Archiv


Mögliche Kooperation von Regierung und Opposition

Durak: Herr Scheer, wie weit kann die SPD gehen bei all diesem auf die Union Zugehen und die Lage lösen Müssen, ohne zu zerreißen? Inwieweit kann sie sich ihr sozialdemokratisches Gewissen erhalten, das Gewerkschaftler ja immer einklagen, angesichts dieser Lage und der offensichtlichen Entschlossenheit des Kanzlers, die möglicherweise letzte Chance dieser Regierung zu wagen?

    Scheer: Also es ist so, dass man sehr genau unterscheiden muss zwischen zustimmungspflichtigen Gesetzen und nicht zustimmungspflichtigen Gesetzen. Unsere Verfassungsordnung unterscheidet ja zwischen diesen beiden Gesetzentstehungsmöglichkeiten immer dann, gleich unter welcher Regierungsägide, wenn die Bundestagsmehrheit anders war als die Bundesratsmehrheit. Bundestag und Bundesrat sind bei den zustimmungspflichtigen Gesetzen, also wo der Bundesrat in jedem Fall zustimmen muss, zu einer Zusammenarbeit vergattert. Daran kann niemand etwas ändern, ein Blick ins Grundgesetz erleichtert in diesem Fall die Urteilsfindung und die Bewertung, sonst würden sich beide für die Gesetzgebung entscheidenden Verfassungsinstitutionen wechselseitig lähmen, und das kann niemandes Interesse sein. Die andere Frage ist, was bei den nicht zustimmungspflichtigen Gesetzen passiert, wo es also auf die eigene Mehrheit ankommt, und das ist dann vor allem das Feld, wo die Handschrift der rot-grünen Politik sichtbar sein muss.

    Durak: Wofür hat denn der Kanzler jetzt eine eigene Mehrheit in diesen Dingen?

    Scheer: Also bei den meisten sozialpolitischen Gesetzen und bei den meisten steuerpolitischen Gesetzen ist es so, dass eine Zustimmungspflicht durch den Bundesrat gegeben ist. Bei einigen steuerpolitischen Gesetzen nicht und bei vielen anderen Fragen, von der Außenpolitik über Justizpolitik bis zu neuen Initiativen bezogen auf die Ankurbelung wirtschaftlicher Aktivitäten und die Umweltpolitik, gibt es die eigene Gestaltungsmöglichkeit.

    Durak: Sie erklären uns jetzt freundlicherweise das Procedere dieser Dinge, aber dies war eigentlich nicht Ziel dieser Frage. Herr Schröder ist im Augenblick ein 28-Prozent-Kanzler und die SPD eine 27-Prozent-Partei, was das Vertrauen der Deutschen betrifft. Ist es nicht Zeit für Entscheidungen innerhalb der SPD, in welche Richtung sie wirklich gehen will und soll?

    Scheer: Ja, natürlich. Es ist heute so, damit man ein bisschen von dem tatsächlichem Problem betrachtet, dass alle Industriegesellschaften, auch die Bundesrepublik, eine der wichtigsten Industriegesellschaften, in einer dramatischen Umbruchsituation stehen. Das sollte man nicht verleugnen, und das wissen eigentlich auch alle. In einer solchen Situation kann man und muss man politische Grundziele seitens der Parteien aufrechterhalten - die Art und Weise, wie man sie umsetzt, wird sich in vielerlei Fragen verändern müssen -, und da ist vom Verhalten her das Allerwichtigste, dass man glaubwürdig und zuverlässig ist.

    Durak: Gehört es denn zu den Grundprinzipien der SPD, Arbeitnehmerrechte abzubauen?

    Scheer: Nein, mit Sicherheit nicht, aber natürlich gibt es auch hier die eine oder andere Regelung, die überarbeitungsbedürftig, überprüfungsbedürftig ist.

    Durak: Zum Beispiel der Kündigungsschutz?

    Scheer: Ja, das weiß ich jetzt in diesem Fall nicht. Ich glaube, dass die Kündigungsschutzdebatte eine dramatisch hochgezüchtete Debatte ist. Ich glaube nicht, dass einer ernsthaft behaupten kann, dass diese Frage, ob der Kündigungsschutz bei fünf oder erst bei zwanzig Beschäftigten im Betrieb erst beginnt, über das Wohl und Wehe der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland entscheiden wird. Da geht es um ganz andere Fragen. Es geht um die Fragen, wie man statt der Privatisierung von Risiken die Allgemeinheit für Menschen mit übernimmt; statt der Privatisierung der Risiken und damit des Wegwerfens von Staatsaufgaben, wir an erster Stelle die Erhöhung der Produktivität setzen - so nenne ich das - des Staates selber, das heißt: Wie kann man dieselben Ziele, dieselben Aufgaben, dieselbe soziale Verantwortung übernehmen, ohne dass es zwingend immer mehr Geld kostet.

    Durak: Höre ich aus Ihren Worten heraus, dass sich die SPD genau in dieser Diskussionsphase befindet, wie weit sie die Reformen treiben muss und kann, und wie weit sie sich vor die Arbeitnehmer stellt?

    Scheer: Richtig, inwieweit sie sich vor die gesellschaftlichen Anliegen generell stellt gegenüber teilweise doch sehr starken egoistischen Interessenmächten dieser Gesellschaft. Ich halte es für maßstabslos, wenn in dieser Frage ständig auf die Gewerkschaften geschaut wird und so getan wird, als würden andere große, organisierte Interessen nur das gesellschaftliche Wohl im Auge haben. Das verdreht die Situation, wie sie tatsächlich ist.

    Durak: Also gibt es keinen Richtungsstreit innerhalb der SPD, sondern eine Diskussion um die Orientierung in der allernächsten Zukunft?

    Scheer: Richtig. Es geht darum, wie man mit denselben Grundzielen zu anderen politischen Lösungsansätzen kommt, und diese Debatte wird geführt werden müssen. Sie ist meines Erachtens generell, nicht nur in der SPD vor sich hergeschoben worden, und der Problemdruck wird immer größer. Dass es in der Frage, wie man das macht, Meinungsverschiedenheiten gibt, ist in einer demokratischen Volkspartei selbstverständlich. Man muss diese Meinungsverschiedenheiten aber dann in einer Weise austragen, dass das nicht wie ein heilloser Streit aussieht. Vor allem sollte man in der professionellen Öffentlichkeit nicht immer jede Auseinandersetzung sofort als Streit hinstellen.

    Durak: Aber sprechen darf man darüber.

    Scheer: Das muss man.

    Durak: Vielen Dank für das Gespräch.