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Friedrich von Borries, Jens-Uwe Fischer: „Gefangen in der Titotalitätsmaschine - Der Bauhäusler Franz Ehrlich“
Moderner Minimalismus aus dem KZ

Das Funkhaus in der Nalepastraße in Berlin ist sein berühmtester Bau, die Möbelserie 602 ein deutscher Klassiker der Inneneinrichtung. Franz Ehrlich ist 38 Jahre nach seinem Tod aber nicht nur als Architekt, Designer und Künstler bekannt, sondern auch aufgrund seiner bewegenden Lebensgeschichte.

Von Julian Ignatowitsch | 25.07.2022
Buchcover: Friedrich von Borries, Jens-Uwe Fischer: „Gefangen in der Titotalitätsmaschine - Der Bauhäusler Franz Ehrlich“. Im Hintergrund: ein sonnendurchfluteter Gang im Funkhaus Berlin in der Nalepastraße in Berlin. Das Rundfunkzentrum, ein Ensemble bestehend aus Funkhaus, Studiogebäude, Nebengebäude und Werksgarten, wurde Anfang der 1950er Jahre nach den Plänen von Franz Ehrlich und Gerhard Probst errichtet.
Das Berliner Rundfunkzentrum, bestehend aus Funkhaus, Studiogebäude, Nebengebäude und Werksgarten, wurde Anfang der 1950er Jahre nach den Plänen von Franz Ehrlich und Gerhard Probst in der Nalepastraße errichtet. Jetzt haben Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer Ehrlichs hochinteressante Biografie verfasst. (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrundfoto: (c) Jens Kalaene dpa)

Man muss immer wieder an den Spruch vom „kleinen Rädchen im Getriebe“ denken, wenn man die erste monographische Biografie über den Architekten, Designer und Künstler Franz Ehrlich liest:
„Ehrlich war in seinem Leben verschiedenen sozialen und politischen Strukturen mit totalem beziehungsweise totalitärem Anspruch unterworfen. Und er hat sich zeitlebens mit Maschinen beschäftigt, die für ihn Sinnbild der Funktionsweise von Gesellschaft waren (…) Sein ganzes Leben musste er sich immer wieder zu den verschiedenen Totalitätsmaschinen, von denen er abhängig war, positionieren - teilweise unter Lebensgefahr.“

Totalitätsmaschinen

Die Totalitätsmaschinen, von denen im Buch fortwährend die Rede ist, sind „Bauhaus“, „Nationalsozialismus“ und „DDR“ (am extremsten und für die Biografie Ehrlichs aufschlussreichsten sicher der Nationalsozialismus). Das Wortspiel der „Titotalitätsmaschine“, im Buchtitel, geht auf Ehrlich selbst und eine Zeichnung zurück, in der er die Vernichtungs- und Herrschaftsinstrumente im Konzentrationslager Buchenwald zu skizzieren versuchte, erklärt Autor Friedrich von Borries:
 „Eine Aquarellzeichnung, die auch auf dem Titel des Buches abgebildet ist, Die TiToTalitäre TiToTalitätsbaumaschine, wo er konstruktivistische Elemente, Symbole seiner Architektentätigkeit und Gebäude von Buchenwald so kombiniert, dass eine abstruse Maschine erscheint. Und ich glaube, dass er letztlich in dieser Maschine zwischen Architektur, Gestaltung, Avantgardevorstellungen und jeweiliger gesellschaftlicher Realität sein ganzes Leben lang gefangen war.“

Internierung in Buchenwald

In ganz wörtlichem Sinn gefangen war er zwischen 1937 und 1940: Nach seinem Studium am Bauhaus und kurzer freier Berufstätigkeit wurde Ehrlich während des NS-Regimes als Sozialist und Widerstandskämpfer im Konzentrationslager Buchenwald interniert. Einen Weg hinaus fand er durch sein künstlerisches Talent. Zunächst fertigte er die berühmt-berüchtigte Lagertor-Inschrift „Jedem das Seine“ an, dann entwarf er im Baubüro Buchenwald Möbel, Einrichtungsgegenstände und schließlich sogar ganze Gebäude.
 Er selbst sprach rückblickend immer von „Widerstand“, weil er durch seine verbesserte Stellung - so die Argumentation - anderen Häftlingen hätte helfen können. Den Autoren fällt es jedoch schwer
„diesen Widerstand als solchen zu erkennen, denn der Grat zwischen Widerstand und Kollaboration war sehr schmal.“
Spätestens nach seiner Freilassung aus dem KZ und dem Wechsel in die Zentrale des SS-Bauwesens nach Berlin, der für die Autoren „eine klare Grenzüberschreitung“ kennzeichnet, gab Ehrlich seine Opposition auf. Er selbst beschönigte und verschwieg seine Aktivitäten nach dem Krieg erfolgreich und machte in der DDR Karriere.

