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Mit verbundenen Augen durch die Stadt

Eine Stadtführung mitmachen, ohne dabei etwas zu sehen? Das klingt zunächst ziemlich merkwürdig. Doch genau das ist es, was den so genannten Blind Walk in Köln ausmacht. Dabei begeben sich Touristen genauso wie Einheimische auf eine ungewöhnliche Entdeckungstour.

Von Julia Battist |
    "Wichtig, was man hier an diesen Rucksäcken zeigen sollte, ist, das ist der Griff zum festhalten. Genau. Das hier sind die Empfänger, die werden jetzt gleich ins Ohr getan.”"

    Katharina Zerfin gibt letzte Anweisungen, bevor es für die Teilnehmer des Blind Walk dunkel wird. Die 24-jährige Studentin führt heute eine Gruppe durch Köln. Über zwei Stunden lang werden sie freiwillig auf ihren Sehsinn verzichten.

    Es ist soweit: Liane Rapp zieht die Augenmaske über. Noch ist die 47-Jährige etwas unsicher.

    ""Was ganz komisch war, in dem Moment, in dem ich die Maske aufzog, wurd mir kälter. Also, indem ich die Sonne nicht mehr gesehen habe, wurd mir jetzt irgendwie gerad kälter. Also ich hab mich jetzt erstmal ordentlicher hingestellt, so mit beiden Füßen ordentlich auf den Boden, um gut zu stehen."

    Jeder hält sich am Rucksack seines Vordermanns fest. Blindes Vertrauen ist nun gefragt.

    "Hinter mir links hält mit rechts fest und rechts hält mit links fest. Gut dann gehe ich jetzt los auf drei mit dem rechten Fuß. Eins, zwei, drei.”"

    Ohne die Führerin und ohne den Griff zum Festhalten wären die orientierungslosen Teilnehmer wohl verloren. Einige Passanten bleiben neugierig stehen.

    ""Ich hab jetzt nur gerad geguckt, was das für spannende Menschen sind, die jetzt hier die ganzen Augen verbunden haben. Und was ist das? Ist das irgendwie ein Experiment oder sowas?”"

    Das weiß Axel Rudolph. Nach der "unsichtbar”, Deutschlands erstem Dunkelrestaurant, wo in völliger Dunkelheit gespeist wird, hat der Kölner Künstler jetzt den Blind Walk kreiert.

    ""Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit verschiedenen Projekten im Dunkeln. Und jetzt der Blind Walk ist der Versuch, dieses Erlebnis Dunkelheit aus diesen konstruierten, dunklen Räumen in das wirkliche Leben zu bringen. Es gibt ja hier viele zufällige Begegnungen mit den Passanten, man kann die Geräusche nicht vorhersagen und das ganze findet eben im normalen Alltagsleben statt.”"

    Doch dieses normale Alltagsleben ist plötzlich eine echte Herausforderung. Alles will neu entdeckt werden.

    ""Kommen die Leute näher, gehen die weiter weg? Sind die ne Bedrohung."

    ""Man hört sehr deutlich, wenn irgendwer irgendwo ne andere Sprache spricht. Oder die Gesprächsfetzen, man hört es irgendwie deutlicher.”"

    Zwischenstopp in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs. Fast klingt es so wie auf dem Gleis.

    ""Im Gegensatz zu allen anderen Bahnhöfen, die ich kenne in Deutschland, die eher geschlossen sind, ist der Kölner Hauptbahnhof offen und dementsprechend kann man – wie man jetzt hören kann – die Ansagen sehr gut hören.”"

    Mit offenen Ohren geht es weiter direkt in Kölns Wahrzeichen – den Dom. Die Blind Walk-Führerin Katharina Zerfin leitet die maskierte Gruppe an Touristenmassen vorbei, geradewegs Richtung Eingang.

    ""Ich werde danach eine Rechtskurve machen durch die Tür. Und die Leute bleiben stehen und gucken uns an. Ach, es ist Messe übrigens. Tschhh – ja.”"

    ""Die Choristen, die da gesungen haben, das fand ich unglaublich schön. Wenn ich Musik höre, mache ich eh oft die Augen zu. Und das im Dom - ich fand das unglaublich schön, auch gerade dadurch, dass man nichts gesehen hat und dann diese Akustik und so gehört hat. Das fand ich ganz toll.”"

