Archiv


Missbrauch von Sozialleistungen

Durak: Der Wirtschaft geht es ein bisschen besser. Die Konjunkturprognosen versprechen gute Aussichten. Die Bundesregierung bemüht sich, ihre Reformprogramme umzusetzen, Mehrheiten dafür zu finden. Geht es den Beschäftigten besser? Wird es auf absehbare Zeit langfristig weniger Arbeitslose geben? - Nein, nicht wirklich, heißt es von verschiedenen Seiten. Im Gegenteil: das Reformtempo reiche nicht aus. Weltfremd seien teuere Beschäftigungsprogramme zum Abbau der Arbeitslosigkeit, so BDI-Chef Hans-Olaf Henkel. Sozialleistungen würden gekürzt, um Arbeitslosen Beine zu machen, klagen Sozialkritiker, und auch SPD-Linke haben mal kurz den Finger gehoben, zaghaft, aber irgendwie doch, und nun noch der Wirtschaftsweise Siebert aus Kiel. Das System der sozialen Sicherung hemme den Fortschritt in Deutschland. Seine konkreten Vorschläge sorgen erst einmal für heftige Proteste bei rot/grün. - Wir sprechen nun also mit Wilhelm Schmidt, dem parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. Schönen guten Morgen!

    Schmidt: Guten Morgen Frau Durak.

    Durak: Herr Schmidt, zum einzelnen: Arbeitslosengeld begrenzen, Arbeitslosenhilfe abschaffen, Sozialhilfe reformieren, was halten Sie davon?

    Schmidt: Ich halte viel davon, dass wir darüber sprechen, aber so pauschal und so grundsätzlich ist das natürlich dann immer sehr problematisch, und zwar deswegen, weil damit in der politischen Debatte gleich ein falscher Zungenschlag aufkommt, falscher Zungenschlag deswegen, weil ich finde, damit wird dann gleich immer so ein bisschen die Axt an die Wurzeln von Instrumenten gelegt, die im Sozialstaat ja auch immer für sozialen Frieden gesorgt haben. Wir haben ja auch in Deutschland als einen ganz wichtigen Standortfaktor - und das vergisst, glaube ich, Herr Siebert sehr deutlich - die Seite des sozialen Friedens gehabt. Wann haben wir bei uns Streiks? Wann haben wir bei uns große Auseinandersetzungen in der Gesellschaft? Das ist alles sehr befriedet. Ich finde, das ist sehr wichtig gewesen und das soll auch so bleiben.

    Durak: Sozialer Frieden um welchen Preis? Wir kennen auch das Wort von der Hängematte, in die sich manche unnötigerweise begeben?

    Schmidt: Das ist ja auch schon in Ansätzen von dieser Regierung mit aufgenommen worden. Wir haben beispielsweise bei dem Jugend-Sofortprogramm, bei dem wir ja eine ganze Reihe von Arbeitsplätzen, Ausbildungsplätzen, Qualifizierungsmaßnahmen geschaffen haben, auch mit Recht, wie ich finde, den Zwang drangehängt. Wenn sich jemand einer solchen Maßnahme verweigert, kriegt er zum Beispiel keine Leistungen mehr. Das ist glaube ich schon ganz wichtig, und auf diesem Wege wollen wir auch fortschreiten.

    Durak: Herr Schmidt, was ist denn so falsch daran, die Arbeitslosenhilfe zunächst einmal in der Zeit wieder auf das Maß zurückzuführen, bei dem es gewesen ist, ein Jahr beispielsweise?

