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Missbrauchsskandal in der EKD
Versuch einer Zwischenbilanz

Seit elf Jahren ist der Missbrauchsskandal auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland Thema. Experten, die sich seit Jahrzehnten mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Institutionen beschäftigen, äußern ihre ganz persönliche Sicht auf Erfahrungen mit der Institution Kirche.

Von Thomas Klatt | 03.11.2021
EKD-Schriftzug
EKD Schriftzug im Plenum der EKD-Synode (imago stock&people / epd)
Update im März 2022: Drei Fragen an Kirsten Fehrs
Mit Fällen sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche befasse sie sich schon seit den 1980er-Jahren, sagt die Kölner Traumatherapeutin Ursula Enders. Immer gebe es mehrere Dimensionen: "Dass im Falle sexualisierter Gewalt nicht nur die Betroffenen oft traumatisiert sind, sondern oft auch Institutionen. Dass auch sie erstarren, handlungsunfähig sind, sprachlos, Zweifel am Selbstwertgefühl haben, sich verschließen nach außen, Spaltungen wahrnehmen."
Zwei Pfarrer hatten sich in der Evangelischen Kirchengemeinde Ahrensburg nördlich von Hamburg von 1973 bis in die 1990er-Jahre an zahlreichen Jugendlichen vergangen, auch an den Stiefsöhnen. Für Ursula Enders war es nicht überraschend, dass ihr die Nordkirche nach Bekanntwerden des Missbrauchs den Auftrag gab, alles aufzuarbeiten. Für sie eine Routineaufgabe, dachte sie. Heraus kam 2014 der 500 Seiten starke Schlussbericht.

"Eine traumatisierte Kirche"?

Enders: "Und in diesem Kontext entstand bei mir eine erste Irritation, weil die Bischöfin dann auch von den Zeitungen zitiert wurde: ‚Auch wir sind traumatisiert.‘ Und das war natürlich nicht mein Ansatz, dass die Landeskirche traumatisiert war, die ja durchaus hätte handeln können. Traumatisiert war das Team der Kirchengemeinde. Aber nicht die aus der Distanz verantwortliche Landeskirche."
Am 8. Juni 2012 berichtet das Hamburger Abendblatt: "Eine traumatisierte Kirche versucht, zurück zur Normalität zu finden. Dieses Bild zeichnete die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs höchstselbst. ‚Ja, wir sind traumatisiert‘, sagte sie vor rund 90 Teilnehmern einer Fachtagung im Hotel Baseler Hof an der Esplanade." Weiter gestand Bischöfin Kirsten Fehrs, sich über die Berichterstattung zu den Ahrensburger Missbrauchsfallen manchmal geärgert zu haben. Der Missbrauchsbetroffene Anselm Kohn hingegen sagt: "Ohne Medien wären wir heute nicht so weit".
Anselm Kohn, Initiator und Mitbegründer des Opfervereins "Missbrauch in Ahrensburg" schaut am 01.03.2014 in Travemünde (Schleswig-Holstein) bei der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland in die Kamera des Fotografen. Bischöfin Fehrs berichtete während der Synode über "Missbrauch in der Institution Kirche". Foto: Axel Heimken/dpa ++
Anselm Kohn (picture alliance / dpa | Axel Heimken)
Kohn ist eines der in Ahrensburg missbrauchten Kinder. Er war Erster Vorsitzender des mittlerweile aufgelösten Vereins "Missbrauch in Ahrensburg". Solange er "nur" Opfer war, sei er in der Landeskirche wohl gelitten gewesen, erinnert er sich. Als er aber mit seiner Kritik wegen mangelhafter Aufarbeitung und Wiedergutmachung an die Presse ging, sei er von Bischöfin Fehrs und anderen Kirchenleitenden fallen gelassen worden, behauptet er.
Anselm Kohn: "Dass mein Auseinandersetzungsverfahren ins Stocken gekommen ist, dadurch dass ich meine freie Meinung geäußert haben soll. Ich bin ja zitiert worden. Daraufhin ist mir das Gespräch verweigert worden. Die Kirche scheint da sehr unversöhnlich zu sein. Das ist bitter, am langen Arm zu verrecken."
Traumaexpertin Ursula Enders hat unterschiedliche Erfahrungen mit der evangelischen Kirche gemacht. So hat sie im Schlussbericht der Nordkirche auch den Missbrauchsfall in einer evangelischen Kita aufgearbeitet. Sie habe dort viel Offenheit erlebt, sagt sie. Mit Bischöfin Kirsten Fehrs hingegen kippte das Verhältnis.
Enders: "Hatte sie zunächst gehofft, dass wir einen Bericht schreiben, der quasi der Kirche bescheinigt, dass sie traumatisiert worden sei und Opfer der Intrigen der Täter vor Ort, so entwickelte sich in unserer Untersuchung die Einschätzung, dass hier vor allen Dingen ein institutionelles Versagen vorlag, und zwar hinsichtlich der Strukturen, die Missbrauch begünstigt hatten, aber auch in der Aufarbeitung. Der Kirche war vor allen Dingen daran gelegen, den eigenen Ruf zu retten."

