Freitag, 29. März 2024

Archiv

Michel Onfray
Leben und Tod eines Dandys

Der Engländer George Bryan Brummel oder "Beau" Brummel gilt als der Urvater der Dandys im 19. Jahrhundert. In seinem neuen Buch "Leben und Tod eines Dandys" rekonstruiert der Franzose Michel Onfray Brummels Leben, seinen Glanz - und vor allem sein Elend.

Von Claus Lüpkes | 18.11.2015
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der französische Schriftsteller und Philosoph Michel Onfray (picture-alliance/ dpa / La Presse Scavolini)
    Annähernd 20 Jahre prägte George Bryan Brummel, genannt "Beau" Brummel, mit seinem Stil und Geschmack die Londoner High Society des frühen 19. Jahrhunderts.
    Er überwand mit seiner schlichten, schlanken, aber exquisiten Kleidung den bis dahin geltenden pompösen Kleidungskodex des Adels und wurde zur neuen Stilikone der englischen Gesellschaft. Und Vorbild der Dandys im 19. Jahrhundert sowie Wegbereiter der heutigen Herrenmode: Denn in den Grundzügen beruht der Anzug des Mannes bis heute auf den Vorgaben von Brummel. Aufstieg und Fall dieses Salonlöwen haben schon bald nach seinem Tod die Fantasie von Künstlern und Intellektuellen zu Büchern und Bühnenstücken und schließlich auch Verfilmungen angeregt.
    Ihren Essay beginnt Woolf mit dem tristen Ende von Brummel
    Auch Virginia Woolf widmete dem Lebemann einen Essay, den die noch junge BBC am 20. November 1929 in ihrer Reihe "Miniatur-Biografien" sendete. Ihren Essay beginnt Woolf mit dem tristen Ende von Brummel im französischen Caen, wo er seine letzten Jahre fristete, verarmt und verkommen, vereinsamt, gebrechlich, gezeichnet von einer Syphilis, schließlich auch geistig umnachtet. Um dann den "Beau" noch einmal in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit auferstehen zu lassen und zu schildern, wie ihm, der aus bescheidenen Verhältnissen stammte, um 1800 ein beispielloser gesellschaftlicher Aufstieg gelang und er zum Liebling des englischen Adels wurde. Und zwar fast zwei Jahrzehnte lang, über alle gesellschaftlichen und politischen Umbrüche hinweg, und diverse Kriege, wie Woolf feststellt:
    "Die Französische Revolution war über ihn hinweggebraust, ohne auch nur ein einziges Haar in Unordnung zu bringen. Ganze Imperien stiegen auf und vergingen, während er mit dem Faltenwurf eines Halstuchs experimentierte und den Schnitt eines Rocks bemängelte. Nun war die Schlacht bei Waterloo geschlagen, und Frieden war eingekehrt. Die Schlacht hatte ihm nichts anhaben können; sein Untergang war der Friede."
    Erst mit dem Ende der Napoleonischen Kriege begann auch der Stern von George Bryan Brummel zu sinken, so also Woolf. Dabei bestand äußerlich gesehen gar kein Zusammenhang zwischen dem steilen Sturz dieses Stutzers und der politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Entwicklung jener Jahre in England oder auf dem Kontinent. Vielmehr hatte der blasierte Brummel eines Tages endgültig den Bogen überspannt und es sich dabei ausgerechnet mit seinem Freund und Gönner George IV. verscherzt. Er floh vor seinen Gläubigern nach Frankreich, nach Calais. Zehn Jahre später zog er 350 Kilometer südlich nach Caen, wo er 1840 vollkommen mittellos starb.
    So also stellt uns Virginia Woolf auf wenigen Seiten das Leben des Beau Brummel vor. Bleibt die Frage, warum sie ausgerechnet diesem Darling des englischen Adels und des Prinzen einen Essay gewidmet hat, einem Mann, der ganz offensichtlich weder sympathisch war noch ein wirklich bedeutendes Werk hinterlassen hat.
    Onfray geht hart ins Gericht mit der Stilikone