    Schmidt: Ich will jetzt nicht sagen das ist falsch. Ich will aber auch nicht sagen das ist richtig. Wir sind dabei, auch über solche Dinge zu reden. Ich glaube schon, dass wir daran allerdings ein Gesamtpaket messen müssen. Es ist so, dass bei Arbeitslosenhilfe ja auch nicht so sehr viel Fortschritte in der Höhe gemacht worden sind im Gegensatz zum Lohn. Da hat sich in den letzten Jahren ja schrittweise etwas verbessert und die Anpassung ist bei der Arbeitslosenhilfe nicht fortgesetzt worden. Ich glaube schon, insofern haben wir auch ein wenig zum sogenannten Abstandsgebot beigetragen. Das sind Dinge, von denen ich glaube, dass sie fortgesetzt werden müssen. Vielleicht muss das eine oder andere auch nur mal deutlicher in der Öffentlichkeit vertreten werden. Und wir müssen - das ist nach meiner Einschätzung viel wichtiger - den Missbrauch in diesem Bereich sehr viel engagierter bekämpfen. Das heißt, wir müssen den Behörden der Arbeitsverwaltung, aber auch beim Missbrauch der Sozialhilfe den Behörden im kommunalen Bereich noch etwas mehr Möglichkeiten geben und etwas mehr Druck verpassen, damit sie sich wirklich dem Missbrauch entgegenstellen. Denn es gibt ja nicht selten den Fall, dass Arbeitslosenhilfebezieher oder auch Sozialhilfebezieher nebenbei mal ganz fröhlich Schwarzarbeit machen. Solche Dinge müssen meiner Meinung nach sehr viel intensiver bekämpft werden.

    Durak: Es werden also Detektive aus dem Arbeitsamt losgeschickt?

    Schmidt: Wie man das dann nennt, will ich jetzt mal offen lassen. Ich kenne jetzt schon die Schlagzeile, die aus einem solchen Wort von mir jetzt wieder entsteht. Ich finde aber schon, Missbrauch zu bekämpfen, das ist die Formel und an der möchte ich ganz gerne auch festhalten. Die wird bei uns auch sehr nachdrücklich verfolgt.

    Durak: Halten Sie denn die Anreize, die es derzeit gibt, sich um Beschäftigung zu bemühen, und sei es zunächst einmal nur um wieder einzusteigen in die Beschäftigung, für groß genug?

    Schmidt: Nein, das glaube ich wirklich nicht. Auf der einen Seite - das habe ich eben angedeutet - ist der Druck noch zu gering. Auf der anderen Seite glaube ich auch, müssen wir noch mehr dafür sorgen, dass es auch Flexibilität gibt. Arbeitslose, die auf diesem Sektor Arbeit angeboten bekommen, die nicht nur gerade vor der Haustür liegt und die vielleicht auch nicht dem bisher erlernten Beruf entspricht, das ist schon eine gängige Praxis, aber die kann auch noch mit etwas mehr Nachdruck verfolgt werden. Ich glaube tatsächlich, dass es sehr viel mehr ein Praxisproblem ist, als dass es jetzt die Frage ist, gesetzliche Regeln wieder zu verändern und zu verschärfen. Von daher bin ich sicher, dass wir dort auch den Weg finden. Das haben auch Behörden auf der kommunalen Ebene und die Arbeitsverwaltung, glaube ich, mittlerweile sehr schnell gelernt.

    Durak: Herr Schmidt, es gibt ja Kritik von allen möglichen Seiten. Wir haben ja dieser Tage von dem berühmten Lehrlingsbrief, sage ich mal, von jungen Abgeordneten der SPD gehört, der gestützt worden sein soll durch mehrere SPD-Bundestagsabgeordnete. Das wurde nachher ein bisschen zurückgezogen. Man liest jetzt sowohl von sogenannten rechten wie linken in Ihrer Partei, dass beide Seiten der festen Überzeugung sind, weder Fraktion noch Partei sollten hinter dem Kanzler verschwinden, so ein Schlagwort. Man wolle selbstbewusst auftreten, sich aber nicht nur öffentlich so heftig streiten. Das klingt nach Friedenspfeife, die dort irgendwie geraucht wird, aber erweckt auch den Eindruck, da wird ein bisschen vernebelt und zugedeckt, weil man ja gerne weiterregieren will. Wie ist denn das Verhältnis?

