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Milbradt

Gerlach: Herr Ministerpräsident, am Donnerstag dieser Woche haben wir nun zum zwölften mal den Tag der Einheit gefeiert, und da sind ja durchaus unterschiedliche Resümees gezogen worden Bundespräsident Rau hat gesagt, dass wir die Geschichte, sowohl der DDR wie auch der Bundesrepublik, als gemeinsame deutsche Geschichte begreifen sollten. Wolfgang Schäuble hat gesagt, dass noch viel zu tun sei auf dem Weg zur inneren deutschen Einheit. Wie verläuft denn Ihr Fazit für den Prozess der inneren deutschen Einheit? Wie weit sind wir eigentlich auf diesem Weg?

Alexandra Gerlach |
    Milbradt: Zunächst konnten wir bei der Flut feststellen, dass gegenseitig ohne großes Zögern Hilfe geleistet wurde, das heißt, wir sind weit mehr zusammengewachsen, als es viele wahrhaben wollen. Es hat immer ein gemeinsames Solidaritätsgefühl gegeben, auch schon vor 1989. Und auch bei dieser Flut ist wieder deutlich geworden, dass es keine Unterschiede West – Ost gibt. Natürlich gibt es historische und landsmannschaftiche Unterschiede, und die werden auch bleiben. Und die Geschichte ist auch früher, auch schon vor 1945, in den verschiedenen Landesteilen in Deutschland unterschiedlich verlaufen. Und das merkt man auch bis heute, und das wird auch so bleiben. Bezogen auf die wirtschaftliche Angleichung haben wir zwar einen großen Schritt getan seit 1990 – von einem Bruttoinlandsprodukt, was etwa bei 30 Prozent des Westniveaus liegt, sind wir jetzt bei etwa 65/70 Prozent, aber es ist klar, das ist nicht 100 Prozent, und der Weg von 70 auf 100 ist einfacher als der Weg von 30 auf 70.

    Gerlach: Schauen wir noch mal ganz kurz zurück. Sie sind jetzt seit knapp fünf Monaten im Amt, und man kann Ihre Amtszeit schon jetzt im Grunde in zwei Phasen unterscheiden und teilen: Die eine Phase vor der Flut und die andere danach. Und für mich stellt sich so die Frage: Sie haben ja sehr schwere Stunden im Amt erlebt in den Zeiten der Flut, und als das Hochwasser stieg und stieg. Haben Sie da manchmal Momente erlebt, wo Sie gedacht haben: Ich habe die Anforderungen dieses Amtes unterschätzt?

    Milbradt: Natürlich muss man in einer solchen Situation präsent sein. Ich habe mir das nicht gewünscht, ich habe mir das auch nicht vorstellen können, dass das so schlimm kommen würde und dass es mich betreffen würde. Aber als es kam, war selbstverständlich, dass ich es zu machen hatte, und ich habe nicht darüber nachgedacht., ob es irgend einen Weg gegeben hätte, in früheren Zeiten das zu vermeiden.

    Gerlach: Jetzt haben Sie durch die Flut ganz neue Anforderungen, die sich an den Haushalt des Landes stellen. Und da stellt sich ja auch die Frage, welche Aufgaben werden Sie jetzt zurückstellen müssen, weil das Geld nicht reicht und weil Sie Geld, das Sie vielleicht schon eingestellt haben für bestimmte Projekte, nun für die Fluthilfe beispielsweise bereitgestellt werden muss.

    Milbradt: Wir gehen zunächst einmal davon aus, dass wir auf gesamtdeutscher Ebene eine Lösung über den Fluthilfefonds bekommen haben. Der gesamtdeutsche Steuerzahler stellt durch die Verschiebung der Steuersenkung im Jahre 2003 rund sieben Milliarden Euro zur Verfügung. Und das müsste reichen, um einen großen Teil der Schäden abzudecken. Niemand weiß im Augenblick genau, wie hoch sie sind, wie hoch vor allen Dingen die Schäden sind, die dann für die öffentliche Hand noch übrigbleiben. Denn natürlich haben wir Versicherungsleistungen. Es gibt zum Teil Spenden, es gibt auch andere Möglichkeiten der Schadensdeckung. Aber es macht im Augenblick keinen Sinn, darüber zu philosophieren, was wäre, wenn das Geld nicht ausreicht. Im Augenblick ist es wichtig, dass wir anfangen, ohne im Augenblick genauer zu wissen, wo wir herauskommen. Sachsen ist Gott sei Dank in einer glücklichen Situation dadurch, dass wir im Vergleich der anderen ostdeutschen Länder relativ niedrige Staatsschulden haben, so dass es im äußersten Notfall es auch möglich wäre, einen Teil dieser Katastrophe darüber abzufedern. Allerdings ist das nicht mein Ziel.

