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Mit dem Nachtzug nach Lissabon
Abenteuer Zugreise

Flugzeug, Auto, Bahn? Bei der Reise nach Lissabon fällt die Wahl des Verkehrsmittels schließlich auf den Zug. Nicht die schnellste Variante, aber die ökologisch sauberste - und am Ende auch die erlebnisreichste.

Von Axel Denecke | 01.07.2018
    Altstadt von Lissabon
    Um nach Lissabon kommen, nutzen viele Reisende das Flugzeug - dabei hat eine Zugreise durchaus ihre Reize (picture alliance / ZB / Jens Büttner)
    "Es war Gregorius, als ließe der Zug, der jetzt aus dem Bahnhof rollte, auch ein Stück von ihm selbst zurück. Ein bisschen kam es ihm vor als triebe er auf einer Eisscholle aufs offene kalte Meer hinaus."
    So beginnt für den Lehrer Raimundus Gregorius die Reise im "Nachtzug nach Lissabon" im gleichnamigen Roman. Auch wir wollen nach Lissabon reisen. Mit der ganzen Familie.

    Raimundus Gregorius bricht urplötzlich aus seinem wohlgeordneten Leben aus - nachdem er erst einer rätselhaften Portugiesin begegnet und ihm dann das Buch eines portugiesischen Dichters in die Hände fällt. Der "Nachtzug nach Lissabon" trägt ihn heraus aus seinem überschaubaren Leben in das weite, verstrickte Dasein der Widerständler gegen die Salazar-Diktatur.
    Gregorius ist eine literarische Figur, aber den Nachtzug nach Lissabon gibt es tatsächlich. Nun scheint die Nachtzugreise zum Sonderling Gregorius zu passen wie seine abgenutzte Aktentasche oder das kabelgebundene Telefon in seiner Wohnung. Aber passt eine solche Zugfahrt auch zu uns, die wir nur einen Besuch in Lissabon und in den portugiesischen Bergen machen wollen?
    Zug als ökologisch beste Reiseform
    Natürlich denken wir bei einer Reise nach Lissabon nicht sofort an den Zug als Verkehrsmittel. Aber dann sind die günstigen Flüge nach Lissabon vergriffen und wir müssen neu überlegen. Köln-Lissabon, das sind mehr als 2.200 Kilometer Entfernung - fast so weit wie nach Moskau. 2.200 Kilometer als Familie mit Kind im Auto durch Europa, das wäre eine unbequeme, anstrengende und teure Reise.
    Außerdem ist uns als Stadtbewohner klar, was Auto-Mobilität bedeutet: Emissionen in Form von Feinstaub, Stickoxid, Kohlendioxid. Und wir ahnen, wie viel schwerer eine Reise nach Lissabon unseren ökologischen Rucksack machen könnte.
    Laut Co2-Rechner sind es mit dem Flugzeug 460, mit dem Auto 130 und mit dem Zug 80 Kilogramm Treibhausgas, die pro Person auf der Strecke Köln-Lissabon ausgestoßen werden.
    Soll die Erderwärmung in Grenzen gehalten werden, dann dürfte jeder Menschen nur noch maximal zwei Tonnen Co2-Emissionen im Jahr verursachen.
    Spricht also nicht alles für den "Nachtzug nach Lissabon"?
    Am Hauptbahnhof Köln versuchen wir zu erfahren, wann und wo er fährt, der Nachtzug. Von Köln nach Lissabon? Die Kundenbetreuerin der DB ist erstaunt und lässt dann den Computer suchen. Sie wundert sich erneut und zeigt die Verbindung: über Paris, Barcelona, Madrid, Merida, Badajoz. Von Entroncamento nach Lissabon. Umstiege: sechs. Reisedauer: 35 Stunden.
    Vom Nachtzug nach Lissabon ist gar keine Rede. Dabei beschreiben ihn doch zahlreiche Internetseiten von Bahnbegeisterten. Er soll vom Bahnhof Irun in Nordspanien abfahren. Und so finden wir schließlich die Verbindung: Köln - Lissabon: drei Mal umsteigen in Paris, Hendaye und Irun. Mit Thalys, TGV, Regional- und Nachtzug. Reisedauer 25 Stunden und 46 Minuten. Wie nahe Lissabon nun erscheint.
    Interrail-Ticket mit Reservierungsaufschlägen
    Und weil sich das nach Abenteuer anhört, nehmen wir auch gleich Interrail-Tickets für die Reise. Interrail? War das nicht jene Netzkarte, mit der eine ganze Generation von Jugendlichen wochenlang sorglos und schlaflos mit dem Zug durch Europa fahren konnte?
