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Michail Bulgakow: "Die weiße Garde" 
Ein Sturm aus der Stalinära

"Diesen Roman liebe ich mehr als alle meine anderen Werke", schrieb Michail Bulgakow 1924, nachdem er bereits drei Jahre an "Die weiße Garde" gearbeitet hatte. Der Autor war hier ganz nahe dran an der Geschichte seiner eigenen Familie in den Zeiten des Bürgerkriegs. Nun ist es neu übersetzt.

Von Wolfgang Schneider | 31.03.2019
Der sowjetische Schriftsteller Michael Bulgakow (Mikhail Bulgakov) in einer Aufnahme von 1928. Reproduktion eines Fotos aus dem Zentralarchiv für fotografische Dokumente der UdSSR.
Der Schriftsteller Michael Bulgakow in einer Aufnahme von 1928. (picture alliance / dpa / RIA Novosti)
"Die weiße Garde" spielt im Jahr nach der Oktoberrevolution. Das Zarenreich zerfällt, aber noch hat die Rote Armee weite Teile des Landes nicht unter Kontrolle. Und noch ist der Erste Weltkrieg nicht beendet. Im Frühjahr 1918 dehnt sich die deutsche Besatzung tief hinein nach Russland aus, umfasst die gesamte Ukraine. Dort wird ein Marionettenregime unter dem Hetman Skoropadskyj installiert. Die Weiße Garde, das sind jene Offiziere und Soldaten der sich auflösenden Zarenarmee, die sich auf die Seite dieses Hetman-Regimes schlagen, weil sie es als das kleinere Übel betrachten, verglichen mit den Bolschewiki und deren Appellen zum gnadenlosen Klassenkampf.
"Die weiße Garde" wird oft zusammen mit Tolstois "Krieg und Frieden" genannt. Aber ein historischer Roman ist es eigentlich nicht. Bulgakow begann das Buch bald nach den Ereignissen, und so überträgt sich Fiebrigkeit und Erregung der Umbruchszeit in die Darstellung. Vor allem gibt es nicht dieses gemütliche Präteritum, nicht das aus historischer Distanz aufgeräumte Erzählen; der Roman wirbelt die Chronologie durcheinander, erklärt den herkömmlichen Satzbau für unzulänglich.
Schauplatz ist Kiew, auch wenn der Name kein einziges Mal fällt. Von der "Großen Stadt" ist vielmehr die Rede, "Groß" groß geschrieben, so dass es nicht wie ein beschreibendes Adjektiv, sondern wie eine mythische Aufladung wirkt. Bulgakow mischt Realität und Erfindung, und so konkret und identifizierbar viele Details sind, so tendiert das Gemeinwesen des Romans doch sehr ins Phantasmagorische. Wie in vielen Werken der Moderne und des Expressionismus wird die Stadt selbst zum zentralen Thema. Fast märchenhaft liest es sich, wie die Straßen leuchten und die Menschen flanieren und feiern, während am Horizont wochenlang das Wummern der Geschütze zu hören ist. Die Stadt ist voller Revolutionsflüchtlinge.
"Die hiesigen Menschen schmachteten, auf schmalstem Raum zusammengeschmissen… Man schlief auf Stühlen und Sofas. Speiste am Tisch in riesigen Scharen... Eröffnet wurden zahllose Imbissstübchen und Patisserien, die bis in die Nacht hinein im Überfluss Handel trieben, Cafés (…), Kleinkunstbühnen, auf deren Brettern, Grimassen schneidend und das Volk belustigend, sich die gefeiertsten Darsteller tummelten, aus den beiden Hauptstädten herbeigeflattert. (…) Die Droschken kutschierten tagein, tagaus die Kundschaft von einem Restaurant zum anderen, und nachts erklangen in den Kabaretts Streicherkapellen, und in Tabaksdünsten erstrahlten in übertriebener Schönheit die Gesichter der weißen, ausgemergelten und durchkoksten Prostituierten."
Chaosfamilie in Kiew: Die Turbins
Der Krieg scheint, sofern die Schlachtfelder noch ein paar Kilometer entfernt sind, die Lebenslust eher zu befördern – erstaunlich nach vier Weltkriegsjahren und mitten in einem Bürgerkrieg, der weitere zehn Millionen Tote fordern wird, bevor sich Lenins Sowjetunion auf den Massengräbern konsolidieren kann.
