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Mit Kunst das Verdrängte ans Licht bringen

1925 war die surrealistische Bewegung, in der sich junge Künstler versammelten, die gegen die saturierte bürgerliche Gesellschaft aufbegehrten, noch im Werden: man stritt und diskutierte, Künstler schlossen sich der Bewegung an, um sie wenig später wieder zu verlassen, doch umfasste sie schon damals alle Facetten: Literatur und Theater, Musik, Bildende Kunst und Fotografie.

Von Anette Schneider | 14.11.2005
    Fassungslos blicken die Besucher auf die Gemälde: Da sieht man Figuren und Alltagsgegenstände, die in ihrer Zusammenstellung völlig absurd erscheinen und erschrecken. Andere bestehen aus Endlos-Linien und Strich-Labyrinthen. Auf Fotografien mutieren vertraute Gegenstände zu Bedrohlich-Geisterhaftem - alles Mögliche hängt an den Wänden, nur kein herkömmlich erzählendes Bild!

    "Was wir suchten in der Zeit, war nicht eine Darstellung der Wirklichkeit, nicht eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern ein Erlebnis, ein Abenteuer, das zwischen uns und der Wirklichkeit lag."

    1921 zog Max Ernst von Köln nach Paris und wurde bald Wortführer der jungen surrealistischen Maler. Vier Jahre später, am 14. November 1925, eröffnet die erste Sammelausstellung der unorthodoxen Künstler: Die Galerie Pierre am Montparnasse zeigt Arbeiten von Juan Miró und Giorgio de Chirico, André Masson, Man Ray, Paul Klee, Pablo Picasso und Max Ernst.

    "Es kam uns darauf an, zu einer solchen Intensität des Erkennens zu kommen, dass wir auf einen Punkt kommen im geistigen Leben, wo alles, was als Gegensätze betrachtet wird - zum Beispiel die Innenwelt und die Außenwelt, die Traumwelt und die Welt der Aktion, die Vergangenheit und die Gegenwart, das Oben und das Unten - wo das alles nicht mehr als Gegensätze existiert, sondern als eine Einheit. "

    Entstanden war die surrealistische Bewegung Anfang der 20er Jahre als Reaktion auf den 1. Weltkrieg: Die jungen Künstler waren entsetzt, dass Kriegsgräuel und Millionen Tote verdrängt wurden und man weiterlebte, als sei nichts geschehen. Also begannen sie die bürgerliche Gesellschaft, die nichts so sehr wünschte wie Ruhe, zu provozieren.

    "Die Kunst soll das Leben nicht länger in Teilen und nicht nur rationalistisch begreifen, sondern in seiner Ganzheit. Dazu gehört auch das Unterbewusste, das Düstere, das Verdrängte!"

    Fordert 1924 der 28-jährige Schriftsteller Andre Breton in der ersten Programmschrift der Surrealisten. Breton, der als Arzt in neuropsychiatrischen Kliniken gearbeitet hatte, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte, hatte 1921 Sigmund Freud in Wien besucht. Die Gespräche mit dem berühmten Psychoanalytiker über Traumdeutung und das Unbewusste halfen den Surrealisten nun bei ihrer Idee, mit allen Mitteln der Kunst, Verdrängtes ans Licht zu holen.

    "Die ersten surrealistischen Versuche, die gemacht worden sind war, was man in Frankreich "le pur automatisme" nennt. Das heißt: Versuche sich auszudrücken ohne jede Hemmung. Wir haben z.B. versucht das automatische Zeichnen. Wir suchten etwas, das einen stärkeren Wert hatte, das nicht nur in unserer Emotion existierte, nicht nur in unserer Außenwelt, sondern etwas, das genau auf diesem Grenzgebiet entstand und sich abspielte."

    In der Pariser November-Ausstellung stellen die Maler diese Methoden erstmals gemeinsam vor: Massón zeichnet scheinbar schlafwandlerisch Endlosstriche auf Papier. De Chirico, Margritte und Dali nutzen die Mittel der Montage, um den Betrachter zu verstören. Max Ernst entwickelt die Frottage, eine Reibetechnik, mit der er etwa Holzlatten auf Papier paust und Gesichter oder Gestalten hinzufügt.

    "Mir ist der Gedanke gekommen, dass man sich einfach dem Delirium des Interpretierens hingeben könnte und dabei in einen Zustand geraten könnte, in dem man eine solche geistige Freiheit erreicht, das einfach alles, was in uns selbst lebt und von der Außenwelt schon vorbereitet war, plötzlich zu einem solchen Agglomerat von Formen und Farben kommen könnte.

    Das stärkste Bild ist von einem höchsten Grad an Willkür gekennzeichnet! "

    Hatte Andre Breton geschrieben. Damit meinte er nicht die absichtslose Willkür, sondern den inszenierten Widerspruch: Das surrealistische Bild sollte alte Sehgewohnheiten aufbrechen, Gefühle verletzen, die Wahrnehmung des Realen irritieren und so den Vorstoß ins eigene Unbewusste ermöglichen.

    Dieser psychologische Aspekt, der heute wie selbstverständlich zur Kunst dazu gehört, war 1925 eine unerhörte Provokation, die nicht nur in der Galerie Pierre am Montparnasse für einigen Wirbel sorgte.