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"Möglicherweise ist man schon in der Kernschmelze"

"Die Lage ist aus meiner Sicht nach wie vor extrem dramatisch", sagt Michael Sailer, Nuklearexperte des Öko-Instituts Darmstadt und Mitglied der Reaktorsicherheitskommission.

Michael Sailer im Gespräch mit Anne Raith | 12.03.2011
    Anne Raith: Am Telefon begrüße ich Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt. Er ist Mitglied in der Reaktorsicherheitskommission, die das Umweltministerium berät. Einen schönen guten Morgen!

    Michael Sailer: Ja, guten Morgen!

    Raith: Herr Sailer, Cäsium soll ausgetreten sein, die Kühlung funktioniert nicht, wie dramatisch ist die Lage Ihrer Meinung nach?

    Sailer: Die Lage ist aus meiner Sicht nach wie vor extrem dramatisch, weil es offensichtlich keine vernünftige Stromversorgung dort gibt und nicht gelungen ist, so viel Strom aufzubauen, dass man eine Kühlung wieder wirklich gewährleisten kann. Offensichtlich gibt es Aufheizungen in den Kernen von mehreren Reaktoren – ob das Cäsium, was man jetzt gemessen hat, noch vom Reaktorwasser kommt – das ist harmloser – oder ob es schon das erste Anzeichen der Überhitzung der Brennelemente und der Freisetzung ist, kann man von hier aus nicht entscheiden.

    Raith: Was kann man denn nun tun, wie kann man den Druck ablassen, Kühlung eventuell von außen zuführen?

    Sailer: Sie können zwei Sachen probieren: Kühlung können Sie nur von innen machen, weil Sie müssen ja die Brennelemente kühlen, sie müssen also mit Kühlungsmöglichkeiten hinkommen. Und insofern ist es beschränkt, weil die Systeme ja alle nicht verfügbar sind. Sie können probieren, Strom hinzubekommen, man weiß nicht, was da noch geht von dem, was eigentlich gehen müsste. Das andere ist, Sie können probieren, im Reaktorgebäude Druckentlastungen vorzunehmen, damit starker Überdruck vermieden wird. Damit werden sie Radioaktivität freisetzen, und der Betreiber von Fukushima II hat angekündigt, dass er alle vier Reaktoren an diesem Standort mit Druckentlastung machen will, das heißt Freisetzung kleinerer Mengen Radioaktivität auf jeden Fall, aber mit dem Versuch, die Freisetzung größerer Mengen entweder zu vermeiden oder wenigstens um ein paar Stunden hinauszuzögern.

    Raith: Welche Gefahr würde denn da für die Bevölkerung ausgehen – die Gegend ist ja großräumig evakuiert worden, würde das dennoch Menschen betreffen?

    Sailer: Natürlich betrifft die Radioaktivität immer Menschen. Die Frage ist halt, wie viel letztendlich rauskommt und wie sich es auch über den evakuierten Zehn-Kilometer-Umkreis weiter verbreitet. Und das hängt jetzt von einer Entwicklung ab, die man nicht vorhersagen kann.

    Raith: Ein Vertreter der japanischen Atomaufsichtsbehörde hat erklärt, es könnte zu einer Kernschmelze kommen. Teilen Sie diese Sorge?

    Sailer: Also möglicherweise ist man schon in der Kernschmelze. Die Sorge ist klar, die Frage ist auch, ob schon mehr als einer der Reaktoren in der Kernschmelze sind. Nur bei der Kernschmelze kann es sein, dass wenig freigesetzt wird, wenn andere Maßnahmen noch – Gebäudedruckhaltung und so – halbwegs funktionieren. Es kann sein, dass massive Mengen freigesetzt werden wie damals in Tschernobyl. Und zurzeit kämpft man drum, dass da die Werte möglichst niedrig bleiben.

    Raith: Was muss denn jetzt Ihrer Meinung nach als Erstes passieren, um eine möglichst umfassende Sicherheit wieder herzustellen?

    Sailer: Es muss eigentlich die Kühlung wieder erreicht werden, das wird aber schwerfallen, weil man keine stabile Stromversorgung hat für Kühlaggregate, Kühlpumpen und so weiter. Und wenn es eben in die Kernschmelze reinkommt, hilft wirklich nur zu probieren, dass möglichst wenig aus dem Gebäude nach außen kommt, und das, was nach außen kommt, halt später als früh. Aber das sind Notfallmaßnahmen nach der Methode letzte Chance, das ist weit weg von dem, wo man noch was Geordnetes probieren kann.

    Raith: Was würde das denn über Japan hinaus bedeuten? Wagen Sie da eine Prognose?

    Sailer: Nein, das hängt davon ab, wie viel in Japan freigesetzt wird, und auf jeden Fall wird es erst mal in Japan sich am stärksten auswirken. Also da, wo es was woanders macht, kann man sich in den nächsten Tagen Gedanken machen, das ist jetzt, glaube ich, nicht ganz so wichtig.

    Raith: Herr Sailer, Stichwort Krisenmanagement: Haben Ihrer Meinung nach die Behörden richtig reagiert? Es gab ja zunächst relativ schnell eine Entwarnung, dann wurde das Gebiet doch evakuiert, dann der Notstand ausgerufen. Wie beurteilen Sie das?

    Sailer: Der zweite und dritte Schritt war sicher das Richtige in der gegebenen Situation. Insofern, das, was man in so einem Fall noch reduzieren kann, okay, auf der anderen Seite zeigt sich halt eben, dass das Risiko beim Kernkraftwerk riesig groß sein kann.

    Raith: Japan gilt ja als Vorbild, was die Erdbebensicherung angeht. Hätte das Land ein Atomkraftwerk besser rüsten müssen, oder geht das in diesem Falle gar nicht?

    Sailer: Sie denken sich immer den schlimmsten Fall aus, und wenn der Fall schlimmer kommt, haben Sie halt die Sicherheit nicht dagegen. Und das ist genau das, was passiert ist.

    Raith: Sie beraten ja auch als Mitglied in der Reaktorsicherheitskommission das Umweltministerium hier in Deutschland – glauben Sie, dass die Ereignisse in Japan auch Auswirkungen haben werden auf die deutsche Atompolitik?

    Sailer: Also zumindest erst mal auf die Diskussion. Wie die Diskussion sich dann auf die reale Politik auswirkt wird man sehen. Aber ich glaube, es wird nicht ohne Spuren vorbeigehen.

    Raith: Schätzt Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt. Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch!

    Sailer: Ja, bitte schön!

    Raith: Wiederhören!

    Sailer: Wiederhören!