Donnerstag, 28. März 2024

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Migrationspolitik
Leinen: Europäische Idee nicht gefährden

Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen hat im Dlf vor einem nationalen Alleingang Deutschlands in der Migrationspolitik gewarnt. Denn Deutschland habe eine Vorbildfunktion in Europa. Wenn in der Folge nur noch unilaterale Lösungen gesucht würden, sei das ein Rückschritt ins vergangene Jahrhundert.

Jo Leinen im Gespräch mit Stefan Heinlein | 15.06.2018
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen
    Lob für die Kanzlerin gab es vom SPD-Europaabgeordneten Jo Leinen (imago / Yex Pingfan)
    Stefan Heinlein: Mitgehört hat der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Guten Morgen, Herr Leinen.
    Jo Leinen: Guten Morgen, Herr Heinlein.
    Heinlein: Herr Leinen, aus der Ferne in Brüssel – können Sie sich einen Reim machen auf den unionsinternen Streit?
    Leinen: Es gibt überhaupt keinen Sinn, diese Hektik an den Tag zu legen, Ultimaten zu setzen bis Montag. Da fragt man sich, was soll das. So schlecht kann die Welt über das Wochenende gar nicht werden, dass am Montag Lösungen kommen müssen, die man vielleicht in 14 Tagen dann tatsächlich beim Gipfel in Brüssel finden kann. Da muss was anderes dahinter sein, und ich sage mal, wir haben Landtagswahlen in Bayern. Das kann man ja mit den Händen greifen. Und die CSU sucht krampfhaft nach einem Thema. Nachdem die Kreuze in der Schule nicht gezogen haben und das Polizeigesetz vielleicht eher kontraproduktiv war, müssen es jetzt die Migranten sein. Da vermutet man das große Thema für die bayerische Landtagswahl.
    "Es zerreißt hier CDU und CSU"
    Heinlein: Geht es der CSU nur um Bayern, nicht um die Asyl- und Flüchtlingspolitik und auch nicht um Berlin und schon gar nicht um Brüssel?
    Leinen: Es geht natürlich schon um die Lösung der schwierigsten Frage, die wir in Europa haben: Wie gehen wir mit der modernen Völkerwanderung um, die seit einigen Jahren stattfindet. Das ist eine schwere Belastungsprobe für alle und es zerreißt ja auch zurzeit innerhalb der Mitgliedsländer wie zwischen den Mitgliedsländern einige Bande, die wir vielleicht früher geknüpft haben. Es zerreißt hier CDU und CSU. Man staunt ja, mit welcher Heftigkeit die aufeinander zugehen oder aufeinander gehen. Aber in Europa haben wir das ja auch gehabt, dass einige Staaten Zäune bauen, dass sie sich abschotten, Gesetze einfach nicht einhalten, die auch gemeinsam beschlossen werden sollten. Wir haben schon eine große Belastung in Europa wegen der Migration.
    Heinlein: Herr Leinen, ordnet sich das, was die CSU nun vor hat, was sie plant, dieser nationale Alleingang in der Flüchtlingspolitik, ein in einen europaweiten Trend, eine Absage an den Multilateralismus, so wie es unser Korrespondent Stephan Detjen gerade geschildert hat, zurück zu Grenzen, zur Verteidigung nationaler Interessen? Ist das ein Trend, den jetzt die CSU mitmacht, ein Trend, der erkennbar ist in Europa?
    Leinen: Das ist ja die ganz große Gefahr, dass dieser Trend "America first", vielleicht jetzt auch "Bayern first", sogar bis auf die Regionalebene heruntergezogen wird. Und wo soll das hinführen? – Natürlich haben wir Länder wie Ungarn, die ein unrühmliches Beispiel sind, aber Deutschland hat eine ganz andere Verantwortung. Wir sind ein ganz anderes Land in Europa. Wir sind das größte Land. Auf uns wird geschaut. Und wenn wir jetzt diese einseitigen Beschlüsse machen, wenn wir uns nicht mehr an Regeln halten, wenn wir nicht nach dem Gemeinsamen in dieser Europäischen Union suchen, dann in der Tat kann man schwarz sehen für die ganze europäische Idee, und so weit darf es nicht kommen.
    Ich glaube, die Bundeskanzlerin, die hat das gerochen. Die sieht das und sie kämpft ja auch darum, dass hier noch ein Weg gefunden wird, wirklich gemeinsame Lösungen und nicht lauter unilaterale Lösungen, denn das boxt uns wirklich zurück in das vergangene Jahrhundert. Da will ich nicht hin, da will die Kanzlerin nicht hin, da wollen viele hoffentlich nicht hin.
