Dienstag, 19. März 2024

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Mitte-Studie
"Die Demokratie ist nicht am Ende ihrer Kräfte"

Laut der Mitte-Studie haben rechtspopulistische Einstellungen in Deutschland zugenommen. Der Politologe Albrecht von Lucke sagte im Dlf, es brauche mehr politische Bildung und ein Bewusstsein dafür, dass Demokratie nicht selbstverständlich sei.

Albrecht von Lucke im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 25.04.2019
Menschenmenge in einer Kölner Fußgängerzone
Wenn die Zweifel an der Demokratie wachsen, nimmt auch die Sehnsucht nach einem autoritären Führer zu, meint Albrecht von Lucke (imago stock&people)
Ann-Kathrin Büüsker: Über die Ergebnisse und die Auswirkungen dieser Entwicklungen möchte ich jetzt mit Albrecht von Lucke sprechen, Redakteur der politischen Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Guten Tag, Herr von Lucke!
Albrecht von Lucke: Guten Tag, Frau Büüsker!
Büüsker: Dass Teile der Gesellschaft in ihrer Orientierung stärker nach rechts tendieren, das muss ja erst mal nichts Schlimmes sein, trotzdem sind die Macherinnen der Studie durchaus besorgt, was die Erosion der politischen Mitte angeht. Wie berechtigt sind diese Sorgen aus Ihrer Sicht?
von Lucke: Ich meine, dass die Sorgen durchaus sehr berechtigt sind. Ich habe allerdings in der Tat ein Problem mit der Begrifflichkeit. Ich glaube, ein Begriff wie verlorene Mitte wird den Befunden dann doch nicht in seiner absoluten Dramatik gerecht, denn es ist ja – das hat Frau Geuther beschrieben – eine erstaunliche Steigerungslogik, die die Studie selbst zum Ausdruck bringt, von der fragilen Mitte zur gespaltenen Mitte zur verlorenen Mitte. Ich glaube, die anderen Befunde, fragile Mitte, vor allem auch gespaltene Mitte, sind weit richtiger als der Begriff der verlorenen Mitte, der ja dann fatalerweise auch den Eindruck erwecken könnte, als wäre letztlich tatsächlich Hopfen und Malz verloren. Das ist ganz ersichtlich nicht der Fall. Wir haben in Teilen und nach wie vor – die Mehrheiten wurden ja auch deutlich zum Ausdruck gebracht –, wir haben nach wie vor in großen Teilen eine Zustimmung zur Demokratie, aber – das ist ganz klar – es ist in der letzten Zeit, und das auch maßgeblich durch die Politik selber, eine zunehmende Abwendung von der Politik vonstattengegangen, und ich glaube, das ist bedrohlich, und es reicht weit in die Mitte hinein. Das sehen wir nicht nur an den Zustimmungen zum Rechtspopulismus, sondern wir sehen das auch in der Tatsache befestigt, dass auch in der Partei wie beispielsweise der CSU mit Begriffen operiert wurde, die "Herrschaft des Unrechts", wie einer "konservativen Revolution", all das sind Begriffe, die auch in der Mitte offensichtlich dazu geführt haben, dass Zweifel am Funktionieren unserer Demokratie entstanden sind.
"Kernproblem in der demokratischen politischen Mitte selbst"
Büüsker: Also die Akteure der Demokratie stellen selbst das Funktionieren der Demokratie infrage.
von Lucke: Absolut. Das war ja in den Jahren nach der Flucht – das ist ja der Zeitraum, in der diese Studie vor allem getätigt wurde –, also in den Jahren von 2016 bis 2018, das absolute Kernproblem eigentlich in der demokratischen politischen Mitte selbst, dass wir exemplarisch in der CDU/CSU eine Debatte hatten, die die Institutionen der Demokratie selber untergraben hat. Also wenn wir an den Begriff der "Herrschaft des Unrechts" denken, ausgesprochen interessanterweise ja vom CSU-Parteivorsitzenden Horst Seehofer selber, mit dem er die eigene Regierung anging und dann keine Konsequenzen zog, also dann auch nicht die CSU aus dieser Regierung abzog, dann kann natürlich bei einem Teil der Bevölkerung der fatale Befund entstehen. Und dieser Befund ist ja neu in dieser Studie, er wird auch zum ersten Mal erhoben, dass wir es zunehmend mit einer Abwendung sowohl von der Politik, aber auch von den Medien zu tun haben, dass der Eindruck entsteht – Sie haben es vorhin auch in dem Beitrag zum Ausdruck gebracht –, dass ein Großteil mittlerweile sich fremdbestimmt glaubt, auch von Teilen des "Systems" – ein ganz fataler Begriff – nicht mehr vertreten glaubt, und das geht dann schon an den Kern der Demokratie.
