Donnerstag, 25. April 2024

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Mittelalterliches aus Prag
Alternative Weihnachts-CD

Barbora Kabátková und ihr Tiburtina-Ensemble haben in böhmischen Handschriften aus dem 12. bis 15. Jahrhundert geblättert. Sie sind auf ein erstaunlich nuancenreiches Repertoire fernab des weihnachtlichen Mainstreams gestoßen. Damit laden sie ein zum Weihnachtsgottesdienst nach Prag.

Am Mikrofon: Helga Heyder-Späth | 26.12.2019
    Das Ensemble Tiburtina steht in einem Halbkreis in einem Keller-Gewölbe, die 9 Sängerinnen tragen schwarze Konzertkleidung. Die Leiterin vorne in der Mitte, Barbora Kabátková, pustet bunte Blätter in die Luft
    Das Ensemble Tiburtina wurde 2008 in Prag gegründet und wird von Barbora Kabátková geleitet (Vojtěch Havlík)
    Strahlende Trompeten, liebliche Engelschöre und volkstümliche Hirtenmusiken – diese Klänge verbindet man gemeinhin mit der Weihnachtszeit. In unterschiedlicher Stilistik und Qualität war all das in den letzten Tagen und Wochen auf Weihnachtsmärkten, im Radio und sicher auch in vielen Wohnzimmern allgegenwärtig. Die Bandbreite an bekannten und weniger bekannten Weihnachtsmusiken ist unüberschaubar, und Jahr für Jahr kommt eine Fülle an neuen Produktionen dazu.
    Eine etwas andere Weihnachts-CD ist jetzt beim Label Ricercar erschienen. Das Tiburtina Ensemble, eine reine Frauenformation, lädt ins mittelalterliche Prag ein.
    Musik: Anonymus: Benedicam Puer natus in Bethlehem
    Dieser Lobgesang zu Ehren des "kleinen in Bethlehem geborenen Jungen" ist höchst wahrscheinlich im 14. Jahrhundert zu Weihnachten im Benediktinerinnenkloster St. Georg in Prag erklungen. Erhaben über der Stadt liegt es in unmittelbarer Nähe des Veitsdoms. Im Jahr 921 wurde die Kirche Sankt Georg geweiht, 976 entstand dort das erste Benediktinerinnen-Kloster in Böhmen.
    Diese lange Geschichte spürt man auch in den liturgischen Gesängen, die Barbora Kabátková, die Leiterin des Tiburtina Ensembles, für ihre Prager Weihnachts-CD ausgewählt hat. Fündig wurde sie unter anderem in den erhaltenen Handschriften aus dem Kloster und dem Prager Domkapitel sowie in anderen mittelalterlichen Quellen aus Böhmen.
    Der Innenraum der Basilika St. Georg in Prag
    Die Basilika St. Georg auf der Prager Burg. Die ehemalige Benediktinerinnen-Abtei war das erste Kloster in Böhmen (imago stock&people)
    Aus dem Herzen Europas
    Die Gesänge wurden im 12. bis 15. Jahrhundert aufgeschrieben – einige könnten aber durchaus älter sein. Der Booklettext deutet an, dass die Prager Benediktinerinnen offen für die vielseitigen europäischen Einflüsse waren, die das kulturelle Leben Prags schon im Mittelalter prägten. Nicht umsonst wurde die Stadt immer wieder als "Cor Europae", als "Herz Europas" bezeichnet. In Anspielung darauf hat das Tiburtina Ensemble auch seine CD "Cor Europae" genannt.
    Dass Musik schon im 12. Jahrhundert ihren Weg vom Süden Frankreichs bis nach Böhmen fand, belegen die Einflüsse aus Aquitanien, die sich in einigen Gesängen finden, wie in dem "Kyrie – Creator pater increate". In die an sich schlichte Bitte um Erbarmen sind hier als so genannter "Tropus" musikalisch wie textlich freiere Passagen eingefügt, deren reiche Melodik von großer Sinnlichkeit sind – vor allem in der Interpretation von Tiburtina:
    Musik: Anonymus: Kyrie Creator pater increate
    2008 hat sich das Tiburtina Ensemble in Prag gegründet. In einer reinen Frauenbesetzung widmet es sich vor allem dem Gregorianischen Gesang und der mittelalterlichen Mehrstimmigkeit, hat aber auch zeitgenössische Musik im Repertoire.
    Diesmal hat Ensembleleiterin Barbora Kabátková ihre drei Kolleginnen Hana Blažíková, Tereza Havlíková und Daniela Čermáková um sich geschart – eine glückliche Zusammenstellung: Alle vier singen mit großer Klarheit und sind stimmlich ideal aufeinander eingespielt. Auch in jenen Passagen, die sie gemeinsam im Unisono ausführen, scheinen sie "mit einer Stimme" zu singen. Das ist durchaus beeindruckend!
    Fließende Melodien und erstaunliche Nuancen
    In der heutigen Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik ist die Verwendung von Instrumenten und Schlagwerk üblich geworden. Das Tiburtina Ensemble verzichtet ganz und gar darauf.
