Donnerstag, 28. März 2024

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Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche
„Ein Schuldeingeständnis der Kirche würde ich mir erhoffen“

Von der Bischofskonferenz in Rom zum Missbrauchsskandal erhofft sich der Theologe Wucherpfennig ein "weltweites Verantwortungsbewusstsein". Der Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen forderte, dass Opfer gehört und systemische Probleme der katholischen Kirche gelöst werden.

Ansgar Wucherpfennig im Gespräch mit Christine Heuer | 21.02.2019
    Ansgar Wucherpfennig, Rektor der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. Rom wolle Wucherpfennig wegen liberaler Äußerungen über Homosexualität und Frauen in der Kirche aus dem Amt drängen.
    Ansgar Wucherpfennig, Rektor der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main. (picture alliance/dpa/Foto: Frank Rumpenhorst)
    Christine Heuer: Die Missbrauchsskandale in der Katholischen Kirche erreichen den Vatikan. Der Papst hat die Vorsitzenden der weltweiten Bischofskonferenzen nach Rom gerufen. Dort sollen sie vier Tage lang über den Missbrauch, seine Ursachen und Konsequenzen beraten. Aus Deutschland reist Kardinal Reinhard Marx an. Kritische Theologen haben ihn in einem offenen Brief aufgefordert, beim Kongress für grundlegende Reformen zu kämpfen. Zu den Unterzeichnern gehört Ansgar Wucherpfennig, und diesen Namen kennen Sie so gut, weil er letztes Jahr selbst Ärger mit dem Vatikan hatte. Ansgar Wucherpfennig ist Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Für dieses Rektorat hatte die Glaubenskongregation ihm eigentlich die Genehmigung nicht weiter erteilen wollen – unter anderem, weil er sich für die Segnung homosexueller Paare ausspricht. Ansgar Wucherpfennig ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Pater Wucherpfennig.
    Ansgar Wucherpfennig: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Manche vergleichen den Missbrauchsskandal inzwischen ja mit der Reformation. So gravierend und existenziell bedrohlich sei er für die Katholische Kirche. Ist das so?
    Wucherpfennig: Das habe ich bei "Wir sind Kirche" gelesen. Das sei die wohl größte Glaubwürdigkeitskrise seit der Reformation. Und ich finde, da ist auch was dran.
    Heuer: Hat Papst Franziskus die Dimension des Problems erkannt?
    Wucherpfennig: Das kann ich nicht ganz einschätzen. Ich glaube auf jeden Fall, dass er sich betreffen lassen hat – das tut er als Seelsorger leicht -, und dass er reagiert hat, finde ich ein schönes Zeichen und auch eine gute Chance.
    Heuer: Bereut der Klerus glaubwürdig, was in den letzten Jahrzehnten in der Katholischen Kirche geschehen ist?
    Wucherpfennig: Der Klerus ist ja vielfältig. Ich glaube, dass es im Klerus, aber auch vor allem unter den Laien eine große Bereitschaft gibt, sich den Anforderungen zu stellen.
    "Das ist ein systemisches Problem"
    Heuer: Deutschland hat aufgeklärt mit einer Studie und hat sich auch selbstkritisch gegeben. Wir haben ja eingangs den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz gehört. Aber kein einziger deutscher Bischof hat über persönliche Konsequenzen nachgedacht, über Rücktritte oder Ähnliches. Wird da nach Ihrem Empfinden wirklich tief genug bedauert?
    Wucherpfennig: Das würde ich schon denken. Mein Eindruck ist: Sicherlich ist es notwendig, auch über persönliche Konsequenzen nachzudenken, nicht nur auf Ebene der Bischöfe, sondern auch, dass es Schuldbekenntnisse gibt von Verantwortlichen, die unterhalb der Ebene der Bischöfe sind. Das Problem ist aber nach meinem Eindruck tiefer liegend. Das ist nämlich tatsächlich ein systemisches Problem. Im Grunde genommen haben die zuständigen Domkapitulare, Personalreferenten und so weiter ja nur gehandelt, wie es in der Kirche üblich war, und das liegt am System.