    Gerlach: Trotzdem noch mal die Frage: Als der Doppelhaushalt im September jetzt eingebracht wurde, hieß es schon, der ist eigentlich nur noch Makulatur, der ist nicht mal das Papier wert, auf dem er geschrieben ist, weil so viel umgeschrieben werden muss. Was zum Beispiel?

    Milbradt: Nun, es wird nicht so viel umgeschrieben, sondern wir werden den ganz normalen Haushalt weiter dem Parlament vorlegen und beraten lassen, und wir werden ein extra Kapitel in diesem Haushalt haben, in dem die Flutfolgen geregelt sind. Und wir gehen zunächst einmal davon aus, dass Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen sind; das heißt, dass das, was wir durch die Verschiebung der Steuersenkung anteilmäßig in Sachsen bekommen, ausreichen wird, die Schäden zu beseitigen. Das werden wir erst wissen im nächsten Jahr und im übernächsten Jahr, wahrscheinlich im Jahr 2004, ob diese Annahme richtig ist. Und erst dann können wir darüber entscheiden, wie es weiterzugehen hat.

    Gerlach: Aber dennoch sind Sie im Moment schon auf der Suche nach neuen Einnahmequellen. Wenn man die Zeitungen dieser Tage studiert, sprechen Sie sich auch für einige Steuererhöhungen aus.

    Milbradt: Nein, ich bin grundsätzlich gegen Steuererhöhungen. Bei der Konjunkturlage, die wir haben, sind Steuererhöhungen Gift. Das Wirtschaftswachstum ist niedrig. Es würde dadurch sicherlich nicht höher, und ein Teil unserer Probleme resultiert darin, dass wir ein zu geringes Wachstum haben, dass aus dem Grunde die Einkommensteuer nicht richtig läuft, dass wir im Bereich der Sozialversicherungssysteme Defizite haben, weil zu wenig Beschäftigung da ist und zu wenig Beitragszahler, die infolge dessen in die Kassen hineinzahlen. Ich bin sowieso der Meinung, dass Haushaltsprobleme in erster Linie auf der Ausgabenseite zu lösen sind. Der Bürger kann nicht ständig mehr belastet werden. Und wir Politiker müssen lernen, so wie auch jede normale Hausfrau, jede normale Familie, dass man die Ausgaben an die Einnahmen anpasst und nicht umgekehrt.

    Gerlach: Dennoch finde ich Ihre Antwort jetzt etwas verwirrend, denn wenn man zum Beispiel die Bildzeitung studiert dieser Tage, dann stand dort zu lesen, dass Sie weder einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer noch einer Anhebung der Erbschaftssteuer ablehnend gegenüber stehen.

    Milbradt: Diese Meldung ist falsch. Ich habe in mehreren Interviews immer wieder gesagt, dass ich die Einführung der Vermögenssteuer für völlig falsch halte, weil in einer Situation, wo ich eine Einkommensteuer habe und eine Erbschaftssteuer, es keiner Vermögenssteuer mehr bedarf, denn wenn die beiden anderen Steuern richtig justiert sind, dann ist damit natürlich indirekt auch eine Besteuerung des Vermögens mit enthalten. Zum anderen bietet die Besteuerung des Vermögens große technische Schwierigkeiten, denn Sie müssen ständig das Vermögen bewerten. Und wir haben hinzu noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus den 90er Jahren, was eine vernünftige Erhebung der Vermögenssteuer sehr erschwert. Und aus dem Grunde sind sowohl politische, wirtschaftliche als auch technische Gründe gegeben, um diese Steuer nun nicht wieder anzufassen.

    Gerlach: Nun wird ja häufiger auch argumentiert, die Wiedereinführung dieser Steuer würde im Osten ohnehin kaum jemanden tangieren, und auch die Erbschaftssteuer sein kein Problem für die neuen Länder. Sehen Sie das auch so?