Ein Versöhnungsgottesdienst

Die Öffentlichkeit sollte, so Enders, eingelullt werden. So fand ein Versöhnungsgottesdienst statt, ohne dass es eine wirkliche Versöhnung mit allen Opfern gegeben habe. Bischöfin Kirsten Fehrs sei zwar versöhnlich auf die Betroffenen zugegangen. Dann aber: "Bischöfin Fehrs hat eine sehr sanfte Art, Menschen zu umgarnen. Und in dem Moment, wo sie Stellung beziehen und auch mal öffentlich Kritik an der Kirche üben, lässt sie sie fallen wie eine heiße Kartoffel." So hat es etwa Detlev Zander, Mitglied im zur Zeit ruhenden EKD-Betroffenenbeirat, erlebt, schildert er jetzt am Telefon.
"Also Frau Fehrs hat mir persönlich CDs geschenkt, weil ich damals erzählt habe in meiner Naivität: Ich hör so gerne klassische Musik, insbesondere Orgelmusik. Und heute würde ich das nie mehr machen und nie mehr annehmen. Weil man versucht hat, mich da irgendwie zu beruhigen, dass ich in den netten protestantischen Schoß falle. Wer hatte damals überhaupt eine Chance an einen Bischof oder eine Bischöfin heranzukommen? Du bist einerseits das Opfer, du gehst immer mit dem Gefühl hin: ,Die glauben Dir ja sowieso nicht.' Und dann hast Du plötzlich einen Termin gehabt. Und ich glaube, da fallen heute auch noch sehr sehr viele rein."
Auf Anfrage des Deutschlandfunks geht Bischöfin Fehrs auf die Kritik nicht ein. Aus dem Büro der Bischöfin kommt die schriftliche Mitteilung: "Bei ihrem Bericht zum Stand von Prävention und Aufarbeitung in der EKD, den Bischöfin Fehrs am 16. September 2021 vor der Landessynode der Nordkirche flankierend zum Bericht über den nordkirchlichen Stand der Präventionsarbeit gehalten hat, machte sie deutlich: Es bleibt ein fortlaufender Prozess, das Bewusstsein für grenzverletzendes Verhalten zu schärfen. Und es heißt: sich wirklich auf die Leidgeschichten von Betroffenen einzulassen und Anerkennungsleistungen zu suchen, mit denen wenigstens eine reelle Chance besteht, Leid zu lindern."
Die sogenannten Anerkennungsleistungen von in der Regel 5000 Euro pro Fall seien aber viel zu niedrig, kritisieren viele Betroffene bis heute. Nach den Erfahrungen der letzten elf Jahre Missbrauchsskandal in der evangelischen Kirche raten Betroffene mittlerweile davon ab, sich allein in Obhut einer Bischöfin oder der Institution Kirche zu begeben. So Kerstin Claus, Mitglied im Betroffenenrat beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs UBSKM.
Kerstin Claus: "Aus meiner momentanen Sicht versuche ich, Betroffenen weitgehend davon abzuraten, in den direkten Austausch mit Kirchen ungeschützt zu gehen, weil die Landeskirchen sehr unterschiedlich aufgestellt sind. Ich empfehle, wenn Menschen den Kontakt zur Kirche suchen, tatsächlich das über eine Fachberatungsstelle oder auch über eine geeignete Anwältin eine Aussage aufzunehmen und den indirekten Kontakt ohne Namensnennung, weil die Erfahrungen noch viel zu unterschiedlich sind."