    Heuer: Woran genau?
    Wucherpfennig: An unterschiedlichen Faktoren. Nach meinem Eindruck zunächst mal hauptsächlich daran, dass es in der Kirche keine unabhängige Verwaltungsinstanz gibt, die noch mal die Bischöfe und Priester oder Personalreferenten kontrolliert. Bischof Heiner Wilmer hat ja von einer Wahrheitskommission gesprochen. Das wäre so eine unabhängige Instanz.
    "Gewaltenteilung wäre eine der Minimalforderungen"
    Heuer: Da wären Sie dafür, dass so grundlegend aufgeräumt wird?
    Wucherpfennig: Gewaltenteilung und Verwaltungsgerichtsbarkeit wäre nach meinem Eindruck eine der Minimalforderungen, auf die sich auch leicht verständigen lässt als Konsequenz aus den Ergebnissen der Missbrauchsstudie.
    Heuer: Das mit der Gewaltenteilung haben wir auch alle gelesen in dem Brief, den Sie unter anderem an den Kardinal Marx geschrieben haben. Aber was heißt denn Gewaltenteilung ganz praktisch?
    Wucherpfennig: Gewaltenteilung hieße für mich tatsächlich zunächst mal, wie beispielsweise die US-Bischöfe vorgeschlagen hatten, dass es unabhängige Berater von den Bischöfen gibt, die die Fälle an die Staatsanwaltschaft weiterleiten.
    Heuer: Mehr Zusammenarbeit mit den staatlichen Ermittlern?
    Wucherpfennig: Zum Beispiel, ja. Dazu sind die Bischöfe auch bereit. Abgesehen davon ist ja weitgehend von allen eigentlich so auch zugestimmt worden.
    Heuer: Was ist denn mit den Strafen, Herr Wucherpfennig? Bisher wurden ja Geistliche, die des Missbrauchs "überführt" wurden, bestenfalls versetzt.
    Wucherpfennig: Die priesterlichen Aufgaben konnten sie nicht mehr wahrnehmen. Das ist seit den Änderungen des Kirchenrechts 2010 schon so eingeführt worden. Es gab höhere Strafen als nur Versetzungen.
    "Ein Schuldeingeständnis der Kirche würde ich mir erhoffen"
    Heuer: Wir haben ja auch jüngst den Fall erlebt, das ist dann schon spektakulär, dass der ehemalige Washingtoner Bischof, der Kardinal McCarrick, aus dem klerikalen Stand entlassen wurde. Das ist neu. Aber in der Breite wird genug geahndet, wenn Missbrauchsfälle aufgedeckt werden?
    Wucherpfennig: Da kann mehr geschehen, sollte auch mehr geschehen, wobei ich glaube wirklich, dass ein wichtiger Punkt ist, zunächst mal auf die Opfer zu hören und deren Perspektive zu Wort kommen zu lassen. Das wäre für die Kirche jetzt allemal angesagt und schon seit Jahren wäre das notwendig. Mein Punkt wäre nicht so sehr die Ahndung – das ist natürlich ein wichtiger Punkt -, sondern wirklich die systemischen Fragen in den Blick zu nehmen, die damit zusammenhängen. Sanktionen ist ein wichtiger Punkt, um zur Versöhnung weiterzukommen, und auch das Schuldeingeständnis der Kirche. Ein solches würde ich mir auch aus Rom erhoffen. Und damit auch ein weltweites Verantwortungsbewusstsein, das zu schaffen. Aber das Wichtigste, was ich mir von Rom erhoffen würde, wäre eigentlich die Freiheit zu regionalem und kulturgebundenem Handeln. Das heißt, der Papst hat ja von heilsamer Dezentralisierung gesprochen, und ich erwarte mir von dem Gipfel in Rom jetzt nicht, dass es eine Kopiervorlage gibt, die jetzt von allen Bischofskonferenzen übernommen werden kann, sondern dass sie die Wege freigeben für regionale Lösungen.