    Milbradt: Das ist richtig, aber auch falsch. Es gibt natürlich eine indirekte Rückwirkung, wenn eine solche Steuer mit großem Aufkommen in Westdeutschland existieren würde, würden wir über den Währungsausgleich natürlich partizipieren. Es kommt bei unserer Beurteilung also nicht nur darauf an, ob wir genügend Millionäre haben, sondern ob es gesamtdeutsch genügend Millionäre gibt. Aber trotz dieser Zusammenhänge, die auch Mehreinnahmen in Sachsen bedeuten würden, finde ich, dass wir diese Diskussion nicht führen sollten. Ich bin froh gewesen damals, dass wir wenigstens eine Steuer abgeschafft haben. Alle Welt redet von Vereinfachung, und ich glaube, das muss nach wie vor unser Ziel sein. Und ständig reden wir, wenn wir Probleme haben, über neue Steuern und Steuererhöhungen. Ich glaube, das ist falsch, und wir sollten uns auch ein Vorbild an anderen europäischen Ländern, anderen Industrieländern nehmen, die nicht über Steuererhöhungen ihre Probleme lösen, sondern über Steuersenkungen.

    Gerlach: Nun ist ja im Moment auch die Rede davon in Berlin, in den Koalitionsverhandlungen, dass das Ehegattensplitting abgeschafft werden soll. Wie ist das zu bewerten aus Ihrer Sicht?

    Milbradt: Das Ehegattensplitting ist die Konsequenz dessen, dass nach unseren Gesetzen das Einkommen, das in einer Familie erzielt wird, beiden Ehegatten zusteht. Es wird also nichts anderes getan, als dass man das Einkommen auf beide gleichmäßig verteilt und dann besteuert. Ich finde, dies ist eine richtige Regelung und sie sollte nicht abgeschafft werden. Ich habe auch den Eindruck, dass jegliche Veränderung des Ehegattensplittings verfassungsrechtlich problematisch wäre. Ich gehe auch davon aus, dass eine solche Regelung, eine solche Änderung das geltenden Einkommensteuergesetzes keine Mehrheit im Bundesrat finden wird.

    Gerlach: Wenn es denn trotzdem dazu käme, wäre das ja auch indirekt eine Steuererhöhung, oder?

    Milbradt: Natürlich ist das auch eine Steuererhöhung, aber da sollte man nicht so genau hingucken, denn es gibt natürlich auch im Bereich der Steuergesetze Tatbestände, die Subventionen darstellen, und über die kann man durchaus reden. Aber in diesem Fall 'Ehegattensplitting' ist das für mich keine Subvention, sondern eine gerechte Steuerbelastung von Familien.

    Gerlach: Steuersubventionen, das haben nun gerade mehrere Wirtschaftsforscher in dieser Woche auch gesagt, müssen dringend durchforstet werden, auch abgebaut werden. Heilige Kühe müssten geschlachtet werden, hieß es da unter anderem aus Halle vom Wirtschaftsforschungsinstitut. Da wäre die Frage natürlich an Sie: Wo sehen Sie Spielraum, dass man hier in den neuen Ländern und vor allem auch in Sachsen Subventionen streichen kann?

    Milbradt: Also ich sehe einen Punkt, der meines Erachtens auf jeden Fall nachbesserungsbedürftig ist. Das ist im Bereich der Körperschaftssteuer. Wir haben es zugelassen durch die letzte Körperschaftssteuerreform, dass Steuern, die die Unternehmen in den 90er Jahren gezahlt haben, jetzt zurückerstattet werden, so dass wir jetzt bei der Körperschaftssteuer die kuriose Situation haben, dass die Einnahmen negativ sind, dass der Staat also mehr zurückzahlt als er einnimmt. Das ist ein unhaltbarer Zustand, der müsste schnellstens korrigiert werden, indem man entweder die Ausschüttung alter Gewinne begrenzt oder zumindest eine Mindeststeuer einführt. Das ist ein Punkt, über den man reden kann, der aber nicht als Steuererhöhung zu sehen ist, sondern als eine Gleichbehandlung von großen Kapitalgesellschaften mit anderen Steuerpflichtigen in diesem Land.

    Gerlach: Kapitalgesellschaften, wenn die sich momentan von Unternehmensanteilen trennen, müssen die ja auch nicht damit rechnen, dass die besteuert werden. Ist das auch zu korrigieren? Meinen Sie, muss das sein?