Jörg Fegert: "Systemisches Problem"

Doch das Starren auf einzelne Personen wie Bischöfin Fehrs greife viel zu kurz, meint der Ulmer Psychotherapeut Jörg Fegert. Er leitete von 2010 bis 2012 die wissenschaftliche Begleitforschung der Anlaufstelle der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs: "Wir reden über ein systemisches Problem in einer Organisation, was bei der Jugendarbeit beginnt, was in den Chören ist, was in medizinischen Einrichtungen ist, die von der Diakonie betrieben werden, in Behinderteneinrichtungen usw. Und dann soll eine Jeanne d’Arc quasi die erhoffte Retterin sein, die in den Krieg zieht oder soll die Versagerin sein. Es ist die Institution, die versagt. Und es ist auch die Institution, die solche Personen prägt und limitiert. Und ich glaub schon, dass die Personen, die den Mut hatten, das anzufassen, und den Mut würde ich Frau Fehrs konzedieren, dass solche Personen auf so ein Thema festgelegt werden."
Die evangelische Kirche erkenne sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen aber bis heute nicht als systemisches Problem. Fegert: "Es ist schon so, dass der Fisch vom Kopf her stinkt. Ist das eine Sache der obersten Zuständigen? Haben sie sich dazu fortgebildet und haben sie Ressourcen dafür vorgesehen und gibt es strukturell Vorhaltungen an Personal, die nicht nur Alibi sind?"

"Erfassten Fälle sind nur die absolute Spitze des Eisberges"

Die Leitenden wollten sich nicht wirklich mit dem Thema auseinandersetzen. Das weist die evangelische Kirche aber entschieden zurück. Aus der EKD-Pressestelle heißt es wörtlich: "Die evangelische Kirche hat in den vergangenen Jahren große Ressourcen in die Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt investiert. Dazu gehören die Aufwendungen für Anerkennungs- und Unterstützungsleistungen sowie Leistungen im Rahmen des Fonds Sexueller Missbrauch und des Fonds Heimerziehung und der Stiftung Anerkennung und Hilfe. Dazu gehören aber auch die von der Synode der EKD mehrmals in Millionenhöhe bereitgestellten Gelder für die laufenden Maßnahmen, zum Beispiel die Aufarbeitungsstudie des Forschungsverbunds ForuM. Die Mitglieder des Beauftragtenrates verfügen über eine hohe fachliche Kompetenz."
Psychotherapeut Jörg Fegert bleibt bei seiner Kritik. Er habe die Dimension des Missbrauchs im Dunkelfeld längst vorgerechnet. "Der wahre Wert ist vielleicht niedriger, also 80.000 oder halt 200.000 Maximum. Aber dazwischen liegt es irgendwo. Das Problem ist: Die erfassten Fälle sind ja nur die absolute Spitze des Eisberges."

Großes Dunkelfeld sexualisierter Gewalt

Aus der EKD-Pressestelle heißt es: "Der EKD ist bewusst, dass es – wie von Herrn Prof. Fegert 2019 berichtet – in der Gesellschaft und auch in der evangelischen Kirche und der Diakonie ein großes Dunkelfeld sexualisierter Gewalt gibt. So braucht es dringend weitere Forschung mit deutlich größeren Stichproben, um das Dunkelfeld verlässlicher und besser zu verstehen. Da es auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ein sehr großes Dunkelfeld sexualisierter Gewalt gibt, hat die EKD den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) gebeten, eine solche Dunkelfeldstudie für mehrere Institutionen aufzusetzen."
Ursula Enders sitzt auf einem Stuhl. 
Ursula Enders (imago / Müller-Stauffenberg)
Bis dahin aber mag die EKD von hohen Opferzahlen im sechsstelligen Bereich offiziell nicht sprechen. Elf Jahre nach der ersten Missbrauchs-Debatte in der evangelischen Kirche bleibt auch die Kölner Traumaexpertin Ursula Enders bei ihrer Kritik, dass Kirchenleitende mit Betroffenen nicht sach- und fachgerecht umgehen. Das habe sich daran gezeigt, dass der Betroffenenbeirat nicht mehr weiterarbeiten konnte. Traumaexpertin Ursula Enders bezweifelt mittlerweile, dass Betroffene in der evangelischen Kirche überhaupt ernsthaft gehört werden. Elf Jahre nach Ahrensburg, würde sie heute wieder einen Schlussbericht schreiben und mit der evangelischen Kirche zusammenarbeiten wollen?

