Jürgen Liminski: Als arm gelten nach einer Definition der Europäischen Gemeinschaft "Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum hinnehmbar ist". Was ist das Minimum in Europa, in Deutschland? Nun wird es nicht immer ein relatives Minimum geben. Zu diesen Fragen begrüße ich am Telefon Frau Erika Biehn, zweite Vorsitzende der Nationalen Armutskonferenz. Guten Morgen Frau Biehn!
Erika Biehn: Guten Morgen! - Natürlich wird es immer einen relativen Unterschied geben. Den hat es in allen Jahrhunderten gegeben. Aber es ist halt immer auch wichtig zu sehen, wie ist gerade die augenblickliche Situation, und die sind dann immer wieder sehr unterschiedlich. Die Nationale Armutskonferenz geht von einem Lebenslagen-Konzept aus. Das heißt wenn jemand in mehreren Bereichen wie zum Beispiel Wohnung, Arbeit, Einkommen oder Ausbildung, Beruf unterversorgt ist, also zu wenig von dem hat, was der Durchschnitt ist, der wird dann als arm bezeichnet. Dazu gehören sicherlich - das sagt die Definition der EU ja sehr deutlich -, wenn jemand zu wenig Geld hat oder in einer ganz schlechten Wohnung lebt, dass dieser Mensch dann arm ist, wobei natürlich auch Zusammenhänge bestehen.
Liminski: Sie gehen also von einem Lebenslagen-Konzept aus. Das ist sozusagen das Kernelement Ihrer Definition?
Biehn: Genau!
Liminski: Was gehört denn zum Minimum dieses Lebenslagen-Konzepts?
Biehn: Das Minimum ist nach dem, was wir heute haben, mindestens das, was in den SGB-II-Leistungen drin steckt, wobei das wirklich das absolute Minimum ist. Die Nationale Armutskonferenz fordert sogar eine Erhöhung dieser Regelleistung, weil die nämlich im Moment eindeutig zu niedrig ist. Insofern ist das etwas: Mit knapp 600 Euro kann jemand zwar überleben, aber nicht wirklich leben. Er ist nämlich tatsächlich von der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen, denn mit diesem wenigen Geld kann man sich überhaupt nicht mehr das leisten an Freizeitmöglichkeiten, was andere im Durchschnitt [machen]. Hier geht es nicht um die Weltreise oder dergleichen, sondern wirklich nur um kleinere Freizeitmöglichkeiten wie den Besuch des Kinos, den Besuch eines Theaters und dergleichen. Das ist alles mit diesem Geld schon überhaupt nicht mehr möglich, und von daher sagen wir, dass das deutlich verbessert werden muss.
Liminski: Das Stichwort heißt "ausgeschlossen". Offenbar ist Armut nicht nur eine Frage von oben und unten, sondern auch von drinnen und draußen. Frau Biehn, Sie sind zweite Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen und gleichzeitig der Nationale Armutskonferenz. Diese Doppelrolle kommt vermutlich nicht von ungefähr. Ist die Arbeitslosigkeit heute das größte Armutsrisiko, weil sie eben ausschließt und der Ausschluss aus der Erwerbsgesellschaft das Armutszeugnis par excellence ist?
Biehn: Es ist sicherlich so, dass Arbeitslosigkeit ein ganz wichtiger Aspekt und ein wesentlicher Grund ist, warum viele Menschen arm sind. Das zeigt sich ja auch an den Zahlen der Erwerbslosigkeit, die in den letzten Jahrzehnten immer gestiegen sind. Die Sockelarbeitslosigkeit wurde immer höher. Aber ich denke es ist sicherlich ein wichtiger Aspekt, jedoch nicht der einzige. Wenn man sich anguckt: Die Alleinerziehenden sind eine der Risikogruppen schlechthin. Das heißt nicht, dass jeder Alleinerziehende arm ist, aber ganz viele Alleinerziehende haben ihre Probleme mit dem Einkommen, weil sie zu wenig verdienen. Die Mehrheit der Alleinerziehenden ist erwerbstätig und ist trotzdem oft noch auf SGB-II-Leistungen angewiesen, weil ihr Einkommen zu niedrig ist oder weil sie überhaupt nicht die Möglichkeit haben, ihre Kinder so zu betreuen, dass sie einen Vollzeitjob annehmen könnten. Insofern ist Arbeitslosigkeit sicherlich ein Aspekt, aber nicht der einzige.
Liminski: Sie haben jetzt zum zweiten Mal das Wort SGB II erwähnt. Vielleicht sagen Sie uns, was das ist.
