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Ministerpräsidentenwahl in Thüringen
Bewährungsprobe für Rot-Rot-Grün

Amtsinhaberin Christine Lieberknecht tritt nicht mehr zur Wahl an, der rot-rot-grüne Koalitionsvertrag steht. Dennoch ist es nicht vollkommen sicher, ob Bodo Ramelow in Thüringen der erste linke Ministerpräsident wird. Alles hängt an einer einzelnen Stimme.

Von Henry Bernhard | 04.12.2014
    Bodo Ramelow reckt die Faust als Zeichen des Sieges nach oben
    Bodo Ramelow kann morgen zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt werden. (dpa / Martin Schutt)
    Susanne Hennig-Welsow: "Ja, ich begrüße sie alle sehr herzlich in dem grünen Bundesland – heute muss man ja sagen, rot-rot-grünen Bundesland Thüringen."
    Bodo Ramelow: "Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir ein rot-rot-grünes Reformbündnis anstreben."
    Stefan Sandmann: "All denjenigen, die Ramelow wählen, sei gesagt, dass dann Blut an ihren Händen klebt! Das ist eine riesengroße Schande!"
    "Schande! Schande! Schande! Schande!"
    Dieter Lauinger: "Aber, es wird weder ein roter Stern über der Staatskanzlei aufgehen, noch wird der Kommunismus hier ausbrechen. Dafür werden unter anderem die Grünen auch sorgen."
    Mario Voigt: "Die SPD geht ein großes Risiko ein in einem unsicheren Dreierbündnis. Das versteht in diesem Land niemand."
    Bodo Ramelow: "Wahrscheinlich habe ich die Mauer gebaut. Möglicherweise esse ich mit Hammer und Sichel Abendessen."
    Christine Lieberknecht: "Das ist alles Unsinn!"
    Auch wenn Wolf Biermann im Bundestag zum Gedenken an den Mauerfall vor 25 Jahren gegen die Linken anspielte – in Thüringen wollen Linke, Sozialdemokraten und Grüne die nächsten fünf Jahre regieren. Ministerpräsident soll morgen Bodo Ramelow werden, der 58-jährige Gewerkschaftler aus Hessen, der schon seit 1990 in Thüringen lebt. Ein Linker als Regierungschef, das wäre ein Novum in Deutschland, eine Zäsur; manche sagen, eine Provokation, ein Tabubruch. 25 Jahre nach der friedlichen Revolution, nach dem Sturz der SED, soll deren Rechtsnachfolger in die Erfurter Staatskanzlei einziehen. Schon seit dem Wahlkampf im Sommer wird in Thüringen und noch viel mehr im politischen Berlin darüber diskutiert, ob das sein darf. In der CDU, die bislang die Ministerpräsidentin stellte, ist man sich einig: Das geht nicht! Allen voran der Fraktionsvorsitzende Mike Mohring:
    "Ist doch ganz klar: Wenn da eine Regierung zustande kommt, die den Rückwärtsgang für die Entwicklung dieses Landes angeht, dann müssen wir unser Wort machen! Und das erwarten auch unsere Wähler von uns, dass wir diese Regierung stellen, wenn sie Geld verbrennt, weil sie die Ideologie in den Vordergrund stellen! Diese Debatte muss man führen!"
    Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) und Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) stehen am 17.10.2014 zu Beginn der letzten vorgesehenen Sondierungsrunde zwischen beiden Parteien in Erfurt (Thüringen) nebeneinander.