Ein zentraler Ort des Romans ist das Stadthaus, in dem die Turbins eine große Wohnung haben; Bulgakow hat es dem Kiewer Haus seiner Familie nachgebildet. Die Turbins, das sind vor allem drei Geschwister: der achtundzwanzigjährige Alexej, im zivilen Leben Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, eine Figur, die viel von Bulgakow hat, der selbst zunächst Arzt war. Außerdem sein jüngerer Bruder Nikolka und die Schwester Jelena, die mit dem baltischen Oberst Thalberg verheiratet ist, einem Offizier der Hetman-Armee, der sich aus dem Staub macht, sobald die Situation gefährlich wird in der Stadt. Zusammen mit ihren Freunden und Nachbarn durchleben die Turbins, in deren Namen sich schon die Turbulenzen andeutet, die Wirren des Bürgerkriegs in der Stadt.
Irritierend ist allerdings, dass die Bolschewiki im Roman kaum eine Rolle spielen. Die späteren Kämpfe mit der Roten Armee werden nicht thematisiert. Die Weiße Armee hat hier noch einen ganz anderen Gegner: die ukrainischen Nationalisten unter Führung des Sozialdemokraten Simon Petljura. Im postrevolutionären Chaos witterten sie die Chance, nach Jahrhunderten unter polnischer oder russischer Herrschaft eine unabhängige Ukraine zu gründen, die allerdings nur eine Episode blieb. Die ukrainischen Gebiete wurden nach der Eroberung durch die Rote Armee 1920 der Sowjetunion einverleibt und von Moskau aufgrund der separatistischen Tendenzen mit großem Misstrauen überwacht, ein Jahrzehnt später wurden sie unter Stalin mit der Waffe des Hungers terrorisiert – mindestens drei Millionen Tote soll der "Holodomor" gefordert haben. Im Sommer 1918 aber waren die ukrainischen Nationalisten kurzfristig auf dem Siegeszug.
Bulgakows Roman erzählt davon, wie die Weiße Garde mobilisiert wird, um die Große Stadt vor dem Ansturm der "Petljura-Banden" zu verteidigen. Die Brüder Turbin melden sich freiwillig, Alexej als Bataillonsarzt. Von Heroismus ist aber wenig zu spüren. Vielmehr entwickelt sich die Verteidigung der Stadt zur Groteske. Kaum sind die Männer militärisch ausstaffiert, müssen sie die Gewehre schon wieder fortwerfen und die Schulterstücke, die sie als Offiziere der Weißen Garde erkennbar machen, schnellstmöglich abreißen, denn Petljuras Truppen sind in die Stadt eingefallen. Als Nikolka auf der Flucht durch die Straßen läuft, hat er eine unerfreuliche Begegnung mit einem von der anarchischen Situation herausgelockten Wutbürger:
"Rostiger Bart, kleine Äuglein, aus denen der Hass nur so heraustroff. Stupsnase, Lammfellmütze… Der Mensch, als spielte er ein lustiges Spiel, umfasste Nikolka mit dem linken Arm. Nikolka war erschüttert, für einige Sekunden. "Mein Gott! Er hat mich gepackt, er hasst mich! Ein Mann Petljuras…"
"Schau an, so’n Ratz!", schrie heiser der Rostbart und keuchte: "Halt, wo willse hin!" – und brüllte plötzlich aus Leibeskräften: "Halt ihn, halt ihn! Halt den Junkerich! Reißt die Buletten ab und denkt, man merkt nix? Halt ihn! Halt!"
Raserei ergriff den ganzen Nikolka von Kopf bis Fuß. Er ließ sich hart sacken und (…) schwupste mit widernatürlicher Wucht dem Rosthaarigen aus den Händen. (…) Der Rostbart hatte keinerlei Waffen, er war noch nicht mal Soldat, er war bloß ein lausiger Hausmeister.
Sprachgewalt statt Handlung
Der Roman hat keinen Plot im engeren Sinn, keine Handlung mit spannungsreichen Wendungen, vielmehr entwirft er Räume und Bildwelten und lädt sie symbolisch auf, zeichnet Situationen und Gestalten, prägnant, aber ohne die Zusammenhänge explizit zu machen. Die Geschichten, die sich dahinter verbergen, muss sich der Leser oft selbst zusammenreimen. Nicht nur, dass die historischen Vorgänge zumal für deutsche Leser schwer zu durchschauen sind, der Autor tut auch viel dafür, das Verständnis zu erschweren.