Biehn: Das ist das Sozialgesetzbuch II, in der allgemeinen Bevölkerung als Hartz IV bekannt.
Liminski: Wir haben ja nun die Sozialhilfe. Wo fängt denn da der Ausschluss an? Die Sozialhilfe soll ja gerade dazu helfen, in der Gesellschaft sozusagen verankert zu bleiben.
Biehn: Das stimmt zwar. Das hat die CDU in all den Jahren früher immer behauptet. Aber das Problem ist: Um wirklich an der Gesellschaft teilhaben zu können, braucht es durchaus eine gewisse Menge an Geld. Da sagen die Sozialhilfeinitiativen, aber auch die Nationale Armutskonferenz, dass das, was dort gewährt wird, immer zu wenig gewesen ist. Der Paritätische hat das ja auch deutlich vorgerechnet und wir haben vom Ministerium keinen Widerspruch bekommen, dass die Berechnung, die der Paritätische angestellt hat, falsch sei. Insofern wird es auch an der Stelle schon immer sehr deutlich und das schon seit vielen Jahren, dass der Regelsatz in der Sozialhilfe - und entsprechend ist es auch mit Hartz IV - immer schon zu niedrig war und wir immer schon gefordert haben, dass dort eine Anpassung, eine Erhöhung erfolgen muss. Aber das ist jeder Regierung bisher zu teuer gewesen.
Liminski: Was heißt Anpassung konkret? Nennen Sie eine Zahl.
Biehn: Eine Erhöhung der Regelleistung um 20 Prozent. Das wäre ein Regelsatz von mindestens 420 Euro.
Liminski: So dass man nachher auf etwa 700 kommt mit der Miete?
Biehn: Genau. So in etwa ist das, ja!
Liminski: Die Ärmsten in den Armutsberichten sind seit vielen Jahren schon die Alleinerziehenden - Sie haben es eben gesagt - und auch die Kinderreichen. Nun brüstet sich die Regierung mit dem Elterngeld. Ändert das die Lage für die Risikogruppen?
Biehn: Nein, überhaupt nicht, weil 67 Prozent von 1000 Euro sind 670 Euro. Da kann die Alleinerziehende selbst kaum überleben. Insofern ist das für mich im Grunde genommen keine Verbesserung. Das Problem ist: Für diejenigen, für die es gedacht ist - das sind nämlich die Gutverdienenden -, da ist es sicherlich ohne Zweifel ein Fortschritt, ohne Zweifel. Für die Geringverdienenden ist das aber meines Erachtens überhaupt kein Fortschritt, weil sie kriegen jetzt kürzere Zeit weniger Geld.
Liminski: Frau Biehn, die Armutsrisikoquote ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, liegt nun bei 13 Prozent in Deutschland. Aber die Bundesregierung sagt, es geht uns gut, weil die durchschnittliche Quote in der EU etwa 15 Prozent beträgt. Wird hier mit statistischen Daten die Wirklichkeit, nämlich die Risse in der Gesellschaft, übertüncht?
Biehn: Meines Erachtens auf jeden Fall, weil die Armutsquote ist nun wirklich etwas sehr Statistisches. Man darf nicht vergessen: In diese Armutsquote gehen zum Beispiel die Menschen, die sehr gut verdienen, auch mit ein, weil das ist immer ein Durchschnitt. Von daher glaube ich, dass die Politik im Moment zwar hört, dass es einen Anstieg der Armut gegeben hat, aber diesen Anstieg der Armutsquote gibt es seit Jahren. Ich glaube, es ist ein kurzer Aufschrei, es wird aber nicht wirklich etwas geändert und zum Vorteil der Menschen geändert, so dass es zukünftig auch weiterhin so gehen wird.
Liminski: Sehen Sie denn den sozialen Frieden gefährdet, wenn es so weiter geht?
Biehn: Ja, den sehe ich auf jeden Fall gefährdet. Noch ist es so, dass der große Protest noch nicht gekommen ist, weil viele fürchten, wenn sie protestieren, dass sie dann größere Schwierigkeiten bei den Ämtern haben und manche erleben es ja auch tatsächlich so. Von daher kommt der Aufschrei wenn überhaupt erst sehr spät, und ich fürchte, dass er dann in einer Form kommt, wie es der Bundesrepublik nicht gut tun würde.