    Christine Lieberknecht (CDU) und Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) führten noch Sondierungsgespräche, doch die Sozialdemokraten entschieden sich schließlich für ein Bündnis mit der Linken und den Grünen. (dpa / picture-alliance / Michael Reichel)
    Die SPD hatte genug von Demütigungen durch die Christdemokraten
    In den vergangenen fünf Jahren wurde Thüringen von einer CDU/SPD-Regierung geführt. Durchaus erfolgreich. Die CDU hätte die Große Koalition gern fortgesetzt, aber die SPD hatte genug von den Demütigungen durch die Christdemokraten. Ihre Zukunft sehen die Sozialdemokraten nun als Juniorpartner in einer rot-rot-grünen Koalition. Die Parteispitze hat die neue Richtung in Thüringen vorgegeben, die die Basis mit deutlicher Mehrheit absegnete. Einige Sozialdemokraten und Grüne haben Bauchschmerzen bei dem Gedanken, mit der SED-Nachfolgepartei zu koalieren, aber sie stellen nur eine kleine Minderheit. Der ambitionierte Koalitionsvertrag der drei Parteien soll Thüringen demokratischer, sozialer und ökologischer machen. Der neue SPD-Vorsitzende Andreas Bausewein:
    "Ich glaube, dass es eine Richtungsentscheidung war, dass man gesagt hat: So, wir werden jetzt dieses Bündnis mit Linken und Grünen eingehen! Das ist nicht eine Entscheidung für die nächsten 20 Jahre und auch nicht eine vorweggenommene Entscheidung für die Landtagswahl 2019, aber jedenfalls eine für jetzt! Und ich denke, wenn es doch scheitern sollte – was wir alle nicht glauben –, dass es dann sinnvoll ist, den Wähler neu entscheiden zu lassen. Aber nur dann.
    Doch obwohl sich Linke, Sozialdemokraten und Grüne weitgehend einig sind: Draußen auf der Straße formiert sich der Protest – auch heute, am Vorabend der Ministerpräsidenten-Wahl. Zuletzt versammelten sich am 9. November etwa 4000 Bürger auf dem Erfurter Domplatz, sie hielten Kerzen in der Hand – wie vor 25 Jahren. Damals galt der Bürgerprotest der SED, heute einem Linken als Regierungschef. Als Redner traten auf: zwei Sozialdemokraten, ein Veteran vom Neuen Forum und der Organisator der Demonstration, Clarsen Ratz von der CDU:
    "Meine Damen und Herren, niemand hat die SPD und die Grünen in die Arme der Linkspartei getrieben. Sozialdemokraten und vor allem die Bündnis90/Die Grünen müssen sich fragen: Sind sie mit ihrer Historie mit sich selbst, wenn sie diesen Schritt vollziehen, im Reinen? All jene müssen sich durch diese Grünen und mit diesem Schritt ein Stückweit in ihrer Seele verraten fühlen."
    "Thüringen geht K. o. unter Ramelow!
    Thüringen geht K. o. unter Ramelow!
    Bodo raus!
    Bodo raus!
    Bodo raus!
    Rot-Rot raus!
    Rot-Rot raus!
    Rot-Rot raus!
    Ramelow raus!"
    Die Szenerie war bizarr: Vor den Rednern stand die CDU-Landtagsabgeordnete Marion Walsmann und lächelte in die Kameras, in den Händen hielt sie eine Deutschlandfahne mit dem Aufdruck "Schwerter zu Pflugscharen". Walsmann nahm Bodo Ramelow in Erfurt das Direktmandat ab; vor allem aber saß sie als junge Frau für die DDR-CDU in der Volkskammer. Eine sogenannte Blockflöte also. Der Redner, ebenfalls CDU, appellierte an das Gewissen derer, die die Revolution 1989 getragen haben. Ganz hinten pöbelte eine Gruppe Nazis, ein paar Meter deren Gegendemonstranten. Und ganz am Rand entzündeten zwei Abgeordnete der AfD Fackeln – an einem 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht. Eine merkwürdige Mischung – zudem waren sich die Demonstrierenden nicht so sicher, ob sie jetzt "Rot-Rot raus!" oder "Ramelow raus!" rufen sollen.
    "Auf diesen Demonstrationen sind dann Sprechchöre skandiert worden 'Bodo, geh heim!' An einem Tag, wo ich zuhause saß unter Polizeischutz", sagt kopfschüttelnd der designierte Ministerpräsident der Linken, Bodo Ramelow. Er vermisst "die politisch Zuständigen, die notwendig wären, um vielleicht auch mal ein bisschen beschwichtigend in die Öffentlichkeit zu kommunizieren, dass bestimmte Formen nicht mehr gehen".