    Zugegeben, man muss die ruhig fließende Geste der Gregorianik mögen und auch ein gewisses Faible für reine Frauenensembles haben, um diese CD schätzen zu können. Aber was zunächst vielleicht etwas monochrom und puristisch wirken mag, wird bestechend, wenn man sich darauf einlässt. Es öffnet die Ohren für die Schönheit der alten Melodien und für ihren erstaunlichen Reichtum an musikalischen Nuancen.
    Geschickt sind in das Programm immer wieder mehrstimmige Stücke eingeschoben, die im Umfeld der weich fließenden Einstimmigkeit dann geradezu spektakulär wirken. Dazu gehören drei Lectiones, also Lesungen, für die weihnachtlichen Stundengebete, die in Prager Handschriften aus dem 14. Jahrhundert überliefert sind.
    Musik: Anonymus: Lectio Primo Tempore
    Diese Aufnahme ist in der Stiftskirche Sankt Jakobus des ehemaligen Zisterzienserklosters in Prag entstanden. Die verfügt über eine günstige Akustik mit einem nicht zu langen Nachhall, der einerseits die Sängerinnen trägt, andererseits ein klares und direktes Klangbild erlaubt, das der Produktion ihre unmittelbare Wirkung verleiht.
    Unprätentiöse und strahlkräftige Stimmgebung
    Die vier Sängerinnen können mit einer unprätentiösen, aber strahlkräftigen Stimmgebung glänzen, die immer eine angenehme Weichheit behält.
    Und so gelingt es ihnen, auch mit diesen alten, manchmal vielleicht fremd wirkenden Melodien bisweilen eine ganz individuelle weihnachtliche "Wohlfühlatmosphäre" zu erzeugen; sicher auch, weil sich gelegentlich volkstümlich anmutende Klänge finden, etwa in der kurzen Cantio "Gaude quam magnificat". Deren Melodie wurde zum Ausgangspunkt für eine vierstimmige Vertonung des Sanctus aus dem Mess-Ordinarium. Das Tiburtina Ensemble stellt Vorlage und Bearbeitung einander gegenüber:
    Musik: Anonymus: Cantio Gaude quam magnificat - Sanctus super Gaude quam magnificat
    Dieses vierstimmige "Sanctus super Gaude quam magnificat" lehnt sich stilistisch an ein "Organum" an; eine frühe Form der Mehrstimmigkeit, die sich bereits im 11. Jahrhundert in Paris entfaltete. Das Stück ist aber in einer Prager Quelle aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Die stammt also aus einer Zeit, in der sich in weiten Teilen Europas schon ein modernerer Motetten-Stil etablierte, wie ihn vor allem Guillaume Dufay prägte. Da war man in Prager Klöstern und Kirchen offensichtlich eher konservativ. Dennoch wird diese Musik damals innerhalb einer Prager Weihnachtsliturgie mit ihren überwiegend einstimmigen Gesängen ihre Wirkung nicht verfehlt haben.
    Alte und zugleich neue weihnachtliche Klangfarben
    Im Booklet werden zwar einige der Quellen, aus denen die einzelnen Stücke stammen, mit ihren Bibliotheks-Kürzeln angegeben. Bisweilen wären aber etwas detailliertere Informationen wünschenswert gewesen. So bleiben sowohl eine genauerer zeitliche Einordnung der Gesänge als auch ihre inhaltliche Bedeutung innerhalb einer Prager Weihnachts-Liturgie des Spätmittelalters oft etwas vage. Das ist schade und ein echter Wermutstropfen, weil es ein tieferes Verständnis der Musik erschwert.
    Davon abgesehen ist diese CD sehr empfehlenswert, vor allem für diejenigen, die neben allen liebgewonnenen Weihnachtsmusiken, gerne einmal andere, alte und zugleich neue weihnachtliche Klangfarben kennenlernen möchten.
    Als besonders reizvolles Kleinod haben die vier Sängerinnen von Tiburtina an den Schluss ihres Programmes eine dann doch recht modern wirkende vierstimmige Motette aus dem 15. Jahrhundert gestellt. Sie kombiniert gleich vier lateinische Texte, die die Geburt Christi von verschiedenen Seiten beleuchten. Einer dieser Texte eröffnet sehr sinnreich mit den Worten "Exordium quadruplate": "Vervierfacht den Beginn…"
    Musik: Anonymus: Motette Exordium quadruplate
    "Cor Europae" – so hat das Tiburtina Ensemble seine jüngste Produktion genannt, in Anspielung darauf, dass Prag in seiner Geschichte immer wieder als "Herz Europas" bezeichnet wurde. Die vier Sängerinnen des Ensembles, Hana Blažíková, Tereza Havlíková, Daniela Čermáková und Barbora Kabátková, präsentieren darin Weihnachtsmusik aus dem mittelalterlichen Prag. Die CD ist beim Label Ricercar erschienen und in Deutschland unter anderem über den Vertrieb Note 1 zu erhalten.
    Cor Europae
    Christmas in mediaeval Prague
    Gregorianik und frühe mehrstimmige Gesänge
    Tiburtina Ensemble
    Leitung: Barbora Kabátková
    Label: Ricercar