"Unser Sozialismus mit seiner negativen, zerstörerischen Kraft wird in das christliche Bewusstsein der heutigen Menschen einbrechen...Die Menschheit befindet sich gegenwärtig in der Sackgasse."
Dies schrieb der 49-jährige Michail Prischwin im September 1922, dem Jahr der Niederschrift seines Romans "Der irdische Kelch", eines Romans, der zu seinen Lebzeiten nur ausschnittweise veröffentlicht wurde. 1979, zu Breschnews Zeiten, erschien der Roman stark zensiert, erst Jahrzehnte später konnte er in seiner Originalfassung herausgegeben werden. Nun legt der Guggolz-Verlag die erste deutsche Übersetzung vor. Ein langer Weg, wenn man bedenkt, dass Maxim Gorki ein früher Fürsprecher des Autors war und Ende der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Vorwort zur zweiten Gesamtausgabe der Werke Prischwins besorgte. Allerdings waren dies literarische Arbeiten, die das Hohe Lied der Natur sangen, im Gegensatz zur städtischen Literatur das einfache Leben priesen.. Gorki merkte 1926 an:
"Meiner Meinung nach schreiben Sie gar nicht über die Natur, sondern über etwas Größeres, nämlich über die Erde, unsere große Mutter. Bei keinem einzigen russischen Schriftsteller habe ich solch eine harmonische Verbindung von Liebe zur Erde und von Wissen um sie gefunden und gespürt wie bei Ihnen. Sie kennen Wälder und Sümpfe, Fische und Vögel, Gräser und Raubtiere, Hunde und Insekten ausgezeichnet – erstaunlich reich und weit ist Ihre Welt."
Im "Irdischen Kelch" schlägt Prischwin noch einen anderen, bis dahin unbekannten Ton an. Die revolutionären Umbrüche erschrecken ihn, die neue Herrschaft der Bolschewiki, die er im Jahr 1919 beschreibt, bringt Unglück und Not über das Land und die Menschen. Nach der Oktoberrevolution schreibt Prischwin für antibolschewistische Zeitungen, verdingt sich auf dem Land als Russischlehrer, Bibliothekar und Museumskurator. Sein Alter Ego ist im Roman der Lehrer und Leiter des Museums des Gutslebens namens Alpatow. Leo Trotzki, der noch 1922 den Text erhält, lobt zwar "die großen künstlerischen Qualitäten", aber politisch beurteilt er den Roman als "durch und durch konterrevolutionär". Damit ist das endgültige Verdammungsurteil über diesen Roman zu Lebzeiten Prischwins gefällt.
Freiheit ist kein Wert, solange das tägliche Brot fehlt
Der Lehrer Alpatow betritt eines Tages ein von den Bolschewiki enteignetes Empireschloss, wo sich bereits alle möglichen kommunistischen Institutionen eingenistet haben, und nun kommt das Museum dazu, ein Museum, das die Erinnerung an das Leben der Menschen auf dem Dorf wach halten soll. Das Schloss ist erbärmlich heruntergekommen:
"In was für einem Zustand da unten alles zurückgeblieben ist, schämt sich einer zu erzählen, es hat sich keiner die Mühe gemacht, auch nur die Schalen von Sonnenblumenkernen hinauszufegen, ein einziger Saustall; Trotzki hing schief am Nagel, ein weißer Schuh ohne Absatz lag herum, auch ein geflickter Filzstiefel, aus dem Kehricht auf den Treppenstufen sprossen Pilze, und in der Luft surrten überall Schmeißfliegen – eine grauenerregende Ekelei."
Der neue Lehrer und Kurator will sich nicht anfechten lassen, er will den widrigen Umständen trotzen, auch bei Hunger, Eiseskälte und elenden Lebensbedingungen. Seine Bezahlung ist unwürdig für einen Lehrer, und da Alpatow keinen Wirtschaftsgarten hat, ist seine Verpflegung am Rande des Existenzminimums. Die neue Zeit, die mit so vielen Versprechungen erfüllt ist, hier ist sie nicht eingekehrt. Die Menschen leben in bitterstem Elend und betäuben ihre Sinne durch Alkohol. Freiheit ist kein Wert für sie, denn das tägliche Brot fehlt. Die Bauern haben nur ein Thema, die Ausbeutung und Abgabenerpressungen durch die neuen Kommissare – sie schimpfen leise:
"Die Kontribution, Brüder, laust uns!"
"Aber tüchtig!"
"Tüchtig laust uns die Kontribution."
"Eine verfluchte Macht!"
"Hat uns die Luft abgedrückt!"
"Kriegt den Rachen nicht voll!"
"Wo wir doch alles abliefern, unser Gold, unser Korn, unser Pferd, unsre Kuh, unser Schwein, sogar die Hühner beschlagnahmen sie."
"Aber tüchtig!"
"Tüchtig laust uns die Kontribution."