Opfer und Kollaborateur

Dass er mitnichten nur ein Opfer der Nazis war, sondern eben zum Kollaborateur wurde, macht diese Biografie erstmals deutlich. Gleichzeitig zeigt sie aber auch klar, dass Ehrlichs Wahl als Rädchen im totalitären NS-System beschränkt war.
„Opportunismus ist die Grundbedingung für das Überleben in einer Totalitätsmaschine.“
Die Autoren folgen generell einer Anschauung der zufolge systemische Zwänge über die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten zu stellen sind. Insofern halten sie sich auch mit moralischen Bewertungen zurück, und machen stattdessen transparent, wo Leerstellen, Widersprüche und Zwänge im Leben Franz Ehrlichs auftauchen - und wie er diese mit Auslassungen, Umschreibungen und Hochstapelei auflöste. Zwischen 1940 und 1945 ist das besonders virulent:
„Wir können das nicht eins-zu-eins nachvollziehen, was er gemacht hat. Was wir können, ist, aufzuzeigen, dass Gestaltung, Architektur und Design nicht neutral ist, nicht unschuldig ist, dass es gestalterische Kontinuitäten von der Moderne vor der NS-Zeit zur Moderne in der NS-Zeit zur Moderne nach der NS-Zeit gibt. Und dann befragen, ob wir nicht einen geschönten Blick auf eine bestimmte Architekturtradition haben."

Blick hinter den Bauhaus-Mythos

An dieser Stelle kommt das Bauhaus ins Spiel und eine Perspektive, die über Ehrlichs Biografie hinausreicht. Die Autoren arbeiten immer wieder den totalitären Gestaltungsanspruch des Bauhaus heraus - zumindest in der Theorie: das Ideal des „neuen Menschen“, die Einheit von Kunst und Technik, die Ästhetisierung industrieller Materialien oder der pragmatisch-funktionale Gesamtbau - all das wird im Buch zwar nicht direkt in eine Linie mit Buchenwald und der Nazi-Architektur gestellt, aber doch in einen Zusammenhang.
 „Es fällt auf, dass kaum jemand das schmerzhafte Zusammenkommen von Bauhaus und Buchenwald thematisiert, als solle das Bauhaus als reine, weiße Projektionsfläche erhalten bleiben. Es ist, als gäbe es eine Scheu, sich den Totalitätsmaschinen des 20. Jahrhunderts und ihren Wirkmechanismen zu stellen.“
Das Buch erzählt also nicht nur die Lebensgeschichte Franz Ehrlichs, sondern es blickt hinter den Bauhaus-Mythos und auf die politische Dimension von Design und Architektur. Es verdeutlicht an Ehrlichs Werk den roten Faden, der dem modernen Bauen, Gestalten und Entwerfen im 20. Jahrhundert zugrunde lag:
 „Vergleicht man Ehrlichs Arbeiten vor, während und nach seiner Zeit im KZ, entdeckt man letztlich mehr Kontinuität als Brüche.“

Von der NS-Moderne zur DDR-Moderne

Das anschaulichste und gleichzeitig absurdeste Beispiel: Ehrlichs berühmtestes Werk, die Möbelserie 602, die er als DDR-Architekt entwarf und die heute wieder sehr gefragt ist, gleicht den modern-minimalistischen Kastenmöbeln, die er für die Nazis im KZ anfertigte:
 „Wir haben ein Bild im Buch: Im Hintergrund Hirschgeweih, ausgestopfter Braunbär, Wandverkleidung mit unbehandelten Holzstämmen und davor stehen diese total modernen Lattenmöbel. Das war die germanische Kaminhalle.“
Den Autoren von Borries und Fischer gelingt in diesem schlanken Buch mit dem Augenmerk aufs Wesentliche ein gut lesbares Porträt eines Mannes und seiner Profession, geprägt von der deutschen Geschichte und den verhängnisvollen Totalitarismen. Gründlich recherchiert, transparent aufbereitet und nüchtern geschrieben. 
Friedrich von Borries, Jens-Uwe Fischer:
„Gefangen in der Titotalitätsmaschine. Der Bauhäusler Franz Ehrlich“
Suhrkamp Verlag, Berlin.
315 Seiten, 20 Euro.