    Heuer: Dann würden Sie hoffen, Herr Wucherpfennig, dass die Deutschen mit gutem Beispiel vorangehen und das Problem ernsthaft angehen?
    Wucherpfennig: Da, finde ich, gibt es genügend Stimmen aus der Bischofskonferenz, aber auch von Theologinnen und Theologen, auch unseren offenen Brief. All das sind ja nur einzelne Steine, die ins Wasser geworfen sind, aber ich glaube, dass die zusammen eine Bugwelle erzeugen können.
    Heuer: Sie fordern – wir haben schon darüber gesprochen – Gewaltenteilung in der Kirche. Sie fordern in dem Brief aber auch, dass es weibliche Priester geben soll, dass das Zölibat zumindest aufgeweicht wird. Glauben Sie im Ernst, dass zu all dem die deutsche Kirche bereit ist?
    Wucherpfennig: Aufgeweicht finde ich ein bisschen unpraktikabel.
    Zölibat als freie Entscheidung
    Heuer: Ich hätte auch sagen können "abgeschafft", aber das gilt ja jetzt nicht für alle Priester.
    Wucherpfennig: Ja, genau. – Ich glaube wirklich, dass die Freiheit von Priestern oder auch Pfarrerinnen und Pfarrern, sich zu einer ehelosen Lebensweise zu entscheiden, sehr sinnvoll ist, aber in Freiheit. So würde ich das für klug halten, dass – so haben wir das formuliert – der Zölibat wieder ein Zeichen für den Himmel sein kann.
    Heuer: Das klingt alles gut, aber glauben Sie wirklich, dass die Führung der Katholischen Kirche auch nur in Deutschland da mitgeht? Das sind ja unerhörte Forderungen, die Sie da aufstellen für die Kirche.
    Wucherpfennig: Ich habe den Eindruck, mittlerweile gibt es fast jeden Tag, wenn Sie katholisch.de lesen, eine Äußerung von einem Bischof, der sich in ganz ähnlicher Weise äußert, wie wir in unserem offenen Brief. Wenn sich vier, fünf Bischöfe zusammentun, vielleicht auch noch mehr und zusammen unterstützt werden von theologischer Reflektion auch an den Hochschulen und von Laien, die auch noch mal dafür eintreten, ich glaube, dann lässt sich was in Bewegung setzen.
    Heuer: Sie sind sehr optimistisch!
    Wucherpfennig: Das bin ich, das stimmt.
    Heuer: Wie lange wird es denn dauern, bis sich da was bewegt? Bislang steht es ja geradezu für die Katholische Kirche, dass sich ganz lange gar nichts bewegt.
    Wucherpfennig: Ich glaube, erste Zeichen kann man wirklich in diesem Jahr erwarten. Wir haben ja geschrieben, schlagen Sie eine neue Seite auf, schreiben Sie 2019 drauf, und das war auch ernst gemeint. Ich glaube, dass die Katholische Kirche nicht so erlahmt ist, dass es nicht in diesem Jahr auch schon die ersten Anzeichen geben könnte für einen Reformwillen, und der braucht natürlich auch Gesten.
    "Frauen als Prediger offiziell zulassen"
    Heuer: Was wäre so eine Geste? Ganz konkret: Was wünschen Sie sich?
    Wucherpfennig: Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, was sowieso schon in den Pfarreien geschieht, Frauen das Predigen offiziell zuzulassen. Das wäre nun wirklich ein ganz kleiner Schritt, aber es wäre einer, der problemlos aus meiner Sicht theologisch möglich ist, auch dem Neuen Testament entspricht. Dort waren Frauen in der Verkündigung beteiligt. Das wäre eine Möglichkeit, Frauen in den Verkündigungsdienst hineinzunehmen. Das wäre jetzt gar keine Reaktion auf die Missbrauchsfrage. Aber ich glaube schon, wenn Frauen mehr und mehr integriert sind in Machtstrukturen der Kirche, dann werden sich auch die Machtstrukturen ändern.
