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Michel Foucault
Die Regierung der Lebenden

Von Michael Köhler | 01.09.2014
    In seiner berühmten Antrittsvorlesung am Collège de France aus dem Jahr 1970 hob Michel Foucault an, ein Werk vorzustellen, das um die Prozeduren der Ausschließung kreist. Jede Gesellschaft kenne Verbote. Diese zu organisieren und zu reproduzieren sei ihre Aufgabe. Das Projekt hieß wie die Vorlesung: Die Ordnung des Diskurses. Das ist heute ein Standardtext der Postmoderne, Gründungsurkunde der Diskursanalyse. Michel Foucault ging es immer darum, dem Ungesagten, dem Ungehörten, den besiegten Stimmen, allen Ausdrucksformen von Unterdrückung eine Stimme zu geben, gerade auch den beängstigenden inneren Mächten.
    "Ja, ich möchte gerne die Geschichte der Besiegten schreiben. Das ist ein schöner Traum, den viele haben. Endlich einmal die zu Wort kommen lassen, die es bislang nicht konnten. Die von der Geschichte, von der Gewalttätigkeit der Geschichte zum Schweigen gezwungen wurden. Von allen Herrschafts- und Ausbeutungssystemen. Und falls sie dennoch sprachen, dann sprachen sie nicht ihre eigene Sprache. Man hat ihnen eine ihnen fremde Sprache aufgezwungen. Sie sind nicht stumm. Nicht, dass sie eine Sprache sprechen, die man nicht gehört hätte und der man sich jetzt verpflichtet fühlte zuzuhören, weil sie beherrscht wurden, ist ihnen Sprache und Begrifflichkeit aufgezwungen worden. Und die ihnen so aufgezwungenen Gedanken sind die Kennzeichen der Wundmale der Unterdrückung, der sie unterworfen waren."
    Es gibt, und das ist der leitende Gedanke des hier vorliegenden Buches, es gibt in den abendländischen Gesellschaften eine Verpflichtung über sich selbst wahr zu sprechen. Das Frühchristentum habe eine Kultur des Gehorsams, der Gewissensprüfung und Selbstprüfung etabliert, die den Anspruch auf Wahrheit mit der Selbsteinschätzung des Subjekts untrennbar verbindet.
    "Wie Sie sehen, geht es im Großen und Ganzen darum, den Begriff der Regierung der Menschen durch die Wahrheit etwas auszuarbeiten."
    Michel Foucault entwickelt in dem hier vorliegenden Buch einen bekannten Gedanken weiter. Es ist die Verbindung, die Verknüpfung von politischer Macht mit dem Anspruch auf Wahrheit, und zwar diesmal nicht so sehr im Blick auf Regierungen, auf Staatslenkung, sondern auf Individuen. Seit das sokratische Denken das Philosophieren mit dem Anspruch auf Wahrheit verband, kam eine Art Wahrheitsregime in die Welt. Wer spricht, muss wahr sprechen, anderen gegenüber, mehr aber noch sich selbst gegenüber. Schuld, Reue, Buße, der Kern des Bußsakraments wurde auch für Nichtchristen juristisch verbindlich. Die Gewissensfrage ist natürlich zugleich eine Frage der individuellen Beschränkung und Selbstdisziplinierung. Foucault variiert den Gedanken, indem er an Septimus Severus, einen römischen Kaiser, an Ödipus und an die christliche Taufe und Buße erinnert. Man muss sich vor Augen führen, in Erinnerung rufen, dass er zu einer Zeit so sprach, als von gesellschaftlich geduldeten Verschiebungen der Lustströme, also von Homosexualität, Queer-Communities, Transsexualität und anderem kaum öffentlich die Rede war, gleichwohl sie es existierten. Vier Jahre später, 1984, starb Michel Foucault selber an AIDS. In den Vorlesungen über „Die Regierung der Lebenden" hört man ihm geradezu beim Denken zu. Er spricht er über...
    "...die Regierung der Menschen durch die Manifestationen der Wahrheit in Form der Subjektivität."
    Einfacher gesagt, wahr sprechen ist verbindlich und konstituierend für das moderne Selbst. Darin stecke immer auch ein Stück Tyrannis. Einen Schwerpunkt legt Foucault auf die Lektüre der lateinischen Kirchenväter. In den ersten drei Jahrhunderten des Christentums sei das etabliert worden, was Foucault das „Wahrheitsregime" nennt. Es besteht aus Gewissensprüfung und Geständnis. Das heißt, es geht nicht nur um das Aussprechen der Wahrheit, sondern auch das Bekenntnis des Subjekts zu dieser Wahrheit. Mehrere der Vorlesungen handeln von der kanonischen Buße und dem klösterlichen Leben. Die Einübung in Demut ist freilich kein emanzipativer Akt im bürgerlichen Sinne, bei dem es um Souveränität geht. In den Augen Foucaults ist es ein Akt der Unterwerfung. Das ist für Ungeübte nicht immer einfach zu lesen. Es atmet den Sound der französischen Theorie, des diskursanalytischen Denkens der späten Siebziger. Aus dem guten Apparat an Anmerkungen, Fußnoten, Einführung und Nachwort erfährt der Leser, dass Foucault sich in der Pariser Bibliothek der Dominikaner und von Gesprächen mit Jesuiten hat anregen lassen. Wahrheit und Subjektivität finden zusammen, weil der Sünder nicht noch einmal die Sünde anzeigt, sondern zeigt, was er ist, ein Sünder. „Die Regierung der Lebenden" kann man seit ihrem Erscheinen zu den wichtigen Werken der jüngeren philosophischen Anthropologie rechnen.
    Michel Foucault: Die Regierung der Lebenden: Vorlesungen am Collège de France 1979-1980. Übersetzt von Andrea Hemminger, Suhrkamp Verlag, 496 Seiten, 48 Euro.