    "Das Schengen-System ist ja schon durchlöchert"
    Heinlein: Lob von der SPD für die Kanzlerin. Das gibt es auch nicht so häufig, Herr Leinen. Ist das, was die CSU vor hat, de facto die Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Europa, aus Ihrer Sicht, aus der Sicht eines erfahrenen Europapolitikers vereinbar mit den europäischen Gesetzen?
    Leinen: Nein. Das Schengen-System ist eine der großen Errungenschaften und es ist ja schon durchlöchert durch die vorübergehenden Grenzkontrollen, die aber nur vorübergehend sein sollen. Was die CSU will, sind permanente Grenzkontrollen, das heißt mehr oder minder die Aufhebung des Schengen-Vertrages, und das ist ein böser Anfang. Man kann sich ja da Weiterungen vorstellen, wo wir in anderen Feldern auch einfach national handeln und gar nicht mehr darauf warten, dass wir europäische Lösungen finden. Das kann nicht im deutschen Interesse sein und das darf man auch nicht machen. Deshalb hoffe ich mal, hier wird nicht wirklich großes Lotto gespielt, sondern man muss noch wirklich klaren Kopf behalten.
    In 14 Tagen ist ein Gipfel in Brüssel. Ich will nur mal sagen, dass wir gestern sogar weitere Schritte gefunden haben zu einem europäischen Asylsystem. Alle Mitgliedsstaaten und das Europaparlament haben sich geeinigt auf die Registrierung von Migranten an den Grenzen Europas, auf die Konditionen zur Aufnahme. Also es ist ja viel passiert! Wir bauen den europäischen Grenzschutz aus. In der Tat wird man auch bei der Verteilung der Flüchtlinge vorankommen müssen. Für die Eile, die jetzt die CSU an den Tag legt, gibt es kein Verständnis. Das ist nicht der Sache geschuldet, wie immer gesagt wird, sondern allein dem Wahltag, der in ein paar Monaten in Bayern ansteht.
    Heinlein: Herr Leinen, Sie wollen eine europäische Lösung. Das haben Sie jetzt gerade noch mal klargemacht. Die Kanzlerin will eine europäische Lösung. Was ist denn falsch an dem Argument der CSU, eine europäische Lösung der Asylpolitik hat es jahrelang nicht gegeben, man hat über drei Jahre lang verhandelt, es wird sie auch in absehbarer Zeit nicht geben, jetzt wird es Zeit für eine nationale Lösung?
    Leinen: Natürlich ist Europa überrascht worden von dieser Flüchtlingsbewegung. Man kann im Nachhinein sagen, man hätte das kommen sehen müssen. Aber wie das so ist bei 28 Ländern: Das dauert länger. Ich will nur mal sagen, dass die Finanzkrise 2009 über uns hereingebrochen ist. Da haben wir wesentlich länger gebraucht, um die Schritte zu machen, die wir in der Eurozone brauchen.
    Hier bei der Migration geht es wesentlich schneller. Wir haben in drei Jahren Dinge gemacht für ein gemeinsames Asylsystem, für einen gemeinsamen Grenzschutz, für die Erfassung mit dem Eurodac-System der Fingerabdrücke, jetzt der Registrierung auf gemeinsamen Standards. Wir kommen in Riesenschritten voran, wenn man das an europäischen Fortschritten misst. Ich bin der Meinung, das ist das große Thema in zwei Wochen auf dem Gipfel in Brüssel, und warum sich nicht Zeit lassen diese zwei Wochen und die Erfolge des Gipfels mitnehmen und dann beurteilen, funktioniert es oder sind wir jetzt wirklich zu langsam und man muss vielleicht andere Maßnahmen auch ergreifen.
    "Wir beobachten mit Fassungslosigkeit, was da in der CDU/CSU passiert"
    Heinlein: Frage zum Schluss, Herr Leinen. Als wir gestern versucht haben, für dieses Interview einen SPD-Bundespolitiker zu bekommen, gab es reihenweise Absagen. Nur die Parteichefin Nahles durfte sich äußern, so war die Mitteilung. Warum sind Ihre Genossen so kamerascheu in diesem Streit?
    Leinen: Wir beobachten natürlich mit Fassungslosigkeit, was da in der CDU/CSU passiert, und vielleicht ist die Einmischung von außen jetzt auch nicht angeraten. Die streiten sich ja schon genug und ich glaube, die SPD tut gut daran, erst mal zu sehen, was über das Wochenende passiert. Ermahnungen von außen an die CSU haben noch nie gewirkt und von daher sind die Berliner vielleicht gut beraten, sich zurzeit etwas zurückzuhalten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.