    Sehr viel eindeutiger ist in seiner Intention der französische Philosoph und Publizist Michel Onfray: Onfray, Jahrgang 1959, steht für eine an Epikur geschulte Philosophie - ganz in der Folge der antiklerikalen Aufklärer - und gründete bereits 2002 in Caen in der Normandie eine Art Volkshochschule, womit er in einer gewissen Tradition der Enzyklopädisten um Diderot steht. Auch er hat dem Engländer eine Publikation gewidmet, mit dem Titel: "Leben und Tod eines Dandys". Und auch Onfray rekonstruiert Brummels Biografie, seinen Glanz - und vor allem sein Elend. Denn anders als die Woolf geht der französische Philosoph hart ins Gericht mit der Stilikone. Er beschreibt Brummel als einen äußerst unsympathischen Zeitgenossen, zynisch, arrogant und aggressiv, egoistisch und selbstgefällig. Ein Günstling, der es einfach versteht, sich im richtigen Moment bei den Reichen und Mächtigen beliebt zu machen und vor allem Freund und Zechbruder des Prinzen zu werden. Bis er nach fast zwei Jahrzehnten Herrschaft als Stilpapst und König der Dandys endgültig jegliche Bodenhaftung verliert und den korpulenten George IV. in seinem Beisein öffentlich lächerlich macht. Der Anfang seines Endes.
    Von einem Moment auf den anderen entzieht der Prinz Brummel seine Gunst und lässt ihn fallen. Mit soziologisch geschultem Blick analysiert Michel Onfray die wahren Machtverhältnisse und entlarvt den Dandy und seine Rolle in der Londoner Aristokratie:
    "Worin also bestand die Größe des George Bryan Brummel? Einzig und allein in seinem Umgang mit dem König, in seiner Rolle als Hofnarr. Anders als oft behauptet, bezog der Dandy seine Macht nicht aus den Blicken anderer, sondern aus dem Kredit seines Gönners. Zog der König die Leiter weg, fiel der Dandy der Länge nach hin."
    Ohne die schützende Hand des kommenden Monarchen bleibt Brummel, hoch verschuldet durch seinen aufwendigen Lebenswandel und seine Spielsucht, schließlich nur noch die Flucht, die Onfray präzise schildert:
    "Am Abend des 16. Mai 1816 aß Brummel in einem der Dandy-Clubs Geflügel und trank dazu einen edlen Bordeaux. Später ließ er sich in der Oper blicken. Nach diesem letzten Auftritt stieg er in seine mit ausgewählten Gegenständen bepackte Kutsche und fuhr durch ärmliche Viertel zum Hafen. Am 17. schiffte er sich nach Calais ein. Am 19. überquerte er den Ärmelkanal, während Gläubiger seine Londoner Wohnung versiegeln ließen. Am 22. wurde sein Hab und Gut in London versteigert. George Bryan Brummel war damals neununddreißig Jahre alt und hatte noch dreiundzwanzig Jahre der Verwahrlosung vor sich. Sie waren das Gegenteil dessen, was man sich unter Dandyismus vorstellt."
    Genüsslich beschreibt Onfray den Niedergang des Dandys
    Erste Etappe dieses Niedergangs ist Calais, wo Brummel mit Unterstützung reicher Gönner immerhin 14 Jahre verbringt, stets bemüht, seinen aufwendigen Lebenswandel aufrecht zu halten. Bis er schließlich er nach Caen unterhalb von Le Havre zieht:
    "Brummel kam am Dienstag, dem 5. Oktober 1830, in Caen an. Er war zweiundfünzig Jahre alt, gab sich aber für fünfunddreißig aus. Während der Dandy zum Konsul ernannt worden war, hatte der fettleibige George IV. am 26. Juni 1830 in königlichen Gemächern sein Leben ausgehaucht."
    Dann aber wird der Posten des Konsuls in Caen abgeschafft. Trotzdem lebt Brummel weiter auf großem Fuße – und zwar, natürlich, auf Pump.
    Was nicht lange gut geht. Genüsslich beschreibt Onfray den Niedergang des Dandys:
    "Im Mai 1835, nach Monaten auf Pump, voller verschiedener Gaunereien, unbezahlter Schulden, umstellten auf Ersuchen eines Bankiers von Calais, bei dem Brummel in schier unglaublicher Höhe in der Kreide stand, der Kommissar und ein halbes Dutzend Gendarmen das Haus am frühen Morgen. Einst wohnte eine Elite seiner Morgentoilette bei; diesmal scheuchten ihn die Gesetzeshüter aus dem Bett, zerknautscht von der Nacht, wie er war. Er musste sich vor der versammelten Mannschaft ankleiden, die dem Prozedere nicht etwa aus kranker Neugier beiwohnte, sondern weil Brummel in der Vergangenheit ein gewisses Geschick demonstriert hatte, wenn es darum ging, sich dem Gesetz zu entziehen. Der König der Dandys weinte."
