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"Mitteilungsblatt"
Das Sprachrohr der deutschen Juden in Palästina

Von Otto Langels | 27.07.2015
    Rund 60.000 deutschsprachige Juden flohen nach 1930 vor dem Nationalsozialismus nach Palästina, wo sie jedoch keineswegs mit offenen Armen empfangen wurden. Denn in den Augen der dort bereits ansässigen Zionisten suchten sie nicht aus religiösen Motiven, sondern aus Not und Verzweiflung Zuflucht. Diese Juden seien nicht aus Überzeugung, sondern aus Deutschland gekommen, hieß es abschätzig. Tatsächlich strandeten viele Emigranten in Palästina, weil sie woanders keine Aufnahme gefunden hatten. Die Ankunft war, so Klaus Hillenbrand, ein Kulturschock und mit sozialem Abstieg verbunden.
    "Menschen, die vorher als Anwälte gearbeitet haben oder als Ärzte, waren gezwungen, nun Bücher zu verkaufen, in Leihbüchereien zu arbeiten oder als Würstchenverkäufer oder Bauarbeiter tätig zu werden. Zum Zweiten war es sehr, sehr schwierig für viele von ihnen, die Sprache zu lernen."
    In einer instruktiven Einführung zu seinem Buch beschreibt Klaus Hillenbrand detailliert, wie schwer es den spöttisch "Jeckes" genannten Neuankömmlingen fiel, in der fremden, unwirtlichen Gegend Fuß zu fassen. Einige gründeten 1932 das deutschsprachige "Mitteilungsblatt" als Sprachrohr der deutschen Juden in Palästina. Stichwortartig beschrieb die Redaktion die verzweifelte Situation vieler Einwanderer.
    "Einst Großkohlenhändler, 55 Jahre alt, durch langen Aufenthalt im Konzentrationslager völlig entkräftet. Frau schwer krank, versucht durch Zigarettenhandel einige Piaster täglich zu verdienen. - Einst hoher Richter. Seine Rente wird seit einem Jahr nicht mehr transferiert. Sein und seiner Frau hohes Alter machen jede Arbeitssuche aussichtslos. Die letzten Wertstücke sind verkauft."
    Mit Tipps und Ratschlägen versuchte die Redaktion bei der Arbeits- und Wohnungssuche zu helfen, aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt. In Kleinanzeigen kam die ausweglose Situation vieler Neuankömmlinge zum Ausdruck.
    "Ich flehe Sie an, mir zur Gründung einer kleinen Existenz zu verhelfen. Ich bin 56 Jahre alt und meine Frau 54. Ich war ein angesehener Kaufmann. Ich fühle deutlich, dass ich die furchtbare wirtschaftliche und damit verbundene seelische Not meines Lebens nicht mehr lange werde ertragen können."
    Das "Mitteilungsblatt" war jedoch mehr als ein Ratgeber, es war kulturelles Forum und politische Stimme der deutschsprachigen Minderheit zugleich. Zu ihren besten Zeiten erreichte die Wochenschrift mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren bis zu 30.000 Leser und damit die Hälfte der "Jeckes".
    "Es war eine sehr, sehr wichtige intellektuelle Stimme für sie, und es war für sie auch eine sehr wichtige Stimme bei der Frage der Konfrontation mit der Vergangenheit, mit dem, was aus Deutschland nach dem Krieg werden sollte. Und dort schrieben sehr geachtete Intellektuelle, es war das Gegenteil irgendeines Vereinsblättchens. Da schrieb Max Brod, da war Arnold Zweig vertreten, Gershom Scholem hat Texte verfasst."
    Allerdings sind bis auf Gershom Scholem prominente Autoren des "Mitteilungsblattes" in der Textauswahl nicht vertreten, wie auch nur Beiträge über die Reisen durch Deutschland aus der Zeit nach 1945 abgedruckt wurden. Dabei wären gerade Reportagen über den schwierigen Neuanfang in Palästina reizvoll gewesen. Insofern ist der Titel des Buches "Fremde im neuen Land" leicht irreführend. Klaus Hillenbrands Interesse gilt dem Blick der deutschen Juden auf ihre alte Heimat. Bereits kurz vor dem Ende des NS-Regimes schickte die Redaktion des "Mitteilungsblattes" Reporter nach Europa.
    "Weil man auch wissen wollte, wie es wirklich zugeht, hat man sehr sehr früh Reporter in die Region geschickt - zunächst zum Beispiel nach Italien und später nach Deutschland selbst. Die Jeckes, die dort nach Deutschland gekommen sind, waren ja intime Kenner der Szene. Die kannten sich ja perfekt aus."
    "Tritt in eine der deutschen Großstädte ein, blicke rechts und links, beobachte die Menschen, lass Dir über ihr Leben erzählen - und Du wirst alsbald die beruhigende Erkenntnis gewinnen, dass die Deutschen geschlagen worden sind und nun auch ein wenig davon kosten müssen, was ihre Söhne in aller Welt Millionen Menschen angetan haben", schrieb der aus Prag geflohene Journalist Hans Lichtwitz im Oktober 1945. "Millionen deutscher Männer sind in Kriegsgefangenschaft - schon viele Monate gibt es keine Lebenszeichen von ihnen. Unheimlich viele verkrüppelte junge Menschen, mit einem Fuß oder einer Hand, sieht man auf den Straßen."
    Für die Reporter war es eine Reise in die eigene Vergangenheit, eine Spurensuche in einem städtebaulich und intellektuell verwüsteten Land. Sie gingen der Frage nach, ob die Deutschen immer noch vom Nationalsozialismus infiziert waren, sie stellten Vermutungen an, was aus Deutschland und den letzten überlebenden Juden werden würde.
    "Es hat sehr hohe journalistische Qualität. Das Erstaunliche, was ich wirklich überraschend fand, war, wie wenig diese Texte tatsächlich verloren haben nach 70 Jahren. Sie sind immer noch aktuell."
    "Deutschland, das besiegte, ist ein Schulbeispiel dafür, was Niederlage und ihre Auswirkungen, Unterjochung und ihre Folgen in der Neuzeit heißen", berichtete Hans Tramer 1950 aus Frankfurt am Main und zog Vergleiche zum eher ärmlichen Palästina. "Kommt man heute nach Deutschland, so hat man rein äußerlich den Eindruck, ein Siegerland zu besuchen. Die Läden sind zum Brechen voll. Wie Deutschland, wie der einzelne Deutsche den Krieg und was ihm voranging, ungeschehen machen möchte, so baut man. Wo eine Fassade nur irgendwie erhalten ist, baut man um sie herum das Gebäude in seinen alten Formen wieder auf."
    Die Reporter des "Mitteilungsblattes" kehrten von ihren Erkundungsreisen nach kurzer Zeit wieder nach Palästina beziehungsweise Israel zurück. Keiner wollte im Land der Täter bleiben. Mit ihren Prophezeiungen lagen die Autoren des "Mitteilungsblattes" manchmal falsch, was aber angesichts der Wirren der Nachkriegszeit nicht überrascht. Ihre eindrucksvollen Reportagen, die Klaus Hillenbrand für sein klug kommentiertes Buch ausgewählt hat, sind dennoch auch heute noch lesenswert.
    Klaus Hillenbrand: "Fremde im neuen Land. Deutsche Juden in Palästina und ihr Blick auf Deutschland nach 1945", S. Fischer Verlag, 416 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-100-33850-1.