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Militär war "Teil des alten Regimes"

Eine der großen Schwächen nach der Absetzung von Mubarak war es, dass das ägyptische Militär eingegriffen hat, sagt die Islamwissenschaftlerin Ivesa Lübben. Auch dort schon habe das Militär seine Macht vor allem dazu genutzt, die eigene Position zu festigen.

Ivesa Lübben im Gespräch mit Thielko Grieß | 06.07.2013
    Thielko Grieß: Ivesa Lübben ist Islamwissenschaftlerin, hat aber auch lange Jahre in Kairo selbst gelebt, journalistisch dort gearbeitet, und wissenschaftlich hat sie geforscht über islamistische Parteien, nicht nur in Ägypten. Heute arbeitet sie an der Universität Marburg und ist jetzt live am Telefon. Guten Morgen!

    Ivesa Lübben: Ja, guten Morgen!

    Grieß: Frau Lübben, Revolution Teil zwei, ein Putsch, ein sanfter Putsch, ein Umsturz, eine Machtenthebung – das ist nur eine kleine Auswahl von sehr vielen Begriffen, die im Umlauf sind, um das zu beschreiben, was in Ägypten vor sich geht. Dass wir all diese verschiedenen Begriffe haben, zeugt ja auch von ein wenig Unsicherheit, auch unter uns Journalisten. Welchen Begriff nutzen Sie?

    Lübben: Ich bin natürlich ein bisschen vorsichtig, aber ich würde schon sagen, dass es ein Putsch ist. Ich weiß, dass viele meiner ägyptischen Freunde sich gegen diesen Begriff wehren, weil sie meinen, sie hätten eine zweite Revolution gemacht und die Armee hätte auf ihrer Seite eingegriffen – aber wir hatten dieses Szenario schon einmal: Wir hatten das Szenario bei der ersten Revolution. Und eine der großen Schwächen des Übergangs war gerade die Situation, dass sozusagen das Militär eingegriffen hat, die Weichen gestellt hat für einen Übergangsprozess. Und ich glaube, eine der vielen Schwächen... Ich glaube nicht, dass Mursi nicht auch sehr viele Fehler gemacht hat, er hat Fehler gemacht, aber eine der großen Schwächen des Übergangsprozesses war, dass letztendlich das Militär die Kraft war, die sozusagen diesen Übergang gemanagt hat, um sich selber Privilegien zu bewahren. Und ich glaube, dass das Militär in dieser Situation jetzt diese Rolle wieder spielt.

    Grieß: Sie haben gesagt, das ist eine der Schwächen dieses Übergangs, dass das Militär in Ägypten eine solch starke Rolle spielt. Ist denn so ein Übergang in Ägypten, in einem Land, in dem das Militär seit Jahren, seit Jahrzehnten eine so starke Rolle spielt, ohne dieses Militär eigentlich denkbar?

    Lübben: Ich meine, man muss überlegen, dass das Militär ein Teil war des alten Regimes, dass es Strukturen gibt, die sich festgefahren haben, seit das Militär 1952 geputscht hat und dann ein Regime aufgebaut hat mit sozialistischen, mit nationalistischen Zügen, in sehr enger Anlehnung an die osteuropäischen Systeme. Und trotz dieser Öffnung zum Westen unter Sadat und dann noch mehr unter Mubarak ist diese Struktur hinter den Kulissen gewahrt geblieben. Also sie ist sozusagen von den westlichen Verbündeten mit übernommen worden. Das Militär hat in dieser Zeit einen riesigen Wirtschaftssektor aufgebaut. Es hat Privilegien, fast alle Gouverneure waren unter Mubarak aus dem Militär. Die Militärs haben selbst, wenn sie in Pension gegangen sind, wichtige Posten übernommen. Sie sind durch niemanden kontrolliert worden. Der Militäretat ist nicht kontrolliert worden. Das, was in ihren Betrieben passiert ist, ist von niemandem wirklich kontrolliert worden – das Militär versucht, diese Macht auszubauen. Unter Mubarak ist es zum Widerspruch gekommen zwischen einer neuen Businesselite, die sich vor allen Dingen aufs Innenministerium gestützt hat, das Innenministerium aufgebaut hat auf Kosten des Militärs. Und das Militär hat die Revolution dazu benutzt, seine Position zu verstärken.

    Grieß: Ein Gegenspieler oder zumindest Faktoren aus der Gesellschaft, die eine andere Art des Übergangs ermöglichen könnten, wäre ja die Zivilgesellschaft. So würden wir aus dem Westen herangehen und ein solches Land betrachten. Was denken Sie, was sagen Sie über die Stärke oder die Schwäche der Zivilgesellschaft in Ägypten?

