Dienstag, 14. Mai 2024

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Migration und Politik
"Da ist unsere moralische Debatte komplett verkürzt"

Die Migrationsdebatte in Deutschland werde unvollständig geführt, sagte der Ethiker Nikolaus Knoepffler im Dlf. Moralische Überlegungen richteten sich oft erst auf Migranten, wenn sie in Seenot gerieten. Dabei müsse man früher ansetzen. Doch wir fühlten uns nicht verantwortlich, weil die Armut "weit genug weg sei".

Nikolaus Knoepffler im Gespräch mit Kathrin Hondl | 08.07.2018
    Ein mit Flüchtlingen besetztes Schlauchboot. Im Hintergrund das Seenotrettungsschiff "Sea Eye"
    Wir sollten mit dem moralischen Nachdenken nicht erst anfangen, wenn Migranten auf dem Mittelmeer in Seenot geraten, meint der Philosoph und Theologe Nikolaus Knoepffler (imago/JOKER)
    "Wir haben ja auf der Welt eine Milliarde Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze", sagte der Professor am Lehrstuhl für angewandte Ethik der Uni Jena. Weil die aber "weit genug weg" seien, "fühlen wir uns als Weltgemeinschaft und auch konkret als bundesdeutsche Gesellschaft nicht wirklich verantwortlich. Wenn jetzt jemand - aus welchen Gründen auch immer - auf einem solchen Boot ist, dann auf einmal wird es für uns zum moralischen Problem", sagte Knoepffler. "Und das halte ich für heuchlerisch."
    Im Mittelpunkt der Migrationsdebatte stehe als moralische Kernfrage das Gebot der Lebensrettung: "Sind wir verpflichtet, jemandem, der in einer Not auf Leben und Tod ist, zu helfen? Und da ist die Antwort aller Moraltheorien eigentlich die gleiche: Natürlich sind wir verpflichtet, wenn wir es können, demjenigen zu helfen." Davon getrennt zu betrachten sei die Frage, ob man Gerettete anschließend in sein Land aufnehmen müsse.
    Beide Fragen gingen allerdings an einer viel grundlegenderen Fragestellung vorbei: "Warum hat jemand, der politisch verfolgt ist und dessen Leben politisch bedroht ist, ein größeres Anrecht, nämlich ein Anrecht auf Asyl, während derjenige, der, weil er am Verhungern ist oder seine Kinder am Verhungern sind, einen aus der Großfamilie nach Europa schickt, um eben für seine bedrohte Familie bessere Bedingungen zu haben?" In einer Welt, in der auch weit entfernte Not und Armut doch ganz nah seien, brauche es eine umfassendere Hilfe gegen die deren Ursachen.
    Seehofer in einem "klassischen Dilemma"
    Mit Blick auf den Asylstreit der Union sieht der Moralphilosoph den Innenminister Horst Seehofer "in einem klassischen Dilemma". Um glaubwürdig zu bleiben, wolle er "zu dem stehen, was er seit 2015 sagt und wo er jetzt als Innenminister die Hauptverantwortung für die Frage trägt". Er habe sich "klar positioniert und gesagt: Das Asylrecht bedeutet nicht, dass jemand einfach zu uns kommen kann, sondern wir haben ein Dublin-Abkommen. Das heißt: Derjenige soll gefälligst in dem Land, in dem er als erstes registriert wurde, dann auch sein. Wenn er (Seehofer; Anm. d. Red.) dazu steht, dann muss er darum kämpfen."
    Allerdings habe Seehofer nach verbreiteten moralischen Ansichten die falsche Arena zur Austragung seines Konflikts gewählt. Man erwarte üblicherweise, dass so ein Kampf nicht wie in den vergangenen Wochen in der Öffentlichkeit stattfinde und dass nicht der Eindruck entstehe, ein Minister erpresse seine Kanzlerin. "Man sollte einen anderen nicht in dieser Weise unter Druck setzen, und schon gar nicht öffentlich", sagte Knoepffler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.