    Milbradt: Das ist ein anderer Punkt. Natürlich ist es für alle Unternehmen vorteilhaft, wenn sie bei Veräußerungen von Unternehmensteilen oder Unternehmensanteilen keine Steuern zu bezahlen haben. Das Problem besteht hier darin, dass im Bereich der Körperschaften wir eine Steuerfreiheit und im Bereich des Mittelstandes, also der Personengesellschaften und der Einzelpersonen, eine volle Besteuerung. Man muss hier eine Gleichbehandlung finden, und die kann meines Erachtens nicht darin liegen, alle steuerfrei zu lassen, sondern für diese Fälle einen abgesenkten Steuersatz zu finden, so wie wir es im Ausland ja auch haben.

    Gerlach: Wie bewerten Sie denn die Chancen, dass das von der neuen Bundesregierung jetzt in Angriff genommen wird?

    Milbradt: Ich habe große Sorgen, dass die Bundesregierung sich nicht auf das konzentriert, auf das sie sich konzentrieren müsste, nämlich Maßnahmen zu ergreifen, dass die Wirtschaft wieder angekurbelt wird und dass sie auf die Art und Weise wieder Steuereinnahmen bekommt und Beitragseinnahmen für die Sozialversicherung, sondern dass man wieder nur über Ausgaben redet und die Finanzierung der Ausgaben. Ich halte das für falsch. Im Augenblick müssen wir erst einmal sehn, dass die Wirtschaft wieder in Ordnung kommt, und alles andere muss dann später kommen.

    Gerlach: Was wäre denn schlimmer, neue Steuererhöhungen, um mehr Geld zu bekommen, oder eine höhere Neuverschuldung?

    Milbradt: Beides ist schlimm. Eine höhere Neuverschuldung können wir uns nicht leisten. Wir sind schon jetzt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern an der Spitze der Netto-Neuverschuldung. Wir haben auch die Vorgaben des Maastrichter Vertrages und des Stabilitätspaktes, der ja unter deutschem Einfluss zustande gekommen ist, zu beachten, nämlich drei Prozent Bruttosozialprodukt als Grenze für die Nettoneuverschuldung pro Jahr. Wir liegen auf jeden Fall im Augenblick schon drüber, und wir würden noch weiter drüber liegen, wenn wir jetzt also Ausgabenprogramme über Schulden finanzieren würden. Deswegen ist das, glaube ich, im Augenblick keine Lösung. Ganz im Gegenteil. Die Europäische Kommission und auch die internationalen Organisationen, auch die Forschungsinstitute sagen, wir müssen die Nettoneuverschuldung auf Sicht zurückführen. Wir haben zunächst versprochen, im Jahre 2004 gibt es einen ausgeglichenen Haushalt, jetzt im Jahr 2006. Dieses Ziel ist mit Sicherheit nicht dadurch zu erreichen, dass wir im Jahre 2003 erst mal noch einen kräftigen Schluck aus der Verschuldungspulle nehmen. Bezogen auf die Steuern ist die Argumentation ähnlich. Wenn wir Steuern erhöhen, haben wir eine starke Belastung der Wirtschaft, der Verbraucher, und das führt dazu, dass die wirtschaftliche Aktivität verringert wird. Wir brauchen genau das Gegenteil. Wir müssen sehen, dass die Verbraucher Geld ausgeben können, dass Unternehmen investieren können, und müssen unsere Maßnahmen danach richten, wie wir das in Gang kriegen.

    Gerlach: Aber wenn ich dann so sehe, dass die Pläne der Koalition im Moment dahin gehen, dass die sogenannten Besserverdienenden, die aber nicht so genannt werden im Moment, dann mehr mit Steuern zur Kasse gebeten werden sollen, dann wäre das ja kontraproduktiv.

    Milbradt: Natürlich. Ich glaube auch, dass wir Wirtschaftspolitik und Steuerpolitik nicht unter dem Leitaspekt führen sollten.

    Gerlach: Wenn Sie sagen, wir dürfen uns weder neu verschulden oder noch mehr neu verschulden, noch können wir die Steuern anheben, sind wir natürlich wieder beim Sparen. Kommen wir nochmal zurück auf die Subventionen. Die Körperschaftssteuer haben Sie schon genannt; das wäre eine Art der Bezuschussung oder Rückvergütung, die man nicht aufrechterhalten dürfte. Wo kann man denn noch sparen? Sehen Sie zum Beispiel Möglichkeiten im Agrarbereich?