Liminski: Hat Armut auch mit Emotionen zu tun, zum Beispiel mit der Fähigkeit, Armut überhaupt wahrzunehmen, ich sage mal, den alten Mann zu beobachten, der mit traurigem Blick im Supermarkt an der Fleischtheke vorbei geht und sich dafür drei Eier holt, oder dem Sozialhilfeempfänger zu glauben, wenn er sagt, dass er zwei Jahre lang für ein neues Paar Schuhe spart?
Biehn: Natürlich hat Armut auch etwas mit Emotionen zu tun. Ich glaube, dass Armut nicht gerne betrachtet wird, liegt daran, dass viele fürchten, selber in Armut zu geraten. Manche sagen halt, diese Menschen sind selber schuld, mir kann das nicht passieren, und das sagen sie so lange, bis es ihnen tatsächlich auch selbst passiert ist. Ich glaube schon, dass es einerseits diese, ich sage mal, eher neutrale Betrachtung gibt, aber andererseits sicherlich auch die emotionale Seite, wobei ich sehr unterschiedlich in der Politik erlebe, wie das wahrgenommen wird. Es gibt Politiker, die nehmen es ernst, und andere Politiker gehen mit einem Lächeln darüber hinweg.
Liminski: Droht diesem Land nicht eine neue Form von Armut, nämlich die emotionale Verarmung, Stichwort Einsamkeit?
Biehn: Ich weiß nicht, ob man das wirklich so sagen kann. Ich glaube nicht, dass es tatsächlich so ist, weil dieses Phänomen haben wir seit Jahrzehnten. Zumindest solange, wie ich in der Verbandspolitik mich bewege, habe ich das genau so erlebt und insofern glaube ich nicht, dass es unbedingt eine Verrohung, oder wie immer man es bezeichnen will, auch geben wird. Es wird immer Menschen geben, die sich genauer umgucken, und andere, die es nicht tun.
Liminski: Heute ist der Welttag der Armutsbekämpfung. Was würden Sie der Politik empfehlen, an diesem Tag zu tun?
Biehn: An diesem Tag? - Das eine ist das, was Sie auch eben angedeutet haben, nämlich den Menschen tatsächlich mal zuzuhören, ihnen zu glauben, dass Armut sehr schwierig ist zu bekämpfen und vor allem zu bewältigen vor allem. Zum anderen würde ich mir wünschen, dass den Verbänden, die nun schon seit vielen Jahren um eine Verbesserung der Situation für diese Menschen kämpfen, tatsächlich auch Gehör geschenkt wird und sie dementsprechend entscheiden, nämlich eine Erhöhung der Regelleistung.
Erika Biehn: Guten Morgen! - Natürlich wird es immer einen relativen Unterschied geben. Den hat es in allen Jahrhunderten gegeben. Aber es ist halt immer auch wichtig zu sehen, wie ist gerade die augenblickliche Situation, und die sind dann immer wieder sehr unterschiedlich. Die Nationale Armutskonferenz geht von einem Lebenslagen-Konzept aus. Das heißt wenn jemand in mehreren Bereichen wie zum Beispiel Wohnung, Arbeit, Einkommen oder Ausbildung, Beruf unterversorgt ist, also zu wenig von dem hat, was der Durchschnitt ist, der wird dann als arm bezeichnet. Dazu gehören sicherlich - das sagt die Definition der EU ja sehr deutlich -, wenn jemand zu wenig Geld hat oder in einer ganz schlechten Wohnung lebt, dass dieser Mensch dann arm ist, wobei natürlich auch Zusammenhänge bestehen.
Liminski: Sie gehen also von einem Lebenslagen-Konzept aus. Das ist sozusagen das Kernelement Ihrer Definition?
Biehn: Genau!
Liminski: Was gehört denn zum Minimum dieses Lebenslagen-Konzepts?
Biehn: Das Minimum ist nach dem, was wir heute haben, mindestens das, was in den SGB-II-Leistungen drin steckt, wobei das wirklich das absolute Minimum ist. Die Nationale Armutskonferenz fordert sogar eine Erhöhung dieser Regelleistung, weil die nämlich im Moment eindeutig zu niedrig ist. Insofern ist das etwas: Mit knapp 600 Euro kann jemand zwar überleben, aber nicht wirklich leben. Er ist nämlich tatsächlich von der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen, denn mit diesem wenigen Geld kann man sich überhaupt nicht mehr das leisten an Freizeitmöglichkeiten, was andere im Durchschnitt [machen]. Hier geht es nicht um die Weltreise oder dergleichen, sondern wirklich nur um kleinere Freizeitmöglichkeiten wie den Besuch des Kinos, den Besuch eines Theaters und dergleichen. Das ist alles mit diesem Geld schon überhaupt nicht mehr möglich, und von daher sagen wir, dass das deutlich verbessert werden muss.