    Beschimpfungen, Drohungen und zerstochene Reifen
    "Also, wir haben zerstochene Reifen, wir haben gelockerte Radmuttern im Wahlkampf schon gehabt, zerkratzte Autos", berichtet Susanne Hennig-Welsow, die Parteichefin der Thüringer Linken. "Das zieht sich jetzt weiter mit Beschimpfungen, mit Drohbriefen, die aussehen wie Steckbriefe. Das endet auch in Drohanrufen für Familienmitglieder, die mit dem politischen Geschehen eigentlich gar nichts zu tun haben."
    "Begrifflichkeiten wie 'Judenfotze', 'linke Drecksau'",ergänzt die Landtagsabgeordnete Katharina König. "Und ich weiß, dass viele von uns momentan viele E-Mails bekommen, die mehr oder weniger Bedrohungscharakter haben und klar und offen benennen, was sie am liebsten mit uns machen würden: Vergasen."
    Die Beschimpfungen, Beleidigungen und Bedrohungen treffen vor allem Linke und Sozialdemokraten, weniger die Grünen. Manche kommen anonym, manche mit Unterschrift – manche schallen auch durchs Megafon auf dem Domplatz und stammen aus den eigenen Reihen. Von Stefan Sandmann beispielsweise. Der Sozialdemokrat will sein Parteibuch abgeben, falls Ramelow gewählt wird: "All denjenigen, die Ramelow wählen, sei gesagt, dass dann Blut an ihren Händen klebt! Das ist eine riesengroße Schande!"
    "'Wer Ramelow wählt, hat Blut an den Händen!' Also, wenn ich so eine Aussage höre, da muss man doch sagen: 'Leute, bleibt doch mal bitte in der Mitte vom Fenster'." Matthias Hey ist seit Kurzem Fraktionsvorsitzender der SPD im Thüringer Landtag. Ein schwieriger Job:
    "Mich macht so etwas sehr betroffen, weil ich mich dann frage: In welchem Land leben wir eigentlich, wo Menschen für ihre politische Auffassung Angst haben müssen, irgendwann ins Auto zu steigen und den Zündschlüssel umzudrehen. Also, das kann ja gar nicht wahr sein."
    Die Genossen in Thüringen sind – was verständlich ist – dünnhäutig geworden, wenn es um Drohungen geht. Doch auch die substanzielle Kritik von allerhöchster politischer Stelle hat sie getroffen: Es war Bundespräsident Joachim Gauck, der Anfang November in einem ARD-Interview, eine Regierung unter Führung der Linkspartei infrage stellte:
    "Ist die Partei, die da den Ministerpräsident stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können? Und es gibt Teile in dieser Partei, wo ich Probleme habe, dieses Vertrauen zu entwickeln!"
    Matthias Hey (l-r, SPD), Bodo Ramelow (Die Linke) und Dieter Lauinger (Bündnis 90/Die Grünen) unterzeichnen am 04.12.2014 in Erfurt (Thüringen) den Koalitionsvertrag.
    Matthias Hey (l-r, SPD), Bodo Ramelow (Die Linke) und Dieter Lauinger (Bündnis 90/Die Grünen) beim Unterzeichnen des Koalitionsvertrags. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Koalitionsvertrag: DDR war "Unrechtsstaat"
    In der Thüringer SPD war man nicht erfreut, dass das Staatsoberhaupt seine Zweifel an Rot-Rot-Grün ausgerechnet während des Mitgliederentscheids der SPD laut aussprach. Der Parteivorsitzende Andreas Bausewein:
    "Jeder Mann kann seine Meinung haben – das trifft auch auf Bundespräsidenten zu. Aber der Zeitpunkt, der hat mich etwas irritiert. Wenn dann 36 Stunden vor Schulung der Wahllokale so eine Aussage kommt, dann ist das ein bisschen überraschend gewesen für mich."