Der Stil des Romans ist bestimmt von einer ungewöhnlichen Mischung aus Nachlässigkeit und Virtuosität. Da sind auf der einen Seite sprachliche Ungeschicklichkeiten, grammatische Fehler, Wortwiederholungen, Abweichungen von der natürlichen Betonung, verdrehter Satzbau und umständliche Konstruktionen. Nur keine Gefälligkeit, keine konventionelle Schönschreiberei. Dieser Roman ist widerborstig, nichts soll vertraut klingen, und das passt zur erzählten Welt von 1918, in der alles unsicher geworden ist. Alexander Nitzberg sieht es nicht als Aufgabe des Übersetzers an, den Text in der deutschen Fassung geschmeidiger und eingängiger zu machen als das Original, so wie es die bisher einzige deutsche Übersetzung des Romans von Larissa Robiné aus dem Jahr 1969 tat. Was im Übrigen zu dem Missverständnis führte, dass Marcel Reich-Ranicki den Roman 1993 im Literarischen Quartett für seine vermeintliche stilistische Konventionalität tadelte.
Nitzbergs Neuübersetzung will die sprachliche Ruppigkeit Bulgakows zur Geltung bringen. Und auf der anderen Seite gelingt es ihm zu vermitteln, was dieser Roman eben auch ist: Ein Sprachkunstwerk der russischen Moderne. Nitzberg, der seit 2012 zunehmend als Übersetzer hervorgetreten ist, hat sich zuvor einen Namen als Verfasser von Gedichtbänden wie "Farbenklavier" oder "Na also, sprach Zarathustra" gemacht. Als Lyriker hat er eine geschärfte Wahrnehmung für die lautlichen und sprachspielerischen Qualitäten von Bulgakows Texten, für ihre musikalischen Vokalreihen, für die vielen Alliterationen und Anaphern, überhaupt für die schrille Akustik und den synästhetischen Klangzauber des Romans. Einmal ereignet sich eine gewaltige Explosion, die die ganze Stadt erschüttert. In einem Vorort ist ein Munitionslager in die Luft geflogen, ein bolschewistischer Anschlag. Man höre nun, wie gewitzt Nitzberg den "O"-Laut der Explosion und des Schocks durch die Sätze der Beschreibung tönen lässt. Eines Morgens im Mai:
"…rollte durch die Große Stadt ein schrecklicher und bedrohlicher Ton. Von einer nie gehörten Stoßkraft – keine Kanone, kein Donnergrollen – und doch so schroff, dass zahllose Fenster plötzlich ohne Vorwarnung offen standen und alle Glasscheiben schlotterten. Dann wiederholte sich der Ton, zog erneut durch die Obere Stadt, rollte in Wogen durch die Untere Stadt – Podol – durch den wundervollen blauen Strom und verlor sich irgendwo fern in Moskau. Die Stadtbewohner sind aufgewacht und auf den Straßen begann ein Tohuwabohu."
Der Meister des Grotesken
Die Qualität dieser Übersetzung geht über bloße Wörtlichkeit und sachliche Richtigkeit hinaus. Sie ist eine Nachdichtung, die die Instrumentation von Bulgakows Prosa erfahrbar macht. Das heißt nicht, dass man mit manchen Befremdlichkeiten der Nitzberg-Übertragung nicht auch hadern könnte. Nur ein Beispiel aus jenen Passagen, die die Panik und Auflösung der Weißen Garden schildern: Alexej Turbin rennt um sein Leben; er hat auf der Flucht einen Schuss in den Arm abbekommen. Als er, die Verfolger im Nacken, schon mit dem Leben abschließen will, zieht ihn eine unbekannte Frau in ein Versteck. Und bringt den Verletzten kurz danach in ihre Wohnung. Seine Wahrnehmung ist in dieser Situation getrübt:
"Schon wurden erschaut, freilich verschwommen, jungfräuliche unberührte Fliederbüsche unter dem Schnee, die Türschwelle, der gläserne Vorbau der alten Diele, von Schnee überstreut. Ferner wurde erlauscht das Rauschen des Schlüssels. Die Frau war die ganze Zeit über da, zu seiner Rechten, und mit letzter Kraft zog sich Turbin – ein Faden – ihr nach – bis hinein in den Vorbau."
