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Migration
Türkei schickt wieder Flüchtlinge an EU-Grenze

Die Türkei hat Migranten aus den Flüchtlingslagern an der Ägäisküste abgesetzt. Griechenland fühlt sich provoziert und warnt: Menschen würden wieder als Waffen eingesetzt - wie bereits Ende Februar. Für die Migranten nimmt der Druck damit von beiden Seiten weiter zu.

Von Marion Sendker | 15.04.2020
Migranten fahren in einem Boot, kurz bevor sie ein Dorf auf der griechischen Insel Lesbos erreichen über die Ägäis von der Türkei aus kommend.
Migranten auf der Ägäis an der griechischen Grenze Anfang März 2020 (dpa-bildfunk / AP / Michael Varaklas)
Sie sind wieder da: Seit dem Osterwochenende sollen Flüchtlinge an die türkische Ägäisküste gebracht worden sein. Den Transport übernahm der türkische Staat. Die meisten strandeten buchstäblich in Izmir, von wo aus sie in kleinen Gruppen an andere Küstenorte gebracht worden sein sollen. So berichtet es der Syrer Ali. Er befindet sich zwar noch in einem von türkischen Sicherheitsbeamten streng bewachten Camp im südöstlichen Malatya. Freunde von ihm seien aber schon an der Ägäis: "Sie leben auf der Straße. In den sozialen Medien teilen sie Fotos, denn sie brauchen Decken und Brot. Selbst die türkischen Hilfsorganisationen geben ihnen nichts."
Auch wenn viele Flüchtlinge dort nichts mehr haben, gibt es Berichte davon, dass die Migranten offizielle Dokumente unterschreiben mussten. So auch Alis Freunde: "Demnach sollen sie sich jede Woche einmal bei der örtlichen Polizeistation melden. Das müssen sie zwei Jahre lang machen." Danach müssten sie die Türkei verlassen, heißt es in dem Dokument weiter. Bis dahin könnte die Pflicht, sich bei der Polizei zu melden, dafür sorgen, dass viele Migranten erst einmal in der Küstengegend bleiben - mit dem verlockenden Blick auf das Meer nach Europa. Ali meint aber: "Wie soll das gehen? Auch wenn wir nach Griechenland können, müssen wir zurück. Einige haben uns erzählt, dass es Boote gab und sie zurück in die Türkei geschickt wurden. Einer ist dabei sogar gestorben."
Griechenland fühlt sich von der Türkei provoziert
Geschichten wie diese, ob sie wahr sind oder nicht, schrecken die Migranten ab. In Griechenland lösen die Neuankömmlinge an der Ägäisküste dennoch Panik aus. Die Türkei setze sie absichtlich dort aus, damit die Menschen leichter nach Griechenland gelangen können, schimpfte zum Beispiel der Verteidigungsminister, Nikos Panagiotopoulos, in einem Fernsehinterview. Selbst das Timing, nämlich passend zum griechischen Palmsonntag, sei Absicht gewesen: "Die Türkei provoziert uns Griechen gerne an nationalen Feiertagen. Wir untersuchen derzeit die Möglichkeit, dass die Türkei weiterhin illegale Migranten als Waffe einsetzen will. Denn wenn Du versuchst, Dich in ein Land hineinzuzwingen, bist Du illegal."
Asselborn: Kinder nicht auf den Müllhalden verkommen lassen
In Luxemburg kommen heute die ersten zwölf unbegleiteten Kinder aus den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln an. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn fordert weitere EU-Länder zur Mithilfe auf.
Das sieht die herrschende Meinung im Völkerrecht zwar anders, aber Griechenland wird nach Angaben des Ministers trotzdem seinen Grenzschutz in Alarmbereitschaft halten. Es sieht damit so aus, als wolle die Türkei das politische Spiel, das die Regierung mit der Grenzöffnung Ende Februar begonnen hatte, nach einer Corona-Quarantäne, in die sie die Migranten steckte, nun fortsetzen wollen.
Kritik von Amnesty International
Verhindern könne das die EU, findet Andrew Gardner von Amnesty International: "Es ist nur eine kleine Anzahl von Menschen, die in Versuchung sind, die Grenze nach Griechenland zu überschreiten. Die EU sollte jetzt wirklich das Richtige machen und überprüfen, ob sie den Flüchtlingsstatus bekommen können. Sie können die zurückschicken, denen dieser Status nicht gegeben wird - solange sie umfangreich und individuell prüfen."
Doch die EU übt sich jedoch - wie so oft bei diesem Thema - in Zurückhaltung. Dass die Migranten über den Seeweg so schnell nach Griechenland kommen, ist ohnehin erst einmal unwahrscheinlich. Denn dazu braucht es Schlepper - und deren Dienste sind teuer. Das sieht auch Alis Freund Halid in Malatya so. Weil Halid nicht so gut Türkisch kann, spricht Ali für ihn: "Halid hat Angst, dass die Türken ihn rausschmeißen und er wie unser Freund an der Küste auf der Straße schlafen muss. Halid hat kein Geld. Wenn die Türken ihn rauswerfen, kann er sich nicht einmal Wasser kaufen."
Die Migranten sind der türkischen Staatsgewalt ausgeliefert
Der Rauswurf steht aber offenbar kurz bevor – auch für Ali. Erst gestern fragte ein Sicherheitsbeamter die beiden, ob sie zurück zur Grenze nach Edirne wollen oder ob sie bleiben möchten. Die Antwort: "Wir haben gesagt, dass wir nach Edirne möchten, um nach Europa zu kommen. Dann hat er Mann gesagt: "Ihr wollt die Türkei also nicht? Dann wollen wir Euch auch nicht mehr. Wir werden euch in die Länder schicken, aus denen ihr kommt: Afghanen nach Afghanistan, Syrer nach Syrien."
Auch das ist theoretisch nicht so einfach mit internationalem Recht vereinbar. Praktisch gesehen sind die Migranten aber der türkischen Staatsgewalt ausgeliefert.