    Lübben: Na ja, das Problem in Ägypten ist, dass diese Zivilgesellschaft mit Ausnahme der Muslimbrüder – und ich würde sagen, dass es durchaus auch eine religiöse Zivilgesellschaft gibt – sehr zersplittert war und sehr schwach war. Aber wenn man sich das andere Beispiel anguckt: Tunesien ist es ja gelungen, also trotz ähnlicher Differenzen, ist es aber trotzdem gelungen, dass diese zivilgesellschaftlichen Kräfte, eben weil kein Militär war, weil keine andere Kraft war, die also irgendwas in die Hand hätte nehmen müssen, auf sich selber gestellt war und gesehen hat: Also wir können nicht weiter, ohne nicht irgendwie ständig wieder Differenzen im Dialog zu lösen. Und das war in Ägypten nicht. In Ägypten haben wir einen Übergangsprozess gehabt, wo abwechselnd jede Kraft sozusagen versucht hat, sich irgendwo gut zu stellen mit dem Militär: Eine Zeit lang waren das die Muslimbrüder und jetzt ist es wieder sozusagen die sogenannte zivilgesellschaftliche oder, sagen wir mal, die säkulare Opposition.

    Grieß: Wenn Sie sagen, dass die Zivilgesellschaft schwach ist und sich vor allem auf die Großstädte beschränkt, dann müsste das ja bedeuten, dass das Militär im weiteren Verlauf dieses Übergangs, den wir jetzt beobachten in Ägypten, weiter eine starke Rolle spielen wird, eine Art Normalisierung, die man sich vielleicht erhofft, eine Illusion ist?

    Lübben: Also ich glaube, es ist eine Illusion, weil wir haben zwar sehr starke Demonstrationen gehabt gegen das Mursi-Regime. Wir haben aber auch in den letzten beiden Tagen eine sehr starke Mobilisierung gehabt, nicht nur der Muslimbrüder, sondern auch anderer islamischer Kräfte gegen diesen Militärputsch. Wir haben vor allen Dingen Mobilisierungen gesehen auf dem Sinai. Wir haben Mobilisierungen gesehen in Marsa Matruh, das ist eine Stadt im Nordwesten, in der Nähe der libyschen Grenze – also gerade in den Gebieten, wo es sowieso schon unruhig war, die aber strategisch wichtig sind für das Militär. Also das Militär, glaube ich, wird auch jetzt erst mal abwarten und gucken, wie stark der Widerstand ist, um genau zu wissen, wie es damit umgeht. Wir haben gesehen in den ersten Monaten nach der Revolution von 2011, in der das Militär ja die Zügel in der Macht hatte, dass das Militär auch nicht wirklich in der Lage war, das Land zu regieren. Und ich meine, eines der großen Probleme, die Mursi mit übernommen hat, war die Wirtschaftskrise in der Zeit der Militärregierung. In der ersten Militärregierung hat die Regierung etwa zwei Drittel der Devisenreserven aufgebraucht, um die Forderungen der Leute nach höheren Löhnen und Besserstellung zu befriedigen. Also Mursi hat nur noch wenige Devisenreserven übernommen. Und eines der großen Wirtschaftsprobleme ist auch auf diese Phase zurückzuführen. Das Militär hat gezeigt, dass es auch nicht in der Lage ist, das Land besser zu regieren. Also ich glaube, die einzige Voraussetzung, um das Land wieder zu stabilisieren, ist ein Kompromiss und ist ein Dialog von allen gesellschaftlichen Kräften. Anders wird man keine Investoren ins Land kriegen, anders wird man aber auch den Leuten nicht klarmachen können, wo sie vielleicht auch in den nächsten Jahren Opfer bringen müssen, damit es irgendwann mal besser geht. So wird man auch keine Finanzinstitutionen überzeugen können, dem Land Kredite zu geben. Also das Land braucht Stabilität.

    Grieß: Frau Lübben, Sie haben die Präsidentschaft von Präsident Mursi angesprochen, die Zeit der Regentschaft der Muslimbrüder, die ja doch einige Monate nun an der Macht waren. Was hat das bewirkt in der Organisation der Muslimbrüder? Wie gefestigt ist diese Organisation?

    Lübben: Also ich glaube, die Organisation ist sehr gefestigt. Sie ist 1928 gegründet, sie ist eine sehr alte Organisation, sie hat Zeiten des Untergrunds durchgemacht, sie hat Zeiten der Halblegalität gemacht, es gibt eine sehr starke Corporate Identity. Es hat allerdings auch immer wieder Abspaltungen gegeben. Aber ich glaube, dass also diese Zeit, dieses Gefühl, jetzt das erste demokratische Experiment in Ägypten, was, wie auch die Muslimbrüder sagen, sicherlich nicht perfekt war, sondern erst in den Kinderschuhen steckte, kaputtgemacht worden. Die Muslimbrüder werden, glaube ich, das Gefühl haben, sie sind hier wieder zum Opfer gemacht worden der Gegenrevolution. Und ich glaube, dass das das Zusammengehörigkeitsgefühl eher stärken wird.

    Grieß: Was die Demonstrationen gestern belegt haben.

    Lübben: Ja.

    Grieß: Ivesa Lübben von der Universität Marburg, heute Morgen hier im Interview zur Situation in Ägypten. Haben Sie herzlichen Dank!

    Lübben: Ja, bitte!

    Grieß: Auf Wiederhören!

    Lübben: Tschüss!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.