Nie ein Schlusspunkt in Sachen Missbrauch

Enders: "Ich war nach dieser Untersuchung selber krank, weil sie unendlich viel Kraft gekostet hat. Ich hab mir geschworen, das ist nicht das Ende der Auseinandersetzung mit der evangelischen Kirche. Meine Motivation, mich weiter damit zu beschäftigen, ist letztendlich, dass ich in den Spiegel gucken möchte."
Psychotherapeut Jörg Fegert weiß, dass es in Sachen Missbrauch nie einen Schlusspunkt wird geben können. Nur eben ein bestmögliches Bemühen, was er in der evangelischen Kirche bis heute vermisst. Fegert: "Es geht nur darum, dass wir schneller besser helfen und dass wir es den Tätern verdammt schwerer machen, diese Taten zu begehen, weil die Institutionen darauf eingestellt sind, das zu verhindern und niemand decken, auch nicht wenn das ein reicher Sponsor ist und auch nicht, wenn das ein angesehenes Gemeindemitglied ist oder wenn das bei einem Pfarrehepaar passiert, was sich Kinder irgendwoher adoptiert hat. Aus der Welt kriegen wir Missbrauch nicht. So naiv bin ich nicht. Da reichen zehn Jahre nicht, aber es weniger werden zu lassen, das sind die Herausforderungen."

Kirsten Fehrs: „Die Kirche ist in eine Art Schockstarre verfallen“

Im März 2022 beantwortete Kirsten Fehrs, Bischöfin der Nordkirche im Sprengel Hamburg und Lübeck sowie stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland EKD, dem Dlf drei Fragen : 
Christiane Florin: Frau Fehrs, Sie sagten auf der Tagung 2012: „Ja, wir sind traumatisiert“. Was ist mit dieser Traumatisierung gemeint?
Kirsten Fehrs: Die Fachtagung „Missbrauch in Institutionen“ war von der Nordkirche initiiert worden. Frau Enders war Gast auf dem Podium und hielt einen Vortrag zum Thema „Traumatisierte Institutionen“. Ich nahm diesen Begriff damals spontan auf, weil er gut beschreibt, wie eine Institution reagiert, wenn sexualisierte Gewalt entdeckt wird: Sie ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Und so war es ja damals: Die Kirche ist in eine Art Schockstarre verfallen, als ihr das eigene Versagen bewusst wurde. Meine Aussage ist also gerade eine Zustimmung zu dem damaligen Vortrag von Frau Enders, keine Relativierung des Leides von Betroffenen oder des kirchlichen Versagens. Man darf den Satz daher nicht aus dem Zusammenhang reißen.
Kirsten Fehrs, Bischöfin, spricht im Dezember 2021 in der Herz-Jesu-Kirche in Hamburg-Hamm während einer Aussendungsfeier.
Kirsten Fehrs seit dem 10. November 2021 stellv. Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (picture alliance/dpa - Georg Wendt)
Florin: Worin besteht das kirchliche Versagen?
Fehrs: Erst nach 2010 hat der mehrjährige Prozess begonnen, in dem die evangelische Kirche übergeordnet Konzepte für Prävention, Intervention und Aufarbeitung eingeführt hat. Bis dahin gab es zu wenig Bewusstsein über das Ausmaß und dafür, wie schwer und wie lange Betroffene an dem ihnen angetanen Unrecht tragen. Inzwischen gibt es geregelte Strukturen wie unabhängige Anlaufstellen für Betroffene, hauptamtliche Präventionsbeauftragte und Schutzkonzepte. Viele andere Institutionen - Schulen, Sportvereine, Jugendverbände - haben diesen Weg noch vor sich. Trotzdem ist es eine bleibende Last, dass wir nicht früher reagiert haben.
Wir haben auf diesem Weg auch erfahren, wie unterschiedlich das Erleben und die Bedürfnisse betroffener Menschen sind. Was der eine hilfreich findet, weckt in einer anderen Misstrauen oder retraumatisiert sie gar. Deswegen suchen wir in jedem Einzelfall nach dem passenden Weg der Aufarbeitung - und meistens gelingt das auch.
Florin: Ist es zutreffend, dass Sie Mitgliedern des EKD-Betroffenenbeirats Geschenke gemacht haben und wenn ja, wie bewerten Sie das im Rückblick?
Fehrs: Nein, das trifft so nicht zu. Der Besuch, von dem in Ihrem Beitrag die Rede ist, hat im Oktober 2018 stattgefunden und stand mit der Gründung des EKD-Betroffenenbeirates im Herbst 2020 in keinerlei Zusammenhang. Richtig ist, dass ich bei diesem Besuch spontan zwei oder drei CDs verschenkt habe, weil der Besucher sie sah und sein Interesse an dieser Musik geäußert hatte. Ich bin Seelsorgerin und habe aus einem spontanen Impuls heraus gehandelt - und so würde ich es jederzeit wieder tun.