    Interrail gibt es heute für alle: für die Jugend, für die Senioren und für alle dazwischen. 230 Euro pro Erwachsenen für fünf Tage Zugfahren in zwei Wochen - damit kommen wir nach Lissabon und zurück. Kinder fahren gratis mit. Lissabon erscheint noch näher!
    Aber die Zeiten, als Reisende mit dem Interrail-Pass einfach einsteigen konnten, wo und wohin sie wollten, sind lange vorbei. Die erforderlichen Reservierungen für Thalys, TGV und den Nachtzug nach Lissabon schlagen für uns drei Reisende noch einmal mit gut 400 Euro zu Buche. Aber dafür fahren wir nicht nur, wir schlafen dann auch im "Nachtzug nach Lissabon".
    Unsere Bahnreise nach Lissabon beginnt müde, aber frohgemut am Kölner Hauptbahnhof. Mit Rollkoffer, Rucksack und Reiseproviant im Morgengrauen.
    Gedränge am Pariser Bahnhof
    Am Bahnsteig steht der Schnellzug nach Paris bereit. Wo sind unsere Sitzplätze, wohin mit dem Gepäck?
    Der Zug fährt hinein in den Morgen. Aachen-Grenzbahnhof. Belgien. Kleinstädte aus roten Klinkern die soeben erwachen. Mehr und mehr Menschen steigen zu. Dann Brüssel und das EU-Viertel vor den Zugfenstern. Noch mehr Menschen steigen zu und wir rasen in drangvoller Enge durch den topfebenen Norden Frankreichs. An den aufragenden Vorstädten erkennt man, dass wir gleich Paris erreichen.
    Aus dem Gedränge im Zug hinein ins Gedränge des Bahnhofs Paris-Nord. Menschentrauben stehen mit emporgereckten Köpfen vor den Infotafeln. Die französische Bahn streikt, weil Präsident Macron die Bahnangestellten länger und für weniger Geld arbeiten lassen will.
    Überall am Bahnhof stehen Bahnangestellte in signalfarbenen Westen um Pendlern oder Touristen weiter zu helfen. Zum Gare Montparnasse? Ab in die Metro. Zweimal umsteigen. Über Treppen, Rolltreppen und durch endlose unterirdische Gänge.
    Der TGV Nr. 8541 nach Hendaye wartet leise summend schon. Fährt fahrplanmäßig ab und beeilt sich: Bis Bordeaux ist kein Halt vorgesehen.
    Vorteile des Zugreisens
    Im Inneren hört man nur ein Säuseln, während wir pfeilschnell durch die französische Ebene rasen. Fast 300 km/h Reisegeschwindigkeit, vermeldet stolz die Leuchtschriftanzeige im Waggon. Dörfer, Bauernhöfe, Weiden, Flüsse und gewundene Sträßchen fliegen vorbei. Doch wer beachtet das schon, wo es kostenloses mobiles Internet gibt, also die meisten Fahrgäste den Blick fest auf ihre mobilen Endgeräte gerichtet haben?
    Schräg gegenüber sitzt eine Familie mit Kind und spricht Portugiesisch - jene Sprache, die Gregorius so inspirierte. Der 6-jährige Junge spielt mit kleinen Eifeltürmen. Familie Ferreira kommt offenbar soeben von einem Paris-Besuch. Manuel Ferreira:
    "Wir kommen soeben aus Paris und fahren zurück nach Hause, nach Lissabon. Mein Sohn wollte so gerne einmal Paris kennenlernen. Den Eifelturm, das Essen, das Französische, aber auch, um einmal mit dem Nachtzug zu fahren und mit dem TGV."
    Manuel Ferreira ist Bahnangestellter und -experte und der "Nachtzug nach Lissabon" ist ihm nicht unbekannt. Überhaupt: Nichts erscheint ihm naheliegender, als die Bahn auch für Urlaubsreisen zu nutzen. Auch über längere Strecken. Und auch des Nachts.
    "Die Vorteile? Es ist günstiger. Und wir haben mehr Zeit, andere Menschen zu erleben. Man kann die Städte und die Landschaft in Ruhe betrachten und die Aussicht aus dem Zug genießen. Mit dem Flugzeug geht alles sehr schnell und wir sehen nicht, wie sich die Landschaft verändert. Deswegen fahre ich so gern mit dem Zug."
    Schnell- statt Nachtzüge
    Und die Nachtzüge? Manuel Ferreira kennt die großen Namen der Nachtzuggeschichte - aber werden sie noch eine Zukunft haben?
    "Vermutlich gibt es Nachtzüge bald nicht mehr - so etwas wie der Süd-Express oder der Orient-Express, die mit Schlafwagen die großen Städte verbunden haben. Bald gibt es wohl nur noch Schnellzüge."
