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Mitzvah Day
Deutsche Juden helfen muslimischen Flüchtlingen

Die Idee entstand vor 20 Jahren in den USA: Juden sollten sich einmal im Jahr – freiwillig und öffentlich – für Hilfsbedürftige einsetzen. Seit drei Jahren gibt es den "Tag der guten Taten", den Mitzvah Day, auch in Deutschland. Er wurde gestern bundesweit von 2000 Juden begangen. Dabei setzten sich auffallend viele für die syrischen Flüchtlinge ein.

Von Jens Rosbach | 16.11.2015
    Der Präsident des Zentralrats der Juden, Schuster, verteilt im Rahmen des Mitzvah Day Essen an die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin.
    Der Präsident des Zentralrats der Juden, Schuster, verteilt im Rahmen des Mitzvah Day Essen an die Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin. (picture alliance /dpa Jörg Carstensen)
    Die Flüchtlingskinder strahlen: Denn heute gibt es in ihrer öden Notunterkunft, einer abgewetzten Turnhalle, ein Fest. Sie dürfen Fußball spielen, Helium-Luftballons steigen lassen und ihre Gesichter bunt anmalen. Die Kleinen und ihre Eltern stammen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Das Besondere: Die zumeist muslimischen Asylsuchenden werden von Berliner Juden betreut. Wie von Marco Limberg, einem 51-jährigen Grafiker.
    "Ich helfe den Flüchtlingen hier, weil ich der Meinung bin, dass nur die Hilfe von Mensch zu Mensch etwas bewirken kann. Wenn ich mir hier die Leute und die Kinder und die Frauen angucke – das sind halt Menschen, die genauso vor dem IS geflohen sind, wie wir Juden damals vor den Auswirkungen des Nationalsozialismus fliehen mussten. Und das stellt doch so eine gewisse Solidarität her."
    Limberg arbeitet bei der Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine"; am "Mitzvah Day" engagiert er sich in einer Notunterkunft in Berlin-Prenzlauer Berg. Die insgesamt rund zwei Dutzend Helfer, die allesamt ein grünes T-Shirt tragen, sind betroffen von der Situation der Kriegs- und Terroropfer, die kürzlich nach Deutschland kamen.
    "Die Kinder fangen schon an wieder zu lachen, aber die Erwachsenen sind immer noch angespannt, ihre Gesichter sind grau. Wenn die Leute miteinander reden, reden sie in schnellen kurzen Sätzen, sie geben den Kindern nur Anweisungen, sie lachen fast nicht. Ich glaube, man sieht, dass die Leute an das schreckliche Erlebte zurückdenken."
    Firas Abou Rabiyeh trägt ein dunkles Basecap, einen braunen Parka und einen schwarzen Bart. Der 38-Jährige ist aus Zentralsyrien geflohen – zusammen mit drei kleinen Kindern. Mit leiser Stimme und verkrampften Fingern erzählt er von seinem Leid. Eine Sozialarbeiterin übersetzt.
    "Ich bin mit meinen drei Kindern einkaufen gegangen und meine Frau und ein kleines Kind sind zu Hause geblieben. Und das Haus wurde bombardiert. Und als wir gekommen sind, waren sie schon gestorben."
    Abou Rabiyeh berichtet von Bomber-Flugzeugen russischen Typs, von nächtlichen Märschen, gierigen Schleppern und einem maroden Schlauchboot im Mittelmeer. Heute, nach monatelanger Flucht, lebt er in der Berliner Notunterkunft in einem Saal mit 50 Liegen, ohne Trennwände. Seine Kinder seien traumatisiert, sagt er, sie nässten nachts ein und fielen aus den Betten. Dankbar sei er den Helfern hier, auch wenn sie alle einer anderen Religion angehörten.
