andere. Und das müssen wir auch erkennen. Es gibt keine exklusive Identität, weder individuell noch kollektiv.
    Zeitgenössische Darstellung des erfolgreichsten Bühnenautors aller Zeiten: William Shakespeare.
    William Shakespeare (picture-alliance / dpa)
    "Das Abendland beginnt lange vor dem Christentum"
    Main: Wir waren jetzt etwas theoretisch, haben sozusagen die Grundlagen gelegt. Lassen Sie uns einmal sprechen über ein paar Debatten unserer Tage. Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen auf der Suche sind nach Identität, hilft uns dann die Idee eines christlich-jüdischen Abendlandes weiter, das es zu retten gilt?
    Wolffsohn: Überhaupt nicht, weil schon der Begriff völlig falsch ist. Christentum und Judentum kommen nicht aus dem Abendland - Punkt. Das weiß jeder, der ein bisschen die Geschichte des Christentums und des Judentums kennt und des Islam auch. Das heißt also, alle drei monotheistischen Religionen - tut mir schrecklich leid, ich muss Sie nicht überzeugen, weil Sie es auch wissen und der Großteil unserer Hörer natürlich auch - Christentum und Judentum kommen aus dem Orient. Wenn das das christlich-jüdische Abendland ist, dann stimmt die Geografie nicht mit dem, nennen wir das einmal Faktor Theologie oder Ideologie, wie Sie das wollen...
    Main: Gut, aber das, was wir heute als Abendland ansehen, also das heutige Europa, das war stark geprägt im Laufe des frühen Mittelalters, schon vor 1700 Jahren, von Judentum und Christentum und nicht vom Islam.
    Wolffsohn: Euer Gnaden, ich widerspreche ganz heftig. Das Abendland beginnt lange vor dem Christentum. Das Abendland ist zunächst einmal ein geografischer Begriff oder wenn Sie so wollen, ein sonnengeografischer Begriff. Im Morgenland geht komischerweise - wir wissen sogar warum - die Sonne früher auf aus unserer Sicht als im Westen. Und da das sogenannte oder tatsächliche Abendland verschoben die Zeit hat, die Sonne geht - in Anführungszeichen - später unter, daher Abendland-Morgenland, geografisch. Und das Abendland, also das wir geografisch jetzt, sagen wir mal, auf zentral Südeuropa, Westeuropa und meinetwegen auch Nordeuropa inzwischen lokalisieren, aber das hat sich auch im Laufe der Geschichte erst ergeben.
    Aber der Kern des Abendlandes war, prägend bis in die Gegenwart, das alte Griechenland. Dann kommt das alte Rom, alles polytheistisch. Das alte Rom wird dann allmählich christlich, aber es ist schon vorher auch jüdisch gewesen, weil aus dem Judentum sich das Christentum entwickelte, zunächst einmal sozusagen parallel und dann abgespalten. Das heißt also zuerst, am Anfang, um es biblisch zu sagen, oder im Anfang…
    Schon Göttervater Zeus liebte Europa - Namensgeberin unseres Kontinents
    Schon Göttervater Zeus liebte Europa - Namensgeberin unseres Kontinents (picture alliance / dpa)
    Main: Im Anfang war der Polytheismus.
    Wolffsohn: Im Anfang war der Polytheismus, natürlich. Und wenn wir dann die verschiedenen Gottesvorstellungen, die wir in den monotheistischen Religionen kennen, einmal zurückführen, dann haben wir sozusagen konzentriert auf die monotheistische Vorstellung die vielen Eigenschaften, Charakteristika der polytheistischen Götterwelt. Und wenn wir uns Christentum und Judentum anschauen, dann ist da auch der Monotheismus nicht ganz lupenrein.
    Sie hatten mehrfach hier auch den von mir sehr verehrten Kollegen Peter Schäfer, der das in Bezug auf das Judentum wunderbar nachweist, er noch etwas vorsichtiger als ich. Es gibt sozusagen mindestens die doppelte Gottesvorstellung. Ich gehe sogar so weit und sage: Auch die Trinität, also die heilige Dreieinigkeit, finden wir im Judentum. Also wir finden da sehr viel Deckungsgleichheit. Lange Rede, kurzer Sinn: Das, was am Abendland christlich-jüdisch ist, ist zunächst einmal morgenländisch, weil es aus dem Morgenland kommt, nämlich sowohl Judentum als auch Christentum.
    Main: Also wir haben aus Ihrer Sicht einen Unsinnsbegriff - und mit einem Unsinnsbegriff kann man niemanden retten? Auch nicht sich selbst?