    Nach 12 Wochen Gefängnis wird er entlassen, weil Freunde seine Schulden beglichen haben. Bald jedoch ist er körperlich wie geistig gezeichnet von einer fortgeschrittenen Syphilis und verkommt zusehends. Im Mai 1838 bringt man ihn in eine Irrenanstalt, wo Brummel am Montag, den 30. März 1840 tot in seinem Bett aufgefunden wird.
    Die Nachwelt macht Brummel zur Legende
    Wie aber, fragt Onfray, konnte dieser George Bryan Brummel über sein klägliches Lebensende hinaus zu einer Ikone der Eleganz werden, zu einem bis heute gültigen Inbegriff für Stil und Geschmack? Es ist, so Onfray, die Nachwelt, die Brummel zur Legende macht. Allen voran: Jules Barbey d’Aurevilly, ein spätromantischer Romancier und Essayist, auch er aus der Normandie. Bereits 1844 veröffentlichte er "Vom Dandytum und von G. Brummel", der Versuch einer Kurzbiografie des englischen Dandys. Oder besser: der Versuch einer Theorie des Dandyismus. Denn genau genommen ging es Barbey nicht um eine Biografie Brummels. Vielmehr dient ihm dessen schillernde Existenz nur als Vorlage für seine eigene Theorie des Dandyismus, wie er in einem Brief zugibt:
    "Bei meinen Nachforschungen habe ich nur sehr wenige Fakten gefunden – extrem wenige – und habe begonnen, über Brummel und den Dandyismus viel eher nachzudenken als eine auf vagen Gerüchten basierende Geschichte aufzuschreiben. Ich habe nach einem bestimmten Einfluss gesucht, dessen Bedingungen und Grenzen erforscht, ihn umschrieben etc. etc. In anderen Worten: Ich habe die Geschichte von so hoch oben konstruiert, dass es fast keine Geschichte mehr ist."
    Barbeys Theorie des Dandyismus schreibt also eine Geschichte von oben, erklärt die Oberflächlichkeit zum Zeichen größten existenziellen Tiefgangs und postuliert eine Kunst des Künstlichen.
    Akribisch analysiert der Aufklärer Onfray diese Theorie, um sie Satz für Satz und These für These zu verreißen und am Ende ein vernichtendes Urteil zu fällen über diesen aus seiner Sicht reaktionären Aristokraten.
    Ganz im Gegensatz zu Charles Beaudelaire. Auch der hatte sich mit Beau Brummel auseinandergesetzt, um eine eigene Theorie aufzustellen. Und zwar im "Figaro": 1863 veröffentlichte er einen Artikel mit dem Titel "Der Dandy".
    In diesem Text geht Baudelaire, so Michel Onfray, über die bloßen Äußerlichkeiten, das geschniegelte Erscheinungsbild hinaus. Wie er auch über George Bryan Brummel hinausgeht. Für Baudelaire ist der Dandy vielmehr ein Philosoph, der in einer uniformen Gesellschaft seine Individualität ausprägt und gestaltet, in Abgrenzung und im Protest zum Bürgertum. Und eben diese Haltung ist es, die schließlich den vollen Zuspruch von Michel Onfray findet, wenn er Baudelaires Theorie in direkten Bezug setzt zu unserer Gegenwart hier und heute:
    "Brummels Geist spukt noch durch ein längst untergegangenes Caen. Der Dandyismus Baudelaires aber wäre heute und morgen noch eine Alternative zur Barbarei unseres gegenwärtigen Europa, das zusammenbricht wie einst das Römische Reich."
    Michel Onfray: "Leben und Tod eines Dandys. Die Konstruktion eines Mythos",
    aus dem Französischen von Stephanie Singh
    80 Seiten, 14,80 Euro

    Virginia Woolf: "Beau Brummel"
    Aus dem Englischen von Tanja Handels. 16 Seiten, 30,- Euro

    Alexandra Harris: "Virginia Woolf"
    Aus dem Englischen von Tanja Handels und Ursula Wulfekamp
    250 Seiten, 24,- Euro

    Alle im Steidl-Verlag, Göttingen, in der Reihe L.S.D.