    "Ich schäme mich dafür"
    "Derjenige, der mich – oder meine Frau umgebracht hat – war Muslim. Und alle, die uns geholfen haben, sind keine Muslime. Und diejenigen, die helfen, sind Juden jetzt. Und auch Christen. Also gar keine, die zum Islam gehören."
    Der Flüchtling ist entsetzt von den jüngsten Terroranschlägen in Paris – und dass womöglich auch ein Landsmann von ihm, ein radikalislamistischer Syrer, die sogenannten westlichen "Ungläubigen" mit umgebracht hat.
    "Ich schäme mich dafür und wir sollen einfach unsere Meinung ändern. Die Deutschen, die Franzosen – alle, die Nichtmuslime sind, die wissen, was Gott ist."
    Hannah Dannel organisiert beim Zentralrat der Juden bundesweit die Aktivitäten am Mitzvah Day. In diesem Jahr gab es über 120 Projekte in 40 Städten – jedes dritte war Flüchtlingen gewidmet. Dannel, 43 Jahre alt, packt selbst mit an: etwa indem sie Hummus-Brote verteilt – eine kulinarische Brücke zwischen den Kulturen.
    "Hummus – das wird ja manchmal belächelt, dieser Kichererbsenbrei. Aber tatsächlich mögen den Juden in Israel und auch in Deutschland und Palästinenser essen auch ihren Hummus täglich und ich habe hier jetzt schon ein paar Leute gefragt – sie freuen sich sehr!"
    Die Aktivistin weiß, dass in den jüdischen Gemeinden hierzulande auch viel Angst herrscht angesichts der jüngsten Flüchtlingswelle. Schon Wochen vor den Anschlägen in Paris wurde gemutmaßt, ob nicht auch Antisemiten unter den Asylsuchenden sind – oder gewaltbereite Jugendliche. Dennoch hilft Hanna Dannel, demonstrativ.
    "Ich denke, das schließt sich nicht aus. Man kann Angst haben – oder sagen wir mal Besorgnis – aber es gibt auch so einen inneren Kompass, den die Religionen geben: Dass man Leuten, die in Bedrängnis sind, hilft. Im Judentum ist diese Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, dass wir selber auch mal Fremde waren, ganz zentral. Und so kann man was tun!"
    In der Berliner Notunterkunft wird gelacht und später sogar getanzt – geschützt von zahlreichen schwarz gekleideten Sicherheitskräften. An diesem Tag sind besonders viele Wachleute im Einsatz. Denn auch der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, teilt Hummus, Saft und Salzstangen an die Flüchtlinge aus. Der Spitzenfunktionär hat keine Angst vor Anschlägen hierzulande und auch nicht überlegt, den Mitzvah Day abzusagen.
    "Also wegen der Ereignisse in Paris gab es keine Überlegung. Es gab kurz die Frage, ob von Seiten der Sicherheitsbehörden hier eine Problematik gesehen wird. Das wurde in meinen Augen berechtigterweise nicht. Ich denke, wir dürfen uns unser Leben, unsere Aktivitäten, durch Terroristen nicht kaputt machen lassen."
    Narjess Rahmani gilt als "gute Seele" der Flüchtlingsunterkunft. Die tunesisch-stämmige Sozialarbeiterin spricht Arabisch, übersetzt viele Gespräche und nimmt dabei mitunter religiöse Vorbehalte der Zuwanderer wahr. Persönliche Begegnungen zerstreuten die Klischees allerdings schnell, betont die studierte Kulturwissenschaftlerin. Dies habe sie bereits vor dem jüdischen Freiwilligentag beobachtet – als Christen die Muslime eingeladen haben.
    "Am Anfang war es so ein Schockeffekt: Wie? Wir gehen in die Kirche zu Kaffee und Kuchen? Die waren erst mal ... die hatten Abstand, ne. Und dann sind sie doch hingegangen, gab es einen Austausch gemütlichen Nachmittag. Und dann kamen sie hier voller Freude. Und dann ist das so ein positiver Effekt."