Liminski: Das Stichwort heißt "ausgeschlossen". Offenbar ist Armut nicht nur eine Frage von oben und unten, sondern auch von drinnen und draußen. Frau Biehn, Sie sind zweite Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Erwerbslosen- und Sozialhilfeinitiativen und gleichzeitig der Nationale Armutskonferenz. Diese Doppelrolle kommt vermutlich nicht von ungefähr. Ist die Arbeitslosigkeit heute das größte Armutsrisiko, weil sie eben ausschließt und der Ausschluss aus der Erwerbsgesellschaft das Armutszeugnis par excellence ist?
Biehn: Es ist sicherlich so, dass Arbeitslosigkeit ein ganz wichtiger Aspekt und ein wesentlicher Grund ist, warum viele Menschen arm sind. Das zeigt sich ja auch an den Zahlen der Erwerbslosigkeit, die in den letzten Jahrzehnten immer gestiegen sind. Die Sockelarbeitslosigkeit wurde immer höher. Aber ich denke es ist sicherlich ein wichtiger Aspekt, jedoch nicht der einzige. Wenn man sich anguckt: Die Alleinerziehenden sind eine der Risikogruppen schlechthin. Das heißt nicht, dass jeder Alleinerziehende arm ist, aber ganz viele Alleinerziehende haben ihre Probleme mit dem Einkommen, weil sie zu wenig verdienen. Die Mehrheit der Alleinerziehenden ist erwerbstätig und ist trotzdem oft noch auf SGB-II-Leistungen angewiesen, weil ihr Einkommen zu niedrig ist oder weil sie überhaupt nicht die Möglichkeit haben, ihre Kinder so zu betreuen, dass sie einen Vollzeitjob annehmen könnten. Insofern ist Arbeitslosigkeit sicherlich ein Aspekt, aber nicht der einzige.
Liminski: Sie haben jetzt zum zweiten Mal das Wort SGB II erwähnt. Vielleicht sagen Sie uns, was das ist.
Biehn: Das ist das Sozialgesetzbuch II, in der allgemeinen Bevölkerung als Hartz IV bekannt.
Liminski: Wir haben ja nun die Sozialhilfe. Wo fängt denn da der Ausschluss an? Die Sozialhilfe soll ja gerade dazu helfen, in der Gesellschaft sozusagen verankert zu bleiben.
Biehn: Das stimmt zwar. Das hat die CDU in all den Jahren früher immer behauptet. Aber das Problem ist: Um wirklich an der Gesellschaft teilhaben zu können, braucht es durchaus eine gewisse Menge an Geld. Da sagen die Sozialhilfeinitiativen, aber auch die Nationale Armutskonferenz, dass das, was dort gewährt wird, immer zu wenig gewesen ist. Der Paritätische hat das ja auch deutlich vorgerechnet und wir haben vom Ministerium keinen Widerspruch bekommen, dass die Berechnung, die der Paritätische angestellt hat, falsch sei. Insofern wird es auch an der Stelle schon immer sehr deutlich und das schon seit vielen Jahren, dass der Regelsatz in der Sozialhilfe - und entsprechend ist es auch mit Hartz IV - immer schon zu niedrig war und wir immer schon gefordert haben, dass dort eine Anpassung, eine Erhöhung erfolgen muss. Aber das ist jeder Regierung bisher zu teuer gewesen.
Liminski: Was heißt Anpassung konkret? Nennen Sie eine Zahl.
Biehn: Eine Erhöhung der Regelleistung um 20 Prozent. Das wäre ein Regelsatz von mindestens 420 Euro.
Liminski: So dass man nachher auf etwa 700 kommt mit der Miete?
Biehn: Genau. So in etwa ist das, ja!
Liminski: Die Ärmsten in den Armutsberichten sind seit vielen Jahren schon die Alleinerziehenden - Sie haben es eben gesagt - und auch die Kinderreichen. Nun brüstet sich die Regierung mit dem Elterngeld. Ändert das die Lage für die Risikogruppen?
Biehn: Nein, überhaupt nicht, weil 67 Prozent von 1000 Euro sind 670 Euro. Da kann die Alleinerziehende selbst kaum überleben. Insofern ist das für mich im Grunde genommen keine Verbesserung. Das Problem ist: Für diejenigen, für die es gedacht ist - das sind nämlich die Gutverdienenden -, da ist es sicherlich ohne Zweifel ein Fortschritt, ohne Zweifel. Für die Geringverdienenden ist das aber meines Erachtens überhaupt kein Fortschritt, weil sie kriegen jetzt kürzere Zeit weniger Geld.