    Gaucks Zweifeln war die Debatte über den "Unrechtsstaat" DDR vorangegangen. SPD und Grüne hatten den Thüringer Linken eine gemeinsame Erklärung abgenötigt, nach der die DDR – Zitat – "ein Unrechtsstaat" war. Diese Erklärung ist in den Koalitionsvertrag eingeflossen, dahinter wollten SPD und Grüne nicht mehr zurück. Die Thüringer Linken stehen zu dem Papier, winden sich aber beim Begriff Unrechtsstaat noch immer. Etwa die Landtagsabgeordnete Ina Leukefeldt, eine ehemalige SED-Funktionärin und Informantin der Stasi:
    "Ich kann akzeptieren, dass Menschen, die da gelitten haben und auch möglicherweise jüngere Menschen, die das heute aus der Geschichte her beurteilen und bewerten, zu dieser Erkenntnis kommen. Ich für mich kann diesen Kampfbegriff, dieses moralische Werturteil, nicht annehmen."
    Anders ihr designierter Ministerpräsident. Bodo Ramelow hat zwischenzeitlich viele Gespräche geführt. Gespräche mit Stasi-Opfern, mit Bundes- und Landesbeauftragten – und macht deren Argumente zu seinen. Er studierte Stasi-Akten und verspricht, die Diskussion mit Tätern und Opfern weiter zu führen:
    "Und da kann sich niemand aus der Verantwortung rausnehmen und sagen: 'Na ja, es waren ja Einzelne, die haben Unrecht erlebt!' Nein, da war die Systematik des Unrechts als Druck-und Drohkulisse, damit die Kommando-Denkstruktur immer wieder auf denselben Punkt führt. Und das ist das, womit wir als Partei immer wieder umgehen müssen. Wir müssen darüber die Diskussion auch bei uns führen und können nicht einfach darüber hinweghuschen oder glauben, der Mantel der Geschichte geht drüber."
    Bodo Ramelow will also in seiner Partei die Debatte über die DDR, über die Rolle der SED und die daraus folgende Verantwortung für die Linkspartei nicht abbrechen lassen. Weshalb der Erfurter Politikwissenschaftler Alexander Thumfart in Rot-Rot-Grün die große Chance sieht. Die Chance für die Linke, für den Osten, für die demokratische Kultur in Deutschland überhaupt:
    "Man sollte nämlich nicht vergessen, dass über die Linke sehr viele Leute in das politische System integriert wurden der Bundesrepublik Deutschland. Und diese Integrationsleistung der Linken wird jetzt fortgesetzt, ich finde durchaus konsequent mit dem nächsten Schritt, nämlich einen linken Ministerpräsidenten zu wählen. Es könnte doch eigentlich nichts Besseres passieren für die Stärkung der Demokratie, dass die demokratieskeptischen Kräfte die Demokratie unterstützen."
    Alexander Thumfart hat mit Rot-Rot-Grün bereits gute Erfahrungen gemacht. Er ist Fraktionsvorsitzender der Grünen im Erfurter Stadtrat. Dort kooperieren SPD, Linke und Grüne seit acht Jahren erfolgreich – unter einem SPD-Oberbürgermeister. Der heißt Andreas Bausewein und ist seit wenigen Wochen Parteichef der Thüringer Sozialdemokraten. Ein Hoffnungsträger, der kein Regierungsamt will, seine Genossen aber auf Rot-Rot-Grün eingeschworen hat:
    "Meiner Ansicht nach funktioniert das schon. Ich meine, wir sind ja auch bei Wahlen in der Konstellation bestätigt worden. Das ist ja auch immer ein ganz gutes Zeichen. Und wenn sie sich mal die ganzen Indikatoren angucken in Erfurt: Wir bauen Schulden nach wie vor ab, die Stadt wächst, deswegen entstehen mehr Arbeitsplätze, also die Rahmenbedingungen stimmen auch, und deswegen ist das ein gutes Beispiel. Allerdings ist im Land es insofern anders, als dort die Linken die Großen sind. In Erfurt ist die SPD die stärkste Partei. Und das rot-rot-grüne Modell, das in Thüringen regieren wird, das ist schon ein Modell, ein Experiment."