    Heuer: Die Konservativen in Ihrer Kirche, die warnen ja davor, mit solchen modernen Forderungen, wie Sie sie aufstellen, da werde der Wesenskern der Kirche beschädigt. Die Kirche nähere sich damit zu sehr der modernen Welt an. Geben Modernisierer wie Sie vielleicht etwas preis, was dann nicht rückholbar wäre?
    Wucherpfennig: Das sehe ich nicht. Die eine heilige katholische und apostolische Kirche, die macht den Wesenskern aus, und ich wüsste nicht, was von unseren Forderungen diesen Wesenskern betreffen würde. Es würde ihn sogar eher lebendiger gestalten, weil es die Kirche in dieser Einheit und Vielfalt, in ihrer Apostolizität wieder erfahrbarer macht.
    Heuer: Sie glauben, das holt die Gläubigen zurück?
    Wucherpfennig: Ja! Wobei mein Blick ist da nicht so sehr auf die Kirchenaustrittszahlen, sondern wirklich, dass die Kirche dem Evangelium gemäß lebt. Das ist ein Diskurs, den müssen wir wieder neu anfangen, dabei aber auch Zeichen der Veränderung setzen.
    Heuer: Das heißt zum Beispiel bitte keine Kinder missbrauchen?
    Wucherpfennig: Das wäre eine Konsequenz, die würde weit davor liegen, zum Evangelium zurückzukommen, sondern das entspricht Menschenrechten und ist eines der grausamsten Verbrechen, das man sich vorstellen kann. Jeder, der einmal mit einem Opfer gesprochen hat, der wird sich davon überzeugt haben.
    "Das Misstrauen ist einfach sehr groß"
    Heuer: Ist die Katholische Kirche vor den Veränderungen, die Sie sich wünschen, jetzt ein gefährlicher Ort für Kinder und Jugendliche?
    Wucherpfennig: Vor der Frage habe ich auch selbst gestanden, oder stehe es immer noch, und das Misstrauen ist wirklich einfach sehr groß und hat mittlerweile auch vor den Türen der Kirche nicht mehr Halt gemacht. Das einzige was wir tun können ist, darauf zu hoffen, dass auch in unserer Kirche Jesus noch die Kinder ruft und sie segnet und dass wir als Kleriker diesen Ruf Jesu nicht verstellen oder zum Verstummen bringen.
    Heuer: Werden die Opfer genug gehört, jetzt bei der Konferenz in Rom?
    Wucherpfennig: Ich bin über die Details der Konferenz nicht informiert. Soweit ich weiß, sind einige Repräsentative eingeladen und Videoaufnahmen werden eingespielt. Es wäre natürlich wünschenswert, dass es noch mehr wäre, weil ich glaube wirklich, dass es bewusstseinsverändernd ist, mit Opfern zu sprechen und sie anzuhören und dann wirklich auch ernst zu nehmen in dem, was sie sagen.
    Heuer: Tut so eine Bewusstseinsveränderung denjenigen, die im Vatikan leben und herrschen, gut? Brauchen die das?
    Wucherpfennig: Das glaube ich auf jeden Fall. Der Papst hat sich ja selbst mit einem Missbrauchsopfer getroffen, und wie er darauf reagiert hat, fand ich sehr beeindruckend.
    "Ein Problem, das bis in den Vatikan hineingeht"
    Heuer: Der Papst – und was ist mit den anderen?
    Wucherpfennig: Bei denen wäre das, glaube ich, auch so. Aber Missbrauchsstrukturen gibt es ja bis hin in die Kongregationen und Mitarbeiterstäbe des Vatikans. Von daher ist das ein Problem, das auch bis in den Vatikan selbst hineingeht.
    Heuer: Ansgar Wucherpfennig, Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt, war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Pater Wucherpfennig.
    Wucherpfennig: Gern geschehen, Frau Heuer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.