Liminski: Frau Biehn, die Armutsrisikoquote ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, liegt nun bei 13 Prozent in Deutschland. Aber die Bundesregierung sagt, es geht uns gut, weil die durchschnittliche Quote in der EU etwa 15 Prozent beträgt. Wird hier mit statistischen Daten die Wirklichkeit, nämlich die Risse in der Gesellschaft, übertüncht?
Biehn: Meines Erachtens auf jeden Fall, weil die Armutsquote ist nun wirklich etwas sehr Statistisches. Man darf nicht vergessen: In diese Armutsquote gehen zum Beispiel die Menschen, die sehr gut verdienen, auch mit ein, weil das ist immer ein Durchschnitt. Von daher glaube ich, dass die Politik im Moment zwar hört, dass es einen Anstieg der Armut gegeben hat, aber diesen Anstieg der Armutsquote gibt es seit Jahren. Ich glaube, es ist ein kurzer Aufschrei, es wird aber nicht wirklich etwas geändert und zum Vorteil der Menschen geändert, so dass es zukünftig auch weiterhin so gehen wird.
Liminski: Sehen Sie denn den sozialen Frieden gefährdet, wenn es so weiter geht?
Biehn: Ja, den sehe ich auf jeden Fall gefährdet. Noch ist es so, dass der große Protest noch nicht gekommen ist, weil viele fürchten, wenn sie protestieren, dass sie dann größere Schwierigkeiten bei den Ämtern haben und manche erleben es ja auch tatsächlich so. Von daher kommt der Aufschrei wenn überhaupt erst sehr spät, und ich fürchte, dass er dann in einer Form kommt, wie es der Bundesrepublik nicht gut tun würde.
Liminski: Hat Armut auch mit Emotionen zu tun, zum Beispiel mit der Fähigkeit, Armut überhaupt wahrzunehmen, ich sage mal, den alten Mann zu beobachten, der mit traurigem Blick im Supermarkt an der Fleischtheke vorbei geht und sich dafür drei Eier holt, oder dem Sozialhilfeempfänger zu glauben, wenn er sagt, dass er zwei Jahre lang für ein neues Paar Schuhe spart?
Biehn: Natürlich hat Armut auch etwas mit Emotionen zu tun. Ich glaube, dass Armut nicht gerne betrachtet wird, liegt daran, dass viele fürchten, selber in Armut zu geraten. Manche sagen halt, diese Menschen sind selber schuld, mir kann das nicht passieren, und das sagen sie so lange, bis es ihnen tatsächlich auch selbst passiert ist. Ich glaube schon, dass es einerseits diese, ich sage mal, eher neutrale Betrachtung gibt, aber andererseits sicherlich auch die emotionale Seite, wobei ich sehr unterschiedlich in der Politik erlebe, wie das wahrgenommen wird. Es gibt Politiker, die nehmen es ernst, und andere Politiker gehen mit einem Lächeln darüber hinweg.
Liminski: Droht diesem Land nicht eine neue Form von Armut, nämlich die emotionale Verarmung, Stichwort Einsamkeit?
Biehn: Ich weiß nicht, ob man das wirklich so sagen kann. Ich glaube nicht, dass es tatsächlich so ist, weil dieses Phänomen haben wir seit Jahrzehnten. Zumindest solange, wie ich in der Verbandspolitik mich bewege, habe ich das genau so erlebt und insofern glaube ich nicht, dass es unbedingt eine Verrohung, oder wie immer man es bezeichnen will, auch geben wird. Es wird immer Menschen geben, die sich genauer umgucken, und andere, die es nicht tun.
Liminski: Heute ist der Welttag der Armutsbekämpfung. Was würden Sie der Politik empfehlen, an diesem Tag zu tun?
Biehn: An diesem Tag? - Das eine ist das, was Sie auch eben angedeutet haben, nämlich den Menschen tatsächlich mal zuzuhören, ihnen zu glauben, dass Armut sehr schwierig ist zu bekämpfen und vor allem zu bewältigen vor allem. Zum anderen würde ich mir wünschen, dass den Verbänden, die nun schon seit vielen Jahren um eine Verbesserung der Situation für diese Menschen kämpfen, tatsächlich auch Gehör geschenkt wird und sie dementsprechend entscheiden, nämlich eine Erhöhung der Regelleistung.