Die expressionistische Syntax mit ihren Inversionen fällt als Stilmittel der Übersetzung auf. So weit, so gut. Aber was hat es mit dem erlauschten "Rauschen des Schlüssels" und mit dem Faden auf sich? Hören wir zum Vergleich die alte Übersetzung von Larissa Robiné:
"Undeutlich sah er unberührte schneebedeckte Fliederbüsche, eine Tür, eine verschneite Glaslaterne vor einem altertümlichen Flur. Und dann hörte er einen Schlüssel klirren. Die Frau war immer da, an seiner rechten Seite und mit letzter Kraft. Schwach wie ein Faden, zog sich Turbin hinter ihr her in die Laterne hinein."
Der Ton ist hier glatter; das Bild des Fadens erschließt sich leichter. Seltsam allerdings die Laterne; da ist wiederum Nitzbergs "gläserner Vorbau" verständlicher. Vor allem klärt sich die Sache mit Schlüssel auf; er klirrt, wie es sich gehört. Weshalb aber lässt Nitzberg den Schlüssel "rauschen"? In den Anmerkungen liest man, das russische Wort "ključ" habe zwei Bedeutungen, Schlüssel und Quelle, und Alexej assoziiere in diesem Moment seiner wundersamen Errettung gleichsam eine paradiesische Quelle. So mag sich der "rauschende" Schlüssel im Hinblick auf ein Wortspiel Bulgakows rechtfertigen. Man fragt sich aber hier und auch an anderen Stellen, ob eine gute Übersetzung solchen scheinbaren Widersinn in der Textgestalt produzieren darf, um einen tieferen Hintersinn, der sich nur durch eine Anmerkung vermittelt, zu reproduzieren. Hier bekommt Nitzbergs Übertragung etwas Angestrengtes, Forciertes.
Beklemmend aktuell wirkt der Roman in der Schilderung des russisch-ukrainischen Konflikts. Alexej Turbin artikuliert den Spott der urbanen russophilen Intellektuellen gegenüber der ländlich geprägten ukrainischen Kultur, wenn er über die, wie er findet, "absolut peinliche Ukrainisierungskomödie" lästert:
"Wer terrorisiert die russische Bevölkerung mit dieser einfach nur scheußlichen Sprache? Hoch lebe die niedliche freie Ukraine, und zwar von Kiew bis Berlin!"
Wie sie aussieht, die ukrainische Bevölkerung, das macht der Roman in einer Szene kurz nach der Besetzung der Stadt durch die Petljura-Truppen deutlich. Es klingelt Sturm beim Hausbesitzer Wassilissa, der die Wohnung unter den Turbins bewohnt. Auf massive Gewaltandrohung durchs Schlüsselloch öffnet er verängstigt die Tür. Drei furchterregende Gestalten dringen in die Wohnung, behaupten, sie seien beauftragt zur Hausdurchsuchung. Sind es Petljura-Leute oder Kriminelle, die sich das Chaos zunutze machen? Ein antiukrainischer Affekt macht sich auf jeden Fall in der Beschreibung dieser infernalischen Dreifaltigkeit geltend:
"Wie im Traum erblickte sie Wassilissa. An dem ersten Menschen war alles wölfisch… Das Gesicht schmal, die Augen winzig und tief sitzend, die Haut grau, der Schnauzer in Stoppeln aufwärtsstechend, während die unrasierten Backen nach trockenen Ackerfurchen rochen… – seine Fortbewegung geschieht in einer nicht menschlichen, tauchenden Gangart einer an Schnee und Gras gewohnten Kreatur. Er sprach in einem furchbaren wirren Kauderwelsch – einem Mischmasch aus Russisch und Ukrainisch – einer Sprache, die jenen Einwohnern der Großen Stadt vertraut ist, die Podol aufsuchen, das Dnepr-Ufer, (…) wo im Sommer zerlumpte Leute von den Lastkähnen Melonen abladen. Der Zweite – ein Gigant – nahm beinahe bis zur Decke die gesamte Diele Wassilissas ein… Auf seinem Kopf trug er eine Mütze mit von Motten zerfressenen Ohrenklappen, einen grauen Mantel und an den unnatürlich kleinen Füßen grässlich zugerichtete Stiefelreste. Die Nase des Dritten war eingebrochen und seitlich von eitriger Kruste zernagt, er hatte auch eine zusammengenähte, von einer Schramme verunstaltete Lippe… Die Augen blickten leidvoll-erbittert."