    Milbradt: Im Agrarbereich haben wir ja Gott sei Dank die Situation, dass die Subventionen im wesentlich aus Brüssel kommen, insoweit ein Sparen unseren nationalen Haushalt nicht verbessern würde. Aber trotzdem, auch darüber muss man zu gegebener Zeit reden. Ich glaube nicht, dass die Agrarpolitik im Augenblick im Vordergrund steht. Wir leisten uns nach wie vor den Luxus der Steinkohlesubvention, ohne dass abzusehen ist, dass sich das irgendwann mal auf Null hinbewegt, obwohl es für die Subvention überhaupt keine wirtschafts- oder strukturpolitischen Gründe mehr gibt. Das sind Punkte, über die man reden muss. Es gibt eine ganze Reihe auch von steuerlichen Vergünstigungen. Wir fördern den Schiffsbau, aber nicht den Schiffsbau im wesentlichen in Deutschland, sondern in Korea. Wir fördern Filme, aber nicht die in Deutschland im wesentlichen, sondern die in Hollywood – weil unsere Steuergesetze das zulassen, zum Beispiel durch Verlustzuweisungen aus Filmgesellschaften und ähnliches. Das heißt also, wir haben eine Reihe von Subventionen, die ihren eigentlichen Zweck gar nicht erfüllen oder wo man politisch den Zweck nicht mehr rechtfertigen kann.

    Gerlach: Schauen wir noch mal nach Sachsen. Sie haben eben schon gesagt, Wirtschaftswachstum ist nicht groß genug. Die Menschen gehen weg aus Sachsen. Ich habe die Zahlen nochmal nachgesehen: Also, in 2001 sind 23.764 Menschen aus Sachsen weggegangen, meistens junge, arbeitsfähige Menschen, die also woanders jetzt Lohn und Brot suchen oder schon bekommen haben. Was kann man denn tun, um diesen Trend zu stoppen?

    Milbradt: Die 23.000, die Sie eben genannt haben, ist ein Saldo aus Abwanderung und Zuwanderungen. Dahinter verbergen sich natürlich größere Bewegungen der Abwanderung, aber auch Zuwanderung. Und wir müssen eben sehen, dass wir diesen Saldo verändern, verbessern in Richtung Null und möglichst auch einen positiven Saldo bekommen auf Dauer, denn aufgrund des Geburtenrückganges haben wir ja auch einen deutlichen Bevölkerungsrückgang, der insbesondere nach den Jahren 2007/2008 auch zu einem Rückgang an Arbeitskräften führt. Aus diesem Grunde muss Sachsen attraktiv sein, attraktiv für diejenigen, die im Lande schon wohnen, damit sie ihre Einkommens- und Lebenschancen hier suchen, als auch für andere, die zu uns kommen wollen und die uns bei der Entwicklung und beim Aufbau des Landes helfen können.

    Gerlach: Nun haben wir ja nicht genug Jobs, und Berlin wird jetzt versuchen, dieses Hartz-Konzept 1 : 1 umzusetzen, so wie der Bundeskanzler das vor der Wahl schon angekündigt hat. Was versprechen Sie sich davon? Wo kann das Hartz-Papier tatsächlich Jobs schaffen?

    Milbradt: Ja, im wesentlichen geht es ja um bessere Vermittlung oder eben Möglichkeiten von Teilzeitbeschäftigungen oder von Zeitbeschäftigungen. Die eigentlichen Probleme des Arbeitsmarktes sind ja von der Hartz-Kommission nicht angegangen worden, nämlich die strukturellen Verwerfungen im Wirtschafts- und Sozialbereich. Auch hier sagen uns alle internationalen Organisationen und auch die Wirtschaftsforschungsinstitute, dass wir Anpassungsbedarf haben. Und bevor wir hier nicht bereit sind, etwas zu tun, werden wir das Thema allein durch eine Verbesserung der Bundesanstalt für Arbeit, durch Jobagenturen und ähnliches nicht lösen können. Das kann eine Erleichterung geben, selbstverständlich, und man muss zum Beispiel darüber nachdenken, wie das Hartz auch getan hat, wie man zum Beispiel die Vermittlung verbessert. Man muss darüber nachdenken, ob es Möglichkeiten gibt, durch Zeitverträge zusätzliche Arbeit zu bekommen oder ganz einfache Dinge zu regeln, wie man die EDV-Ausstattung und die Erfassung von Daten verbessert. Das sind alles Dinge, über die man reden kann. Sie sind allerdings keine Lösung des eigentlichen Problems.