Büüsker: Aber warum ist das schlimm?
von Lucke: Na ja, es ist dramatisch, wenn die Bevölkerung nicht mehr den Eindruck hat – und es sind ja ersichtlich sogar über 50 Prozent gelagerte Anzahlen der Bevölkerung –, nicht mehr den Eindruck hat, dass die demokratischen Institutionen, also die Parlamente, aber auch nicht die Medien der Mehrheit oder überhaupt der Meinungsvielfalt Ausdruck verleihen, sondern von etwas ausgehen wie Steuerung. Das war ja auch die neue Erhebung, die zum Ausdruck kommt, dass hohe Anteile der Meinung sind, es steckt so etwas wie Steuerung hinter der Öffentlichkeit. Wenn das greift, dann wird irgendwann der Zweifel an der Demokratie so groß werden können, dass der Wunsch nach einem autoritären Führer dann umso mehr wächst. Das haben wir auch übrigens weniger in dieser Studie, aber in anderen Studien erlebt, dass zum Ausdruck kommt, dass der Zweifel an dem Funktionieren der Demokratie immer größer wird und dass dann die Sehnsucht nach dem autoritären Führer gleichermaßen wächst.
Was versteht wer unter Demokratie?
Büüsker: Ist das nicht ein kleines bisschen überdramatisiert?
von Lucke: Nein, das ist keineswegs überdramatisiert. Das geben ja nicht nur die Neue-Mitte-Studien oder die Studien hier, die Mitte-Studien der FWS, wieder, sondern es sind andere Studien, die deutlich machen, übrigens interessanterweise auch in der jungen Generation, bei der wir ja einerseits sehr erfreut sind über die neue zunehmende demokratische Mitbeteiligung, dass übrigens um die 30 Prozent allergrößte Zweifel am Tauglichkeitswert der Demokratie haben und dazu tendieren, dass es wieder eines starken Mannes bedarf, der Machtworte spricht. Dieses Phänomen, das spricht diese Studie ja auch zu Recht an, dass obwohl wir 86 Prozent der Zustimmung zur Demokratie haben, dass zunehmend nicht mehr klar ist, was unter Demokratie verstanden wird. Das ist ein Problem für die liberale Demokratie als solche. Wenn nämlich die Frage auftaucht, ob es vielleicht eine andere Demokratie geben könnte, in der ein autoritärer Führer, wie es beispielsweise Viktor Orbàn mit der illiberalen Demokratie für sich reklamiert, ein Einzelner die Volksmeinung zum Ausdruck bringt, dann ist das im Kern etwas völlig anderes als das, was wir als liberale pluralistische Demokratie begreifen. Das bringt diese Studie zum Ausdruck –, diese Zustimmung erodiert jedenfalls zum Teil.
Büüsker: Und wenn dieses politische System an Glaubwürdigkeit verliert, wie gelingt es diesem System, dann tatsächlich noch die Menschen zu erreichen und vom Gegenteil zu überzeugen?
von Lucke: Das ist wirklich die entscheidende und kardinale Frage, die wir uns alle stellen müssen. Wir wären ja naiv, wenn wir einfach nur den Befund aus dieser Studie tätigen, zu behaupten, es wäre alles in Ordnung. Nein, es gibt natürlich auch signifikante Probleme, die die Demokratie in den letzten Jahren angehen musste und die sie zum Teil nicht bewältigt hat. Also neben dem Umstand, dass wichtige Akteure der Demokratie diese selber in Misskredit gebracht haben – und übrigens nicht nur die AfD, sondern auch Teile der gestandenen Mitte –, gibt es natürlich ungeheure Probleme dieser Gesellschaft, die sich in gewaltigen großen Fragen manifestieren. Das ist auf der einen Seite der Einbruch der Globalisierung, beginnend 2001 mit dem großen Terror, den wir auch gegenwärtig wieder erleben, einer Chaotisierung, einer neuen Unübersichtlichkeit. Dann aber die Finanzkrise von 2008, die die große Frage aufgeworfen hat, ist die Demokratie überhaupt noch zur Hegung des Kapitalismus in der Lage, bis zur Frage dann, da bricht dann die Globalisierung der menschlichen Bewegungsfreiheit ein, also der Frage von 2015, ist die Demokratie noch in der Lage, diese neuen Bewegungen, die Fluchtbewegungen zu handeln. Wenn in diesem Augenblick auch in Europa mit Blick auf die Wahlen am Ende des kommenden Monats eine völlig neue Strömung aufbricht mit Viktor Orbàn, Herr Salvini und anderen an der Spitze, die sagt, wir brechen da raus, wir wollen zurück in die Retropolitik autoritärer Art in Nationalstaaten, dann muss sich die Demokratie natürlich in Europa etwas einfallen lassen. Dann muss sie unter Beweis stellen, dass sie mit den großen Problemen anders und erfolgreicher umgehen kann, als es die Nationalisten für sich reklamieren.