Das Ende des Anstands
Hier wird Bulgakow als Meister des Grotesken und Burlesken vernehmbar. Bei dem Wolf denkt man an Lumpikoff, den Hundemenschen aus seiner wenig später verfassten Novelle "Das hündische Herz", einer Satire auf den neuen sowjetischen Menschen. Unter üblen Drohungen stellen die drei Unholde die Wohnung auf den Kopf und finden mit sicherem Instinkt die versteckten Wertsachen. Wassilissa kann froh sein, dass er mit dem Leben davonkommt. In dieser Szene macht sich ein zentrales Motiv des Romans geltend: der Niedergang des zivilen Anstands und der bürgerlichen Werte (wozu eben auch die Wertsachen gehören) in der Revolutionszeit.
Besonders turbulent sind die Massenszenen der Petljura-Siegesfeier. Es ist eine Mischung aus Gottesdienst, Prozession und Parade. Die Menschen drängen sich in den Straßen um die Sophia-Kathedrale:
"In Lawinen, aus allen Fluchten sprudelnd und sich verdickend, einander zerdrückend, brodelte in kreisenden Strudeln, brauste auf das menschliche Rudel."
Das ist, nebenbei, wieder ein Beispiel für Nitzbergs Bestreben, die Klangspiele und Reime des Originals ins Deutsche zu schmuggeln: sprudelnd – Strudel – Rudel.
Die Menschen jubeln, nebenbei haben die Taschendiebe Hochkonjunktur, und es wird Jagd gemacht auf echte oder vermeintliche Weißgardisten und Ukrainefeinde. Nur Petljura lässt sich nicht blicken.
"Lauf Marusja… Es heißt Petljura ist auf dem Platz. Los, wir wollen Petljura sehen."
"Dumme Kuh, Petljura ist in der Kathedrale."
"Selber dumme Kuh. Es heißt er kommt auf einem weißen Pferd."
"Ruhm dem Petljura! Ruhm der ukrainischen Volksrepublik!!!"
Petljura bleibt im Roman ein Gespenst, ein Mythos, eine Schreckgestalt für die einen, ein Hoffnungsträger für die anderen. Sein Charisma wächst durch die Ungreifbarkeit. Petljura ist überall und nirgends, ein Wesen aus Gerüchten. Auf diese Weise verleiht Bulgakow dem ukrainischen Nationalismus selbst etwas Schimärisches, Fadenscheiniges. Dass der Autor in der heutigen Ukraine umstritten ist, wundert nicht. Manchen gilt er als ukrainophob, und die achtteilige Verfilmung der "Weißen Garde" von Sergej Sneschkin aus dem Jahr 2012 hat dort so viel Anstoß erregt, dass sie indiziert wurde. Dieser Roman ist bis heute ein Politikum.
Für die Brüder Turbin und ihre Freunde ist Petljura einfach nur ein "Landstreicher". Wenn sonst nichts mehr gegen ihn hilft, so am Ende vielleicht doch die Bolschewiki und Trotzkis Rote Armee.
"Die werden ihn hübsch fein rausschmeißen", sagte die Karausche überzeugt… "Dafür wird Genosse Trotzki schon sorgen." (…)
"Ich schätze, es kann nur besser werden", versetzte unerwartet Myschlajewski, "die werden uns allen, so zum Warmwerden, mal kurz die Rüben abknipsen, damit es wieder ruhig und sauber wird. Und alles auf Russisch."
Proletarisches Befreiungspathos klingt zwar anders, aber in solchem Galgenhumor schimmert doch auch ein wenig Hoffnung auf die Revolution. Zumindest so viel, dass die abgemilderte Theaterfassung des Romans unter dem Titel "Tage der Turbins" in der Sowjetunion der späten zwanziger Jahre zu einem großen Theatererfolg werden konnte, einem Lieblingsstück Stalins, das der Diktator sich wieder und wieder angeschaut haben soll.
Alexander Nitzberg hat den Roman mit einem hundertseitigen Anhang versehen. Die Anmerkungen liefern nicht nur hilfreiche faktische Hintergründe, sondern kommentieren immer wieder auch die Sprachgestalt des Romans. Das Nachwort rekapituliert unter anderem die überaus komplizierte Editionsgeschichte. Zwei Voraussetzungen sollte man für diese Lektüre mitbringen: das Interesse an der Geschichte der Russischen Bürgerkriegs und die Begeisterung für unkonventionelle Prosa.
Michail Bulgakow: "Die weiße Garde"
Neuübersetzt von Alexander Nitzberg
Galiani Verlag , Berlin. 544 S., 30 Euro