Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Migrationspolitik
Zuwenig Fachkräfte und dennoch Abschiebungen

Mit dem Migrationspaket möchte die Bundesregierung die Beschäftigung und Ausbildung Geflüchteter erleichtern und die Erwerbsmigration fördern. Doch derzeit werden selbst Azubis abgeschoben. In Brandenburg an der Havel wird das vom Handwerk kritisiert.

Von Jutta Schwengsbier | 24.12.2019
Geflüchtete arbeiten am 30.10.2017 in einer Werkstatt des Berufsorientierung- und Integrationsprojekt ARRIVO
Geflüchtete in einer Integrationswerkstatt: Das Handwerk benötigt dringend Nachwuchs (dpa / picture alliance / Sophia Kembowski)
Stadtzentrum Brandenburg an der Havel. Kleine Gässchen führen in eine verwinkelte Ecke am Gotthardtkirchplatz. Das hier gelegene interkulturelle Zentrum ist so etwas wie ein Familientreffpunkt für Migranten aus aller Welt. Ein Ort, an dem jeder Willkommen ist. Und Willkommen sein, das sei für Migranten das Wichtigste, um sich ein neues Leben in Deutschland aufbauen zu können, sagt Monika Kadur, Leiterin des Bleiberechtsnetzwerkes im Land Brandenburg. Der oft diskutierte Spurwechsel - also der Wechsel vom Asylverfahren in den Arbeitsmarkt - ist bislang politisch nicht gewollt. Immer wieder bekommt Kadur Fälle wie diesen auf den Tisch:
"Ein junger Mann aus Afghanistan hat hier im Bereich Lagerlogistik gearbeitet in einer Brandenburger Firma. Er war noch im Asylverfahren und hat seinen Lebensunterhalt komplett verdient. Und dann wurde sein Asylverfahren abgelehnt. Die Bundespolizei ist in den Betrieb einmarschiert, hat den Mann in Handschellen gelegt und hat ihn abtransportiert."
Mit den neuen Migrationsgesetzen, die Anfang kommenden Jahres in Kraft treten, soll dieses Problem zwar angegangen werden. Wer einen festen Job hat, seinen Lebensunterhalt über einen längeren Zeitraum selbst bestreitet und deutsch spricht, erhält eine Duldung und darf damit erst einmal bleiben. Eine Neuerung, die sowohl von der Industrie als auch vom Handwerk seit langem gefordert wurde.
"Unsere Betriebe haben da kein Verständnis dafür, dass sie jetzt junge Leute hier ausbilden, erfolgreich vielleicht zum Berufsabschluss führen und dann werden die Leute im Betrieb gebraucht und sollen dann abgeschoben werden."
Handwerksbetriebe haben Nachwuchsprobleme
Tatsächlich haben viele Handwerksbetriebe in Ostdeutschland Nachwuchsprobleme, bestätigt der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Potsdam, Ralph Bührig.
"Wir haben hier aktuell noch fast 800 unbesetzte Lehrstellen zu verzeichnen. Immer mehr Schülerinnen und Schüler streben zum Abitur und streben zum Studium. Wir hatten also Ende der 90er-Jahre allein im Handwerkskammer Bezirk noch über 10.000 Lehrlinge im Handwerk und wir liegen jetzt aktuell bei etwas über 3.000 Lehrlingen im Handwerk."
Es ist eine Zeitenwende, die noch viel dramatischer wäre, wenn nicht junge Flüchtlinge die Nachwuchslücke zumindest teilweise ausgefüllt hätten, sagt Ralph Bührig.
"Handwerk hat sich ja seit Beginn dieser stärkeren Flüchtlingssituation in besonderem Maße für die Integration eingesetzt. Das Handwerk bildet bundesweit in etwa 25 Prozent aller Lehrlinge aus. Bei den Flüchtlingen ist dieser Anteil doppelt so hoch."
In Frankfurt Oder werden Flüchtlinge qualifiziert
Nachdem im Jahr 2015 immer mehr Flüchtlinge auch nach Brandenburg kamen, bekam das überbetriebliche Ausbildungszentrum für die Bauwirtschaft in Frankfurt Oder eine zusätzliche Aufgabe: Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt qualifizieren.
In einer Werkshalle in Frankfurt Oder stehen einige junge Männer in einer großen Grube und klopfen Steine in den Sand. Es sind Schüler, die die verschiedenen Gewerke auf einer Baustelle vor ihrer Lehre zunächst einmal ausprobieren sollen. Straßenbauer, Maurer, Maler, Zimmermann. Für Mohammed ist das eigentlich nichts Neues. Der 30-jährige Flüchtling aus Afghanistan hat schon oft auf Baustellen gearbeitet.
"Ich habe in Afghanistan, Iran auf Baustellen gearbeitet. Afghanistan keine Schule. In Deutschland ein Jahr zur Schule gegangen."
Was Mohammed noch lernen muss, sind deutsche Qualitätsstandards. Und die deutsche Fachsprache. Wie Mohammed sind etliche Flüchtlinge nie vorher zur Schule gegangen. Um auch solchen gering Qualifizierten gerecht zu werden, hat das Ausbildungszentrum in Frankfurt Oder speziell für sie angepasste Module entwickelt. Mohammed würde eine Ausbildung zum Facharbeiter nicht bestehen, erläutert Ausbildungsleiterin Karin Petri. Deshalb wird er zum Bauhilfsarbeiter für Trockenausbau weiter gebildet,
"Ich sage jetzt mal, es gab Module Mauern. Es gab ein Modul Fliesenleger. Ein Modul Trockenbau. Modul Beton und so weiter. Unterlegt natürlich mit zusätzlichem Unterricht in Fachsprache."
Studien gehen von hohen Bedarf an Azubis aus
Kleinere Firmen in Brandenburg zögern zwar noch, überhaupt Flüchtlinge wie Mohammed einzustellen, gibt Karin Petri unumwunden zu. Einige haben Angst, Probleme mit Kunden zu bekommen, wenn plötzlich ein afrikanischer oder asiatischer Handwerker vor ihrer Tür steht. Insgesamt sei ihr Konzept aber aufgegangen. Inzwischen kommen auch Anfragen nach Lehrlingen von Firmen, die früher keine Flüchtlinge einstellen wollten. Der Leidensdruck sei einfach sehr groß im Moment. Wer sehe, dass andere Handwerksbetriebe auf Baustellen erfolgreich mit Flüchtlingen arbeiten, sei eher bereit, das auch selbst einmal auszuprobieren.
Statt wie von der Bundesregierung geplant, nur Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, plädiert Monika Kadur vom Bleiberechtsnetzwerk dafür, auch das in Deutschland vorhandene Potential durch Flüchtlinge besser auszunutzen.
"Ich will, dass man eigentlich auf die Menschen schauen sollte, die hier sind, weil dort das Potenzial schon gegeben ist. Auch, dass man die Gesellschaft kennt, dass man Gegebenheiten kennt, Gewohnheiten kennt."
Eine Bertelsmann-Studie geht davon aus, dass jedes Jahr 260.000 Menschen zuwandern, um den akuten Bedarf auch nur annähernd decken zu können. Ansonsten werde die Zahl der Arbeitnehmerinnen in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten um rund ein Drittel sinken.
Ausgebildete Flüchtlinge wieder abzuschieben, kann sich Deutschland nach Ansicht von Experten eigentlich überhaupt nicht leisten.