    Wolffsohn: Doch, man kann sich selbst manipulieren und das tun wir ja, indem wir inzwischen - oder ein großer Teil - tatsächlich glaubt, dass das christlich-jüdische Abendland eben das christlich-jüdische Abendland ist. Und ich habe versucht, in aller Kürze darzustellen, dass das Abendland zunächst alles andere als christlich-jüdisch gewesen ist.
    Und machen wir uns auch nichts vor: Die Formel des christlich-jüdischen Abendlandes ist eine Wiedergutmachungsformel, denn bis 1945 war vom christlich-jüdischen Abendland eher selten die Rede. Das Adjektiv jüdisch wurde - ich sage es einmal ganz bewusst polemisch - als Teil einer Wiedergutmachungsideologie eingeführt.
    "Wir müssen die Vielheit unserer Identitäten akzeptieren"
    Main: Aber Menschen suchen nach Selbstvergewisserung. Die braucht es ja womöglich. Also was würde uns denn dann helfen, zum Beispiel das Kreuz in Behörden?
    Wolffsohn: Auch das ist eine Krücke. Die talmudischen Weisen sind viel realistischer gewesen und Sie finden im Verständnis der talmudischen Weisen eine geradezu fast polemische Ablehnung von "heiligen Städten". Das wird in meiner Formulierung jetzt dann bezeichnet als Krücke oder Brücke. Wir müssen den Mut aufbringen, die Vielheit unserer Identitäten zu akzeptieren. Das gilt sowohl individuell als auch kollektiv - und das gilt, bezogen auf das Kollektiv, sowohl für die Theologie als auch für die nationale Ideologie. Denn was ist denn die vermeintliche oder tatsächliche Einheit einer nationalstaatlichen Gesellschaft wie der deutschen oder der französischen?
    Es gibt eine wunderbare Studie von Fernand Braudel über Frankreich. Das, was für uns Frankreich ist, also das klassische Sechseck, ist schon zunächst einmal geografisch vorgegeben, aber historisch-politisch war es das nicht. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gab es noch nicht einmal eine einheitliche französische Sprache. Oder schauen wir uns die deutschen Dialekte an, die sind ja auch sehr unterschiedlich. Wo ist die Grenze zwischen dem Niederländischen, dem Flämischen und dem Deutschen? Das sind alles im Laufe der Geschichte entstandene Sprachidentitäten, aus denen sich Mentalitäten ergeben haben. Und weil und indem und seitdem die Gesellschaften vielschichtiger, heute sagt man bunter, wurden, ist auch die Identität vielfältiger.
    "Ich habe nichts gegen den Kreuzerlass"
    Main: Nun leben Sie aber überwiegend in München, im schönen Bayern, das nun mal eindeutig katholisch geprägt ist und zu dem Kreuze gehören. Was haben Sie gegen den Söder’schen Kreuzerlass in Behörden?
    Wolffsohn: Ich habe gar nichts dagegen. Als das Thema Kreuz in Bayern oder wo auch immer überhaupt noch nicht auf der Tagesordnung stand und ich 1954 als Naseweis nach Deutschland kam und wenn wir in bayrischen Gasthäusern waren, ob im Zimmer oder in der Speisestube, dann hing ein Kruzifix da.
    Ddas hat mich erstens sowieso nie provoziert, sondern das gehörte sozusagen zu dem erwünschten Selbstverständnis. Warum soll ich etwas dagegen haben? Toleranz ist eine zweiseitige Angelegenheit. Als Angehöriger einer Minderheit, bei mir jüdisch, aber egal, ob das Muslime sind oder wer auch immer, die zurecht als Minderheit Toleranz erwarten, dann muss ich doch von mir aus auch Toleranz erwarten.
    Ob ich jetzt nun das Kruzifix als Krücke oder Brücke verstehe oder nicht, das ist meine Frechheit oder Toleranz, wie Sie wollen, aber das gehört doch zum Einmaleins der alltäglich praktizierten Toleranz und Akzeptanz.
    Main: Nun sagen natürlich die Kritiker, vor allem aus den Kirchen, ein religiöses Symbol als kulturelles Identitätssymbol zu benutzen und zu instrumentalisieren, das sei der Knackpunkt und deswegen können sie nicht mitgehen. Können Sie den Punkt nachvollziehen?
    Wolffsohn: Nein, auch nicht. Diejenigen, die das in der katholischen oder evangelischen Kirche sagen, nennen wir doch Namen, Kardinal Marx und Heinrich Bedford-Strohm.