    Gerlach: Aber wenn es so ist, dass Sie sagen, dass die grundlegenden Probleme gar nicht angepackt werden, ist es dann nur Kosmetik?

    Milbradt: Ich glaube, dass es Kosmetik ist. Wir haben ja feststellen müssen, dass die Bundesregierung 1998 vor den Wahlen, also als sie noch nicht im Amt war, große Reformen angekündigt hat und gesagt hat, es war ein Reformstau, den werden wir beheben. Aber dann hat sich herausgestellt, dass die Regierung diese Reform gar nicht durchführen kann, weil sie in einem Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten, insbesondere zu den Gewerkschaften, gefangen ist. Und es war ihr in den letzten vier Jahren nicht möglich, die entscheidenden Schritte zu tun. Ich habe Zweifel, ob es ihr jetzt gelingen wird, nach der Wahl dieses jetzt nachzuholen. Wir werden ja sehen. Das Regierungsprogramm liegt ja noch nicht auf dem Tisch; in vier Wochen weiß man mehr.

    Gerlach: Aber dieses Netz von Verpflichtungen, das würde sich ja jeder Regierung stellen. Also haben wir es hier vielleicht mit einem grundsätzlichen Problem einer – ja, wie soll ich sagen – Reformfähigkeit zu tun?

    Milbradt: Deutschland ist, wie mein Vorgänger das mal formuliert hat, durch ein Gebirge von Besitzständen durchzogen. Und das bedeutet, dass jede Regierung Schwierigkeiten haben wird, das zu überwinden. Nur, wir müssen es mal anfangen, denn wenn wir es nicht schaffen, dann werden wir unsere wirtschaftspolitischen Aufgaben und unsere gesellschaftlichen Aufgaben nicht lösen können.

    Gerlach: Schauen wir noch mal auf die nächsten Wahlen in Sachsen. Also, die Ergebnisse des Bundestagswahlkampfes und der Bundestagswahl am 22. September sind ja auch für Sachsen jetzt ausgewertet, und nach dem ersten Jubel ist Ernüchterung eingetreten bei der CDU, weil es ja doch nicht ganz so toll ausgefallen ist, wie man zunächst gedacht hatte, oder?

    Milbradt: Wir haben ein achtbares Ergebnis erzielt. Wir haben zwei Wahlkreise hinzugewonnen, rechnerisch: Von 17 hätten ja bei dem jetzigen Wahlkreiszuschnitt 1998 nur elf uns gehört, jetzt haben wir 13. Das ist ein Vorteil. Wir haben auch Anteile an Stimmen hinzugewonnen, knapp ein Prozent. Das entspricht in etwa dem, was die CDU bundesweit und im Osten hinzugewonnen hat, aber es ist natürlich nicht das, was wir erwartet haben.

    Gerlach: In einigen Städten haben Sie ganz schön Federn lassen müssen.

    Milbradt: Ja, dafür haben wir auf dem Lande auch deutliche Zuwächse gehabt. Aber im Schnitt waren es dann eben nur rund ein Prozent. Und das war weniger, als wir erwartet haben. Wir dachten, es würde uns gelingen, bei der Bundestagswahl einen Teil der Verluste, die wir 1998 erlitten haben, wieder zu kompensieren, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass es ja der CDU nicht nur in Sachsen, sondern zum Beispiel auch in Sachsen-Anhalt vor einigen Monaten, gelingt, wesentlich bessere Ergebnisse zu bekommen. Aber das ist leider nicht eingetreten. Unsere Hoffnung . . .

    Gerlach: Woran hat das gelegen?