"Eine verfluchte Macht!"
"Hat uns die Luft abgedrückt!"
"Kriegt den Rachen nicht voll!"
"Wo wir doch alles abliefern, unser Gold, unser Korn, unser Pferd, unsre Kuh, unser Schwein, sogar die Hühner beschlagnahmen sie."
Wer nichts oder zu wenig abliefert, wird zur Strafe ins Eisloch auf dem zugefrorenen See getaucht. Die Bauern sind keine Helden bei Prischwin, sie ducken sich, versuchen ihre Schäflein ins Trockene zu bringen, jeder nutzt seinen Vorteil auf Kosten der anderen. Der ganze Roman ist durchsetzt mit Dialogen unter den einfachen Menschen, die Prischwin auf seinen früheren Reisen durch das Land notiert und in seinen Tagebüchern festgehalten hat. Er liebt die einfache Sprache des Volkes, gibt ihr Kolorit; auch sprachliche Verballhornungen nimmt er auf, so zum Beispiel, wenn die Bauern von der verhassten Intelligenzia als Antelligenzia sprechen, oder Fremdwörter wie "Französisch" sprachlich verdrehen. Im Nachwort der Übersetzerin Eveline Passet wird der Leser über all diese sprachlichen Besonderheiten aufgeklärt, auch wenn es für den Leser nicht immer leicht ist, die grammatikalischen und sprachlichen Eigenheiten des Textes nachzuvollziehen.
Die Welt zerlegt in moralphilosphische Betrachtungen
Prischwin lauscht den Menschen ihre eigene Sprache ab, sei es die der Schwarzbrenner im Wald, die der uralten, antibolschewistischen Pfauenwärterin, die Unterhaltungen der Moosbeerenweiber oder die Klagen eines Gemüsehändlers. Sie unterhalten sich über die Frage, wer ihr Feind sei, ob es einen Staat ohne Waffen geben könne, ob man staatliches Gut verhökern dürfe und wozu man Soldaten braucht. Sogar die russische Literatur entzündet ihr Interesse – Dostojewski oder Tolstoi? Einer stellt die Frage, gibt es ein närrischeres Land als Russland, und die Antwort lautet:
"Und was ist Russland? Am einen Ende geht die Sonne auf, am anderen unter, und auf so einem großen Territorium sagen alle, dass es zu wenig Land gibt und die Leute hätten nichts anzuziehen; gibt es auf Erden ein närrischeres Land als Russland?"
Michail Prischwin durchsetzt seinen Text mit grotesken Allegorien, er spielt mit mystischen Phantasien und Märchen, zerlegt die Welt in moralphilosophische Betrachtungen und anmutige Naturschilderungen. Am Ende – weniger anmutig – erfriert der von Hunger geschwächte Lehrer Alpatow im Schnee, er erlebt, in einen wunderbaren Sarg gebettet, seine eigene Beerdigung durch die Kommunisten, in der er als Held zu Grabe getragen werden soll. Und da der Prediger seinen Namen nicht kennt, nennt er ihn bejubelnd "Genosse Verewigter". Prischwin bietet aber auch noch eine andere Version an, Alpatow solle ins Krankenhaus gebracht worden sein und überlebt haben. Die Wirklichkeit oder Wahrheit ist für ihn schillernd, uneindeutig.
Es ist ein eigenwilliger Roman, voller Irritationen und Übermut, mal düster, mal heiter, über das Jahr 1919, in dem die europäische Geschichte ein neues Gesicht bekam – eine eigenartige Mischung aus Phantasie und Realismus. Die Slawistin und Übersetzerin Ilma Rakusa hat zum "Irdischen Kelch" ein erhellendes Nachwort verfasst und stellt den uns bisher unbekannten Autor mit Verve vor:
"Mitnichten eine flüssige Lektüre. Prischwins dokumentarisch abgefederte Erzählung ist kantig und bizarr, berührend und komisch, bitter und schön, schockierend und phantastisch, sie lebt von prägnanten Details, die dem Text Glaubwürdigkeit und Würze verleihen – und jeden Ideologen das Fürchten lehren."
Dem erst seit einem Jahr existierenden Guggolz Verlag sei Dank für solche literarischen Trouvaillen, die uns neue Welten eröffnen, den Blick auf die Geschichte noch einmal anders justieren und uns poetische Entdeckungen machen lassen, die, obwohl hundert Jahre alt, von einer überwältigenden, kühnen Modernität sind.
Michail Prischwin: Der irdische Kelch – Das Jahr neunzehn des zwanzigsten Jahrhunderts
Aus dem Russischen von Eveline Passet
Mit Nachworten von Eveline Passet und Ilma Rakusa
Guggolz-Verlag, 172 S., 20 Euro.
Aus dem Russischen von Eveline Passet
Mit Nachworten von Eveline Passet und Ilma Rakusa
Guggolz-Verlag, 172 S., 20 Euro.