    Neuwahlen will niemand
    Nach dem 12 Prozent-Desaster bei der Landtagswahl im September sprach Bausewein aus, was viele Sozialdemokraten denken: Mit so einem Ergebnis gehöre die SPD zur inneren Reinigung und Selbstfindung eigentlich auf die Oppositionsbank. Aber das komplizierte Thüringer Wahlergebnis ließ das nicht zu: CDU und Linke sind aus der Wahl zwar als die stärksten Parteien hervorgegangen– zur Regierungsbildung aber brauchten beide die SPD. Und Neuwahlen wollte niemand. Der SPD-Landeschef sah seine Partei in der Pflicht und sondierte ausführlich – mit beiden Lagern. Bausewein agierte geschickt. Sowohl die Linke als auch die CDU waren zu weitreichenden Kompromissen bereit. Die CDU wäre beispielsweise bereit gewesen, in eine kleine Gebietsreform einzuwilligen. Und die Linke verzichtet darauf, den Verfassungsschutz abschaffen zu wollen. Um die Signalwirkung für die Bundespolitik weiß der Thüringer SPD-Chef natürlich:
    "Liebe Genossen, ich will es noch einmal betonen: Der SPD wird es aus meiner Sicht nur gelingen, Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen, wenn sie sich zugunsten einer Regierungsbeteiligung links der Mitte entscheidet und damit auch eine klare Polarisierung im Parteiensystem vorantreibt."
    Im Koalitionsvertrag haben sich Linke, SPD und Grüne recht reibungsarm gefunden: 80 Prozent der politischen Ziele, so hieß es immer wieder, seien ohnehin identisch. Die neue Regierung will die Thüringer Verwaltung reformieren, Landkreise zusammenlegen und notleidende Kommunen mit einem wahren Millionensegen beglücken, jährlich 500 ausscheidende Lehrer ersetzen und Sozialarbeiter einstellen, das erste Kindergartenjahr kostenlos anbieten, die Landwirtschaft ökologisch gestalten und die erneuerbaren Energien ausbauen.
    Auf der Agenda stehen also viele teure Ankündigungen, deren Finanzierung im Vagen bleiben: Rot-Rot-Grün hofft auf Steuerüberschüsse, auf Geld vom Bund für Dauerarbeitslose, auf die Vermögenssteuer, die Thüringen über den Bundesrat wieder einzuführen gedenkt. Von Einsparungen ist – außer beim Landeserziehungsgeld – nicht die Rede. Schon gar nicht von Schuldentilgung. Die Selbstverpflichtung im Koalitionsvertrag, keine neuen Schulden aufnehmen zu wollen, wird sicherlich einige der groß angekündigten Projekte ausbremsen. Aber zunächst einmal muss Bodo Ramelow als Ministerpräsident gewählt sein. SPD-Fraktionschef Matthias Hey ist optimistisch:
    "Also, es gibt keinen Zweifel – ich kann ja für meine Fraktion sprechen –, dass es da in irgendeiner Form nicht zu 100 Prozent kommen würde bei einer Stimmabgabe, die für einen Ministerpräsidenten-Kandidaten Bodo Ramelow ist. Alles andere wäre ja wohl auch irrwitzig!"
    Und die Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Welsow rechnet vor: "Wir haben eine Mehrheit – Rot-Rot-Grün –, wir haben einen Ministerpräsident-Kandidaten und wir haben einen Koalitionsvertrag. Die CDU hat keine Mehrheit, keine Kandidatin oder Kandidaten und keinen Koalitionsvertrag – also 3:0 für Rot-Rot-Grün!"