    Milbradt: Ja, wir hatten ja, wenn man den Umfrageergebnissen glauben kann, bis Ende Juli eine gute positive Stimmung im Lande. Sowohl gesamtdeutsch als auch in Ostdeutschland waren die Zustimmungswerte für die CDU größer als sie dann tatsächlich waren. Ich glaube, dass unser Thema, mit dem wir gesamtdeutsch und im Osten angetreten sind, nämlich Wirtschaft und Arbeit, in den letzten Wochen vor der Wahl in den Hintergrund getreten ist, zunächst durch die Diskussion um die Flut und die Flutfolgen, und dann in der Spätphase des Wahlkampfes durch die Irak-Frage. Dass der eigentliche Punkt unserer Wahl, nämlich: 'Wie geht es mit Wirtschaft und Arbeit weiter?', 'Wie kommen wir zu Reformen?' kaum noch eine Rolle gespielt hat bei der tatsächlichen Wahlentscheidung. Und das war natürlich ein Handicap für die CDU, sowohl . . .

    Gerlach: . . . war es das?

    Milbradt: Ein bisschen schon. Also, wir hatten gerade in Sachsen uns sehr auf dieses Thema vorbereitet, wir wollten ja auch einen Parteitag zu diesem Thema noch extra abhalten, der ist dann auch buchstäblich ins Wasser gefallen. Aber es ist nun einmal so in der Politik: Es geht nicht darum, was wäre, wenn – zu einem anderen Zeitpunkt, sondern es ist am 22. September gewählt worden, und am 22. September haben wir zwar die meisten Stimmen in Sachsen bekommen, aber nicht so viel, wie wir gehofft haben.

    Gerlach: Nun hat sich ja im Zuge der Auswertung dieser Wahlergebnisse auch eine Menge Kritik gegen Sie gerichtet. Was ziehen Sie da für Konsequenzen draus, und was werden Sie jetzt tun? Sie sind ja auch Chef hier der Partei. Also, wie werden Sie jetzt die Weichen stellen?

    Milbradt: Also, ich habe Kritik an meiner Person kaum gehört. Ich habe sehr intensiv mich in den Tagen der Flut um die Bevölkerung gekümmert. Ich glaube, dass das sicherlich parteipolitisch kein Fehler war. Ich habe dann umfangreich Termine in den Wahlkreisen übernommen, ich habe versucht, unsere Interessen in Berlin zu vertreten. Ich glaube also, dass ich meinen Job gemacht habe. Wenn man die sächsischen Ergebnisse vergleicht mit den anderen in Ostdeutschland, dann sieht man ja, dass wir so schlecht nicht waren. Wenn man sich vorstellt, dass in Thüringen, einem vergleichbaren Land, die SPD 39 Prozent und die CDU nur 29 bekommen hat, dann kann es nicht an der schlechten Landespartei gelegen haben. Ich glaube, dass das schlechte Wahlergebnis, so wie wir es ja in ganz Ostdeutschland haben und in Norddeutschland, mit Ausnahme eben von bestimmten Teilen und natürlich auch mit Ausnahme von Süddeutschland, dass das an der Großwetterlage lag und dass es uns eben nicht gelungen ist - und das muss ich mir nicht alleine zurechnen, sondern das müssen wir uns alle für den Bundestagswahlkampf zurechnen -, nicht gelungen ist aufgrund der Umstände, unser eigentliches Thema zum wahlentscheidenden Thema zu machen.

    Gerlach: Sie haben eben selber gesagt, vor allem auf dem Land hat die CDU zugelegt. Muss sie jetzt Angst haben, dass sie eine reine Landpartei wird in Sachsen? Milbradt: Nicht nur in Sachsen, sondern allgemein. Wir haben ja die Situation, dass die Stimmenzuwächse der CDU in den Landkreisen deutlicher waren – und nicht nur in Sachsen, sondern woanders auch –, und dass wir in den großen Städten kaum Zuwächse hatten, teilweise Verluste. Und daraus kann man schließen, dass wir besondere Anstrengungen machen müssen, um in den großen Städten weiter präsent zu sein, um auch dort wählbar zu sein. Das hängt auch dann damit zusammen, welche Themen interessieren Menschen, Wähler in Großstädten mehr als Wähler in ländlichen Bereichen. Und diesen Fragen müssen wir uns natürlich stärker zuwenden. Insoweit ist diese unterschiedliche Stimmabgabe in Stadt und Land für uns schon ein Problem, das nicht nur für Sachsen gilt, sondern das ganz allgemein gilt. Und ich habe aus Äußerungen unserer Parteivorsitzenden Frau Merkel gehört, dass sie das genau so sieht.

    Gerlach: Vielen Dank für dieses Gespräch.