    Der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (l) und der katholische Kardinal Reinhard Marx.
    Der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (l) und der katholische Kardinal Reinhard Marx. (picture alliance /dpa /Peter Kneffel)
    Main: Der EKD-Ratsvorsitzende und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.
    Wolffsohn: Genau, sie sind diesbezüglich keine guten Vorbilder. Sie sind die höchsten Repräsentationen ihrer jeweiligen Kirchen und in der heiligen Stadt Jerusalem haben sie, aus welchen Gründen auch immer, das Kreuz abgenommen.
    Main: Das Brustkreuz. - Auf dem Tempelberg. Darauf spielen Sie an.
    Wolffsohn: Und an der Klagemauer, richtig.
    "Das Kreuz ist ein Symbol des Leids"
    Main: Aus Rücksicht auf muslimische Bedürfnisse, heißt es.
    Wolffsohn: Heißt es! Aber es gibt auch da Legenden, und ich kenne die Fakten. Aber das ist nur ein Nebengleis jetzt. Kurzum, ich habe nichts gegen diese Brücken und Krücken, wer sie braucht, aber als nachdenklicher Mensch muss man konsequenterweise sagen: Ja, das ist eine Krücke oder Brücke einerseits. Andererseits ist jedes Symbol ein Kürzel. Jedes Symbol als Kürzel ist sozusagen ein Inhaltspaket; und das Kreuz als Inhaltspaket sagt doch etwas Grandioses aus. Das gilt für die menschliche Situation an sich und nicht nur für Jesus als Christus oder Nicht-Christus.
    Das Kreuz ist ein Symbol des Leids, des menschlichen Leids, aber auch des Leides, dass ein vermeintlich oder tatsächlich Göttlicher, also Jesus, gelitten hat. Hier gibt das Christentum das Zeichen: Das Leid gehört zum Leben. So schrecklich es ist, wir müssen uns damit abfinden. Aber neben dem Leid gibt es auch Freude. Das sind doch Inhaltspakete, damit muss ich mich auseinandersetzen.
    Und wenn die Krücke als Brücke zum Nachdenken, emotional und rational, führt, dann ist das doch ein Fortschritt, und auch wenn ein Muslim dann sagt: ich fühle mich dann provoziert - nein, warum fühlst du dich provoziert, wie intensiv ist denn dein muslimischer Glaube? Oder wie intensiv ist mein jüdischer Glaube in Abgrenzung vom Kreuz? Und dann sind wir auch bei der Diskussion: Gottesmörder oder nicht. Dann kann ich natürlich sagen, nein, nicht Gottesmord. Das Kreuz ist nicht sozusagen das Zeichen jüdischer Schuld. Dann sind wir mitten in einer Diskussion, christlich-jüdisch völlig offen, wobei sich jede Seite selbst infrage stellt.
    "Gesellschaft funktioniert wie der Straßenverkehr"
    Main: Das könnte ein Schlusswort sein. Ich möchte aber trotzdem noch einmal zum Anfang zurückkommen, anknüpfen daran, dass Sie sich als deutsch-jüdisches Glückskind bezeichnen vor dem Hintergrund dieser Identitätsfragen, die wir versucht haben, zu besprechen. Was muss passieren, dass sich künftig hierzulande auch Muslime und Atheisten und Christen als deutsch-muslimische und deutsch-christliche und deutsch-atheistische Glückskinder bezeichnen können?
    Wolffsohn: Das Einhalten der Regeln. Gesellschaft funktioniert wie der Straßenverkehr. Es gibt bestimmte Regeln und die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Unfällen kommt, ist geringer, wenn alle sich an die Regeln halten.
    Main: Und das gilt dann für alle, welcher Konfession oder Nicht-Konfession?
    Wolffsohn: Aber selbstverständlich, das kann ich auch mit der Würde des Menschen, Artikel 1, Grundgesetz verbinden. Denn dadurch ist die Heiligkeit, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens gewährt, womit wir bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sind: Life, Liberty and the Pursuit of Happiness. Das wiederum ist abendländisches und ich würde sagen universalistisches Gedankengut, nämlich das oberste Gebot 'Leben', das Leben des anderen genauso als heilig und unantastbar zu verstehen wie das eigene.
    Main: Der Münchener Historiker Michael Wolffsohn, wir haben versucht, Antwortansätze zu finden zu den Identitäts- und Religionsfragen unserer Zeit. Herr Wolffsohn, danke, dass Sie sich auf dieses Glatteis begeben haben.
    Wolffsohn: Gerne, es war erfreulich glatt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.