    Aus sphärischen Klängen zurück ins pralle Leben. Vor einem Traditionsbrauhaus wird gerade das erste Kölsch im Freien getrunken. Die Gäste bestaunen die vermeintliche Blindengruppe.

    ""Ich find’s einfach wirklich toll, dass so die Möglichkeit gegeben wird, Blinden eine Stadt so zu ermöglichen. Ja man guckt hin auf jeden Fall, das ist auffällig." - "Ungewöhnlich.”"

    Die Köbese, so heißen Kölner Brauhauswirte, wundern sich über den Anblick.

    ""Sieht en bisschen bekloppt us, ne? Kannste ja sagen, wat de willst. Äwer: Warum nit, ne? Man muss sich och versetze in andere Leute mal, die nix sehen." - "Dat wär nix für mich. Dunkel. Unangenehm.”"

    Extrem langsam gehen die "Blinden" über eine alte Römerstraße, die in Köln ausgegraben und neu angelegt wurde. Unebene, unterschiedlich große Pflastersteine sind heute für die 29-jährige Mareike Voss ein Wagnis.

    """Das ist so lustig, weil man plötzlich überhaupt gar kein – man weiß nicht so richtig, wo man hintreten soll, sondern man muss irgendwie mehrmals nachtasten, wie der Untergrund überhaupt ist. Das ist ein ganz anderes Gehgefühl.”"

    In einer Passage neben dem Römisch-Germanischen Museum stehen nicht nur Straßenmusikanten, sondern auch archäologische Funde.

    ""Wenn man in Köln ein Loch gräbt, findet man was?" – "Römer." - "Irgendwas von den Römern, genau. Was halt sehr häufig gefunden wurde, wurde vom Römisch-Germanischen Museum nach draußen gestellt. Und das dürft ihr jetzt mal erfühlen. Zum Beispiel sind da Waffenfriese oder Stücke von Säulen.”"

    ""Ich weiß gar nicht, wo ich bin – ah, hier ist ein Loch, okay. Wieso ist das so versetzt? Das weiß man ja nicht. Und was – und da sind jetzt Sachen eingeschnitzt oder wie?”"

    Nach so vielen Sinneseindrücken gibt es ein Picknick – allerdings auch das im Dunkeln.

    ""Und das links, ich dachte erst das wär ne Wurst, aber es ist ein Croissant.”"
    Gar nicht so einfach. Trotzdem gibt die Pause Gelegenheit zum Rückblick.

    ""Man nimmt die Geräusche viel lauter wahr, als man sie wahrnimmt, wenn man sieht. Das finde ich ganz merkwürdig.”"

    Zwei und einhalb Stunden nach dem Start. Die "Blinden auf Zeit” nehmen ihre Augenmasken wieder ab.

    ""Fürchterlich hell. Fast schmerzhaft schon, frag mich nicht. Es ist irgendwie rot. Wir sind ja ganz weit oben." - "Du hast ganz rote kleine Augen." - "Ja, die waren ja zwei Stunden zu. Es ist verwirrend irgendwie, wenn du die Welt dann wieder siehst, finde ich. Es sind plötzlich so viele Eindrücke auf einmal. Vorher hast du dich immer auf die anderen Sinne konzentriert, und jetzt ist es zwar irgendwie sehr schön wieder schauen zu können, aber es irritiert auch irgendwie. Es ist irgendwie zu viel gerad.”"

    Das Sehen zu viel sein kann, hätte vorher sicher keiner der Teilnehmer geahnt. Mareike Voss ist um eine wichtige Erfahrung reicher.

    ""Ich fand es toll, zu merken, was meine Ohren alles wahrnehmen können, weil man mit so viel Zeugs zugeschüttet wurd. Das habe ich auch zwischendurch beim Laufen wahrgenommen, dass so viele akustische Reize da sind, die man gar nicht mehr wahrnimmt, weil man die normalerweise irgendwie ausblenden kann. Es wurde mir dann irgendwie anstrengend. Und als jetzt das Sehen wieder hinzu kam hatte ich das Gefühl, die Balance findet sich wieder. Und ich muss mich nicht nur da drauf verlassen. Das fand ich schön.”"