Triggerwarnung:
Im folgenden Beitrag werden sexualisierte Gewalthandlungen und deren Folgen für die Betroffenen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können. Das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch bietet anonym und kostenfrei Hilfe und Beratung: 0800 22 55 530.
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"Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen". Dieses Schild hängt an vielen Verhandlungstagen vor Saal B 129 im Berliner Landgericht.
Vor allem dann, wenn die Betroffenen aussagen. Junge Männer, zwischen 16 und Mitte 20. Bei den ältesten liegen die Übergriffe mehr als zehn Jahre zurück.
"Das Besondere an diesem Verfahren ist, dass der Angeklagte laut Anklageschrift als Judotrainer der Geschädigten eine vaterähnliche Stellung für die Geschädigten eingenommen haben soll und diese Position ausgenutzt haben soll," so Lisa Jani, Pressesprecherin des Landgerichts Berlin.
Gemeinsame Übernachtungen nicht erlaubt
So sei es unter anderem in Turnhallen, auf Wettkampffahrten und bei Trainingslagern zu Übergriffen gekommen, etwa bei gemeinsamen Übernachtungen.
Laut Ehrenkodex des Deutschen Judobundes darf kein Trainer mit einem Athleten das Zimmer teilen. Der Angeklagte hat diese Vorgabe missachtet, auch auf einer Nationalen Meisterschaft. Davon hat während der Veranstaltung auch Bruno Tsafack erfahren, Juniorenbundestrainer des Deutschen Judobundes.
"Dann habe ich versucht zu erklären, dass es nicht geht. Aber weder Trainer noch Sportler wollten das akzeptieren, dass das nicht in Ordnung ist, mit dem Athleten in einem Zimmer zu übernachten."
Vermittlungsgespräch
Bereits vor der Nationalen Meisterschaft habe Tsafack die Information erhalten, die Eltern des Athleten wollten nicht, dass ihr minderjähriger Sohn weiter beim Angeklagten trainiert. Dieser habe Bruno Tsafack um Vermittlung gebeten. Beim Gespräch mit allen Beteiligten am Rande des Wettkampfes habe er festgestellt: Der Angeklagte hat einen sehr, sehr großen Einfluss auf seinen jungen Sportler, so Tsafack:
"Die Art und Weise, wie er sich seinen Eltern gegenüber geäußert hat, das war für mich wie eine Gehirnwäsche. Der war nicht mehr da. Ich hatte das Gefühl, er hat jetzt eine neue Familie gefunden, einen neuen Papa und so hatte es zu laufen."
Ehrenkodex nicht unterschrieben
Der Bundestrainer meldete seinen Eindruck des Gesprächs dem Verband, der habe versucht, den Trainer zu bewegen, den Ehrenkodex zu unterschreiben – vergebens.
Erst später stellt sich heraus, dass auch der Judoka, um den es im Vermittlungsgespräch ging, zu den Betroffenen gehören soll.
Der Angeklagte habe die absolute Kontrolle über seine Sportler haben wollen. Sie sollten ihre Eltern von Entscheidungen ausschließen, alles dem Sport unterordnen, hieß es während des Verfahrens. Von einigen minderjährigen Judoka habe er sogar verlangt, dass sie einen entsprechenden Vertrag unterschreiben.
Auch von brutaler Gewalt ist die Rede. Gerichtssprecherin Lisa Jani:
"Zum Teil werden ihm auch körperliche Züchtigungen der Jungen zur Last gelegt. Die Kinder sollen das alles über sich ergehen lassen haben, weil sie ihn eben auch so bewundert haben, als ihren engagierten Judo Trainer."
Bestrafungsrituale im Training?
Körperliche Züchtigungen und Bestrafungsrituale hat es offenbar auch im Training gegeben. So berichtet ein Zeuge von der sogenannten "Gasse". Die Judoka stellen sich einander gegenüber. Wer bestraft werden soll, etwa fürs Zuspätkommen, muss durch die Gasse laufen. Mit der Hand oder dem Judo-Gürtel dürfen alle diesen Sportler schlagen so fest sie wollen. Für die Judoka sei das ein Spaß gewesen. Junioren-Bundestrainer Bruno Tsafack hat die "Gasse" selbst bei einem seiner Lehrgänge miterlebt, das Ritual habe auf dem Rücken des "Bestraften" Spuren hinterlassen:
"Für mich war das einfach Missbrauch. Und seit dem Tag habe ich gesagt, ich möchte nicht mehr dulden, dass das passiert bei mir. Das möchte ich nicht." Es komme auf die Haltung des Trainers an, solche Rituale zu verbieten, so Tsafack.
Beim Training des Angeklagten sollen die Judoka mitunter auch ein Ritual praktiziert haben, das ein Zeuge als "Po füllen" bezeichnet. Dabei würde der Finger über der Judohose andeutungsweise in den Anus des Judopartners eingeführt. Das habe man beim Kadertraining am Olympiastützpunkt mitbekommen. Eine Trainingskultur im Judo, über die Bundestrainer Bruno Tsafack nur den Kopf schüttelt.
"Das ist kein Spaß"
"Ich frage mich, wie es dazu kommt, dass ein ausgebildeter Trainer ein erwachsener Mensch sowas zulässt. Das ist kein Spaß. Das kann man nicht dulden. Das geht nicht."
Beim Training des Angeklagten oder bei Wettkampffahrten seien Eltern laut Zeugenaussagen nicht gern gesehen gewesen. Ein Vater, der anonym bleiben will, schildert gegenüber dem DLF:
"Alles lief über den Trainer. Der war unglaublich engagiert, wirkte aber auch wie ein Alleinherrscher über den Verein."
Der Trainer war in Personalunion auch Vereinsvorsitzender, seine Frau die Kassenwartin, der Stiefsohn einer der Trainer.
Anweisung nicht erteilt
Nachdem die Vorwürfe bekannt geworden waren, habe der Angeklagte bis zur Verhaftung noch mehrere Monate weiter als Trainer tätig sein können. Für die Eltern unverständlich:
"Wenn Ermittlungen laufen, sollte ein Trainer auch zu seinem eigenen Schutz suspendiert werden, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind."
Dem Judoverband Berlin waren die Vorwürfe nach eigenen Angaben seit Mitte 2019 bekannt. Er schreibt uns:
"Allerdings wurden wir seitens des Landessportbundes und des Landeskriminalamtes angewiesen, dass wir bis zum Abschluss der Ermittlungen keine eigenen Nachforschungen und Handlungen unternehmen sollen, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden."
Sowohl der Landessportbund als auch das Landeskriminalamt bestätigen gegenüber dem Deutschlandfunk schriftlich, eine solche Anweisung nicht erteilt zu haben.
"Wie unterlassene Hilfeleistung"
"Die Vorstellung, dass der Trainer weitertrainiert hat, wenn schon Verdachtsmomente da sind und die Verbände Bescheid wissen, ist für mich kaum aushaltbar. Das kommt einem vor wie unterlassene Hilfeleistung", beschreibt ein Vater.
Am Montag wird der Vorsitzende Richter Norbert Nowak das Urteil verkünden. Die Staatsanwaltschaft hat acht Jahre Haft gefordert, die Verteidigung Freispruch. Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.