    Schmidt: Erst einmal regieren wir auf jeden Fall bis 2002. Das ist mal klar, und insofern ist es jetzt gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, ob wir nun weiterregieren oder nicht, sondern wir machen unsere Arbeit. Das zweite, was ich in diesem Zusammenhang sagen will: Kritik von allen Seiten? Ich finde, es ist noch nie eine Regierung mit so viel Lob und so viel Anerkennung geradezu überschüttet worden wie diese jetzt. Wir machen eine ganze Menge guter Arbeit, und da ist dann auch mal Kritik von der einen oder anderen Seite, wenn ich das mal relativieren darf, durchaus dort angebracht oder erlaubt, wo sich Spezialisten mit bestimmten Themen beschäftigen und der Auffassung sind, das Thema von ihnen geht nicht schnell genug über die Bühne oder nicht weit genug. So sehe ich die Situation. Da kann man auch mal diskutieren. Ich finde es allerdings außerordentlich misslich - das haben wir den entsprechenden Kolleginnen und Kollegen auch sehr nachdrücklich gesagt -, wenn Briefe an den Kanzler offen geschrieben werden, denn was soll der Unsinn. Die treffen den Kanzler jede Woche in der Fraktionssitzung. Da können sie ihm das auch persönlich sagen oder in der Fraktionssitzung meinetwegen auch für entsprechende Auseinandersetzungen sorgen. Das hat es in manchen Fällen gegeben. Offene Briefe von Regierungsfraktionsmitgliedern an einen Kanzler sind einfach vom Mittel her nicht angezeigt. Das zweite ist aber, dass wir natürlich gucken müssen, was steckt denn dahinter. Wenn man den Brief dann liest, dann ist der ja auf der einen Seite auch mit Anerkennung ausgestattet für den Teil, den die Regierung bei den Ausbildungsplätzen zu leisten hatte. Da haben wir nämlich eine Menge getan. Die Kritik an der Wirtschaft teile ich durchaus, und die teilt ja auch im Ansatz der Kanzler. Es ist nur die Frage, wie macht man so etwas, wie geht man vor. Genau dies ist jetzt die Art und Weise, wie das im Nachhinein auch von Beteiligten kommentiert wird. Das heißt, das ist kein Rückzugsgefecht, das ist auch keine Friedenspfeife, sondern das ist die Einsicht, wie ich glaube, dass der Weg, den sie in der vorigen Woche gewählt hatten, falsch war, dass sie aber an dem Thema dran bleiben müssen und wollen und, wie ich finde, auch sollen, um in der Sache bei der Wirtschaft für noch mehr Ausbildungsplätze zu sorgen. Das ist das Thema, das wir auch alle gemeinsam angehen müssen.

    Durak: Otmar Schreiner ist ja einer Ihrer Mitglieder, der vornehmlich zu den Linken zu zählen ist. Er hat sich auch in ähnlichem Sinne geäußert, dass Fraktion und Partei nicht hinter der Bundesregierung verschwinden sollten. Greifen wir das mal auf, Herr Schmidt, und Sie sind ja parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion. Fraktion, Partei, Bundesregierung, ist das ein Dreiklang ganz ohne Dissonanzen?

    Schmidt: Das ist ein Dreiklang ohne Dissonanzen. Das will ich hier sehr nachdrücklich bekräftigen, auch wenn man es, wie Sie es genannt haben, in dem Zusammenhang jetzt vielleicht nicht glauben mag. Das entscheidende ist aber: dies ist ein Dreiklang, der Diskussionen erforderlich macht, und die finden auch statt. Diskussionen müssen nicht immer als Dissonanz verstanden werden. Das ist auch das, was ich in diesem Zusammenhang empfinde. Otmar Schreiner hätte das vielleicht ein bisschen anders ausdrücken können oder ist vielleicht von dem einen oder anderen, der das, was er gesagt hat, aufgegriffen hat, auch überinterpretiert worden. Das entscheidende ist, dass wir auch finden - das hat ja der Fraktionsvorsitzende Peter Struck wie auch ich und mancher andere immer wieder betont -, wir wollen und wir dürfen als Fraktion gar nicht irgendwo ohne jedes Profil bleiben. Peter Struck hat das ja mal so ausgedrückt, dass wir nicht der Abnickverein der Regierung sein werden. Das waren wir in den vergangenen anderthalb Jahren nicht, und das werden wir auch in Zukunft nicht sein. Das heißt, wir haben unsere eigenen Initiativen, wir haben unsere Diskussionen über das, was von der Regierung in der Fraktion vorgelegt wird, da wo es hingehört, und wir werden deswegen auch unsere Arbeit in dieser Form weitermachen. Das hat dann nichts damit zu tun, dass wir das eine oder andere kritisch beleuchten.

    Durak: Wilhelm Schmidt, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion. - Herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Link: Interview als RealAudio