"Nicht zu eskalierend einen Diskurs betreiben"
Büüsker: Und wie hilfreich ist es da, nur die Probleme zu benennen und immer wieder herauszustellen, statt vielleicht auch eigene positive Ideen zu entwickeln, also Utopien einer positiven Zukunft? Die sieht man ja derzeit in der Politik kaum.
von Lucke: Da haben Sie völlig recht, aber immerhin macht die Studie dergleichen. Die Studie versucht ja deutlich zu machen – und da hat sie natürlich völlig recht –, dass es im Kern einerseits eine ungemeine Aufklärungsnotwendigkeit gibt, also die Erfordernis von wesentlich mehr politischer Bildung. Es muss auch wieder so etwas existieren wie ein Krisenbewusstsein, was es interessanterweise in der alten Bonner Republik weit stärker gab. Damals war man sich nicht so sicher, dass diese Republik auf Dauer gestellt wird. Dieses Krisenbewusstsein, die Anfälligkeit, die Gefährdung von Demokratie, das ist meines Erachtens nach 1989 sehr stark verloren gegangen, dass es also immer so etwas bedarf wie die Verständigung von Demokraten auf die Notwendigkeit des eigenen Einsatzes und der Beteiligung an den Institutionen. Insofern, meine ich, gibt zumindest die Studie damit der Forderung nach politischer Bildung einen Auftrag. Und dieser Auftrag, das kann man ja als Ausklang vielleicht durchaus positiv begreifen, dieser Auftrag wird in der Politisierung, wie es beispielsweise Fridays for Future betreibt, die ja auch dann wieder Gegenreaktionen zeitigen, wo aber so etwas stattfindet wie Austausch über die großen Herausforderungen der Demokratie auch im globalen Maßstab. Dieser Aufforderung wird insofern von der jungen Generation zumindest angegangen, und darin kann man dann wieder auch ein positives Zeichen sehen.
Büüsker: Und trotzdem fokussieren wir – und damit meine ich uns als Medien – uns ja ganz oft auf die negativen Aspekte, auch jetzt mit Blick auf diese Studie. Machen wir uns damit vielleicht auch zum Teil des Problems?
von Lucke: Ja, ich würde zumindest – das war ja auch mein Eingangswort – sagen, wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu eskalierend einen Diskurs betreiben. Ich halte deshalb den Begriff der verlorenen Mitte auch für zu scharf. Ich sagte es bereits eingangs. Denn dieser Begriff, da muss man sehr aufpassen, kann ja fast dazu verleiten, dass man eher in Apathie verfällt und den Eindruck hat, es ist alles verloren. Das ist beileibe nicht der Fall. Unsere Demokratie, ich würde es immer so sagen, ist ein Stück weit in den letzten Jahren verunglückt. Es war vor zehn Jahren das große Wort im Umlauf, wir haben es mit einer geglückten Demokratie zu tun. Das war so etwas wie die Suggestion, wir sind am Ende der Geschichte angelangt, die Demokratie ist auf Dauer und ewig gesichert. Das halte ich für ausgesprochen zu optimistisch. Schon damals war ich im Zweifel. Heute würde ich sagen, die Demokratie ist ein Stück weit auch in der Gesinnung ihrer Bürger verunglückt, aber sie ist damit beileibe nicht am Ende ihrer Kräfte. Nein, diese Mitte in Deutschland ist weiterhin im Kern demokratisch gewogen, aber sie muss sich weit stärker wieder einbringen in Parteien, in der Zivilgesellschaft und damit auch die demokratischen Institutionen stärken. Dann werden wir mit dem Rechtspopulismus zurande kommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.