    Die Geschichte der Nachtzüge begann 1876 mit der Gründung der Compagnie international de Wagons de Lits durch den Belgier Georges Nagelmackers. Die Compagnie betrieb bald schon Schlafwagenverbindungen durch ganz Europa, unter ihnen den legendären "Orient-Express" von Paris nach Konstantinopel oder den Sud-Express von Paris nach Lissabon. Wäre es nach Nagelmackers gegangen, dann wäre der Sud-Express bis nach St. Petersburg weitergefahren - aber da erwiesen sich nicht nur unterschiedlichen Spurweiten als Hindernisse.
    Endlich im Nachtzug nach Lissabon
    Hinter Bordeaux wird der Zug langsamer und rollt durch endlose Pinienwälder. Bald ist Frankreich zu Ende. Hier, kurz vor der spanischen Grenze, zwischen Pyrenäen und Atlantik, kann es schon mal regnen. Wie soll man nun zum Nachtzug im spanischen Irun finden - ohne Ortskenntnis und Stadtplan? Wir finden das Gleis des Lokalzuges, der über die Grenze nach Irun fährt. Dann heißt es laufen - durch den Regen. Laufen und immer nach dem Weg fragen, dann sind wir endlich am Bahnhof Irun.
    Vor dem Bahnhofsbistro wartet er, der Nachtzug nach Lissabon. Natürlich hat er nichts gemein mit den alten Nachtzügen des 19. Jahrhunderts mit ihren schmucken Abteilen, großzügigen Sesseln, Teppichen, Tischchen und Gardinen. Der Nachtzug nach Lissabon von heute ist ein gedrungener, pragmatischer, nüchterner Zug. Ein glattes Äußeres mit getönten Scheiben, im Inneren viel Kunststoff und bunte, etwas abgenutzte Sitzbezüge. Im Sitzabteil wartet eine lange Nacht auf die Reisenden, die die kostengünstigen "Ruhesessel" gebucht haben.
    Abfahrt Irun 18 Uhr 45. Der Zug rollt langsam an und windet sich durch die Nordspanische Bergwelt über die sich allmählich der Abend senkt. Für Schaffner Julio Lopez beginnt eine weitere Nacht im Zug, weitgehend ohne Schlaf.
    Wir sind hier ungefähr 1.000 km unterwegs von Irun nach Lissabon, aber wir machen nur den spanischen Teil. Hier im "Nachtzug nach Lissabon" gibt es kein drahtloses Internet und wie von selbst scheinen sich die Reisegespräche zu entspinnen. Nur die kleine Gruppe US-amerikanischer Rucksacktouristinnen schaut zunächst fassungslos und klappt dann doch ihre Rechner auf.
    Der Großteil der Reisenden ist offenbar zum Vergnügen unterwegs. Was nicht immer so war, wie Julio Lopez aus jahrelanger Erfahrung weiß.
    "Früher waren der Großteil der Reisenden Arbeiter, zum Beispiel Portugiesen, die in Frankreich auf den Felder arbeiteten und dann nach Ende der Saison wieder nach Hause fuhren. Es gab sehr viele Arbeiter. Wahrscheinlich waren früher 80 Prozent der Reisenden Arbeiter und 20 Prozent Touristen - heute ist es umgekehrt."
    Fachkundige Gesprächspartner
    Später wird es ruhiger im Zug. Die meisten Reisenden ziehen sich in die Schlafabteile zurück. Es gibt Liegeabteile mit vier Betten und kleine Zweibettabteile mit Waschbecken. Alles adrett, sauber und eng. Und während am Fenster die Lichter und Namen von unbekannten Orten vorbeiziehen, rattert der Rhythmus des Zuges bis in die Träume der Reisenden hinein.
    Wer noch nicht schlafen kann oder will, der findet im Bordbistro nicht nur ein warmes Abendessen, eine Flasche Bier und oder ein Glas Wein, sondern auch fachkundige Gesprächspartner. Hier am Nachtzugtresen werden die Fährnisse der Reise mit der Bahn erzählt, diskutiert und eingeordnet.
    "Also Brüssel-Paris mit Thalys, das war eine Katastrophe. Da war ein großes Problem mit dem Thalys heute Morgen in Frankreich und ich habe den Thalys genommen um 10:13 Uhr und das war der erste Thalys diesen Morgen und er war komplett."
    René Obrecht aus Belgien ist Bahnbegeisterter und Bahnangestellter zugleich und fährt nun schon zum 14. Mal mit dem Zug in seine Lieblingsstadt Lissabon.