    Scheinbar gelassen gehen die 28 Abgeordneten der Linken, die 12 der SPD und die sechs der Grünen morgen Vormittag in die Ministerpräsidenten-Wahl an. Mitgliederentscheide und Parteitage zum Koalitionsvertrag haben sie mit einem eindeutigen Wahl-Auftrag versehen. Das Damoklesschwert einer Neuwahl, die für SPD und Grüne wohl desaströs ausfallen würde, schwebt über ihnen. Jede Stimme im Erfurter Landtag zählt, nicht ein Abgeordneter darf ausscheren. 46 Mandatsträger von Rot-Rot-Grün sitzen 45 von CDU und AfD gegenüber. 46 Stimmen benötigt der Kandidat Bodo Ramelow, um zum ersten linken Ministerpräsidenten gewählt zu werden.
    Der bisherige Fraktionsvorsitzende der CDU im Thüringer Landtag, Mike Mohring, sitzt am 24.09.2014 in Erfurt (Thüringen) im Fraktionssaal.
    Mike Mohring, Fraktionschef der Thüringer CDU, könnte im dritten Wahlgang gegen Ramelow antreten. (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    CDU-Kandidat im dritten Wahlgang?
    "Die Frage, die beantwortet werden muss von unserer Seite – und ich glaube, die werden wir gut beantworten –, im ersten Wahlgang 46 Stimmen selber zu haben. Das ist die Ein-Stimmen-Mehrheit, das ist die absolute Mehrheit, und dann ist die ganze Debatte beendet."
    Die Frage, was passiert, wenn Ramelow weder im ersten noch in zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht, ist noch ungeklärt. In der Thüringer Landesverfassung ist zu lesen, dass im dritten Wahlgang derjenige zum Ministerpräsidenten gewählt ist, "wer die meisten Stimmen erhält". Letzteres aber wird unterschiedlich interpretiert: Reicht eine einzige Stimme ODER braucht der Kandidat mehr JA- als NEIN-Stimmen. Diverse juristische Gutachten zirkulieren nun in Erfurt, die jeweils die politische Sichtweise ihrer Auftraggeber spiegeln. Inzwischen gibt es den Vorschlag, dass der Landtag gegebenenfalls vor einem dritten Wahlgang darüber entscheiden soll, wie die Landesverfassung zu interpretieren sei. Sollte jedoch, wie vergangene Woche verkündet, die CDU spätestens im dritten Wahlgang doch noch einen eigenen Kandidaten aufstellen, dann ist die Diskussion ohnehin obsolet. Dann gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen – ob nun Ramelow oder der noch nicht nominierte Kandidat der CDU. Die scheidende Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht jedenfalls wird nicht antreten: "Ich habe nicht die Absicht, noch einmal für das Amt der Ministerpräsidentin zu kandidieren – damit das auch klar ist."
    Bleibt als möglicher Kandidat für den dritten Wahlgang nur CDU-Fraktionschef Mike Mohring. Der müsste jedoch auf die Stimmen der rechtspopulistischen AfD und auf einen rot-rot-grünen Abweichler hoffen; nur dann könnte er Ramelow noch verhindern. Doch ob es die CDU-Landtagsfraktion im dritten Wahlgang wirklich wagen wird, mit einem eigenen Kandidaten anzutreten, ist offen. Zumal die Bundesvorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel und mit ihr der CDU-Bundesvorstand eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen hat. Generalsekretär Peter Tauber hat seine Thüringer Parteifreunde eindringlich davor gewarnt, dieses Tabu zu brechen – wenige Tage vor dem Bundesparteitag in Köln.
    Auch wenn der CDU nach 24-jähriger Regierungszeit der Abschied von der Macht in Thüringen schwerfällt, es sieht danach aus, dass Bodo Ramelow zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wird. Ob im ersten, zweiten oder dritten Wahlgang – das ist die spannende Frage. Mit der sich wohl auch Mike Mohring abfinden muss:
    "Falls die anderen Regierung bilden, sind wir offensichtlich Opposition. Weil zwei Regierungen schwerlich möglich sind."