    "Und ich war komplett desorientiert und ich habe vier, fünf Leute gefragt, wo ist der internationale Bahnhof von RENFE? Der erste hat gesagt: rechts. Der Zweite: links. Oben. Unten. Ich habe ganz Irun gesehen, aber nicht den Bahnhof - darum war ich komplett nass."
    Ihm gegenüber beim Bier ein deutsches Rentnerehepaar aus Berlin, Manfred Krause mit Frau. Auch sie sind nicht versehentlich oder aus Not in diesem Zug, sondern im Gegenteil: Sie suchen schon seit Jahren das Erlebnis Nachtzug.
    "Wir waren in Madrid mit dem Nachtzug, nach Rom, wir sind bis Sofia und nach Bukarest mit dem Nachtzug gefahren oder Griechenland, das ist aber schon länger her. Der Orient-Express besteht, wenn man dann von Sofia nach Bukarest fährt, dann kommt der Orient-Express mit einem verlausten Wagen noch an, aus Istanbul."
    Es rattert der Zug in den Abend. Tief hängen die Wolken in den Bergen Nordspaniens. Die Lichter der Dörfer glänzen im Regen. Stille Ortschaften, einsame Straßen und über allem in die nächtliche Dunkelheit hinein die Spitzen der Berge. Im Bordbistro wird das Essen serviert, zubereitet in der kleinen Küche hinter dem Tresen. Ein Bier noch und es kommt Nostalgie auf, angesichts des Niedergangs der Nachtzugkultur in Europa.
    "Die deutsche Bahn hat die ganzen Nachtzüge eingestellt, das ist nicht zu verstehen, weil die Österreicher, die das jetzt machen, verdienen ja offensichtlich Geld damit. Die einfachste Erklärung ist vielleicht, dass keiner von den Managern, die dies zu entscheiden haben, jemals in einem Nachtzug waren."
    Für Bahnfan Krause liegen die Vorteile doch klar auf der Hand. Auch wenn man die nicht mehr in Mark und Pfennig ausdrücken kann.
    "Also sparen tut man mit dem Nachtzug inzwischen nichts mehr, oder mit der Eisenbahn durch Europa zu fahren. Wir haben ja einen Rentner-Interrail-Pass und das Fliegen wäre garantiert billiger gewesen. Aber weniger schön. Dass ich jetzt die Landschaft sehe die ganze Zeit."
    Es ist Nacht geworden. Nur noch zu erahnen die Schatten der gewaltigen spanischen Gebirge. Verschwommene Lichter von Städten. Ein Halt irgendwo. Burgos? Valladolid? Salamanca? Schlaflos im Liegewagen nimmt man noch einmal den Roman in die Hand.
    "Das Leben ist nicht das, was wir leben, es ist das, was wir uns vorstellen zu leben. Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist, was geschieht mit dem Rest?"
    Irgendwann schließt man dann doch die Augen und lauscht noch lange dem Klopfen der Räder.
    Erfahrung der Weite Europas
    Im ersten Erwachen im Morgengrauen dann vor dem Fenster ein Bahnhof: ein Wasserturm aus der Dampflokzeit mit der Aufschrift: Entroncamento. Wir sind in Portugal! Eine Stunde später nähern wir uns Lissabon: Vorortbahnhöfe, wartende Pendler, erleuchtete Fenster in den Häusern.
    Morgens um halb Acht fahren wir in den Bahnhof von Lisboa St. Apolonia ein. Ein kleiner Sackbahnhof mit sechs Gleisen. Eine Bahnhofshalle aus der Gründerzeit. Von hier aus fährt kein Zug mehr weiter. Vor ein paar Jahrzehnten, als der Sud-Express aus Paris hier endete, da hatte man hier Anschluss an Passagierschiffe nach Südamerika.
    Der gewaltige Fluss Tejo, der sich in Lissabon weit zum Atlantik hin öffnet, leuchtet über den Bahnhofsvorplatz. Wir riechen das Meer. Da stehen zwei Matrosen im Stehcafé das Bahnhofes. Woher kommen sie, wohin fahren sie? Nach Madeira? Auf die Azoren? Nach Brasilien? Und die Taxifahrer in der Warteschlange vor dem Bahnhof, sie stammen aus Mosambik, aus Angola, von den Cap Verden, aus Brasilien.
    Der Nachtzug nach Lissabon liegt hinter uns, das Klopfen der Räder haben wir noch im Ohr. Etwas schlaftrunken stehen wir in der Sonne Lissabons. Was konnten wir erfahren auf dieser Reise, auf der wir kein Geld, aber der Erde eine Menge Treibhausgase erspart haben? Wir haben die Weite Europas erfahren. Aber die Saudade, die Sehnsucht - fängt sie nicht hier an der Endstation